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Die Bundesrepublik Deutschland heute - Lebens- und Erfahrungsräume



Die Bundesrepublik Deutschland heute - Lebens- und Erfahrungsräume

Nach jahrhundertelangen Grenzverschiebungen und mentalitätsprägenden Erfahrungen mit engen Grenzen war 1945 bzw. 1961 mit der Teilung Deutschlands eine besonders einschneidende Spaltung entstanden. Die neue Grenze hatte zugleich eine neue Qualität: Sie teilte nicht nur eine Nation und eine Stadt ("Schandmauer - "antifaschistischer Schutzwall), sondern bildete zugleich die Demarkationslinie zwischen zwei gegensätzlichen Gesellschaftssystemen. Ungeachtet des in der Verfassung verankerten Auftrags, die Wiedervereinigung anzustreben, hatte sich die überwiegende Mehrheit der bundesrepublikanischen Bevölkerung - gewiß mehr als die der DDR - in den bis 1990 gültigen Grenzen eingerichtet. Die allgemeine Überraschung über Öffnung und Fall der Mauer kann dies nur bestätigen. Von einem Engesyndrom und dem Gefühl, ein "Volk ohne Raum zu sein - das gilt für das dichter besiedelte West- wie für das etwas dünner besiedelte Ostdeutschland -, kann angesichts durchgreifender Industrialisierung und verblassender Agrarromantik nicht die Rede sein.

Es sind weniger die Deutschen selbst als z.B. die Amerikaner, die r dem Hintergrund ihrer eigenen Raumerfahrung die dichte Besiedelung der Bundesrepublik als ungewohnte Enge verspüren. Eine in Tübingen befragte amerikanische Studentin klagt, daß nicht einmal im Wald ein Alleinsein möglich sei. Eine andere meint, in der Bundesrepublik gebe es überhaupt kein Land, "weil da überall Dörfer sind (Fremde Deutsche 1986,19).



Für Amerikaner schwer nachllziehbar, macht die relative Bevölkerungs- und Siedlungsdichte paradoxerweise die Entfernungen groß. Warum sind die 200 km n Tübingen nach Frankfurt für Deutsche so lang? Den Zusammenstoß deutscher und amerikanischer Raumrstellungen illustriert eine Anekdote des Tübinger Kulturwissenschaftlers Hermann Bausinger, mit der er "schon verschiedentlich hausieren gegangen ist:

Ein auf die Folklore der Südstaaten spezialisierter Professor hielt einen Vortrag im Tübinger Deutsch-Amerikanischen Institut. Ich war eigens auf den Vortrag hingewiesen worden, war aber verhindert und entschuldigte mich. Zwei Tage später erhielt ich einen Anruf m Frankfurter Amerikahaus mit dem Hinweis, daß der betreffende Professor am nächsten Abend dort spreche - verbunden mit der nachdrücklichen Einladung an mich, doch zu dem Vortrag zu kommen. Ich blieb bei dem Telefongespräch zwar höflich, hätte aber am liebsten erklärt, daß ich den amerikanischen Kollegen für verrückt halte. Erst allmählich wurde mir klar, daß er eben dies nicht war, daß vielmehr die weitgehende Selbstverständlichkeit seiner Einladung ebenso wie die Selbstverständlichkeit meiner Ablehnung in kullurspezifischen Raumrstellungen begründet war. In Amerika führe man eben n Tübingen nach Frankfurt zu einem Vortrag - oder richtiger: in Amerika ist diese Entfernung gewissermaßen beiläu überbrückbar, während sie sich hier als nicht-akzeple Störung der Dispositionen eines Tageslaufs darstellt (Bausinger 1988,47).

Ein Gefühl der Enge scheint den Deutschen, wie gesagt, selbst nicht bewußt zu sein, zumal der Massentourismus Urlaubsreisen ins Ausland immer erschwinglicher macht. Wenigstens für die Westdeutschen gibt es in der Reiselust keine Beschränkungen außer denen des Geldbeutels: die Statistiken weisen die Bundesrepublikaner als eine der reisefreudigsten Nationen in Europa aus.

Freilich fällt die Bewertung des Massentourismus - potentiell eine der wichtigsten Erweiterungen der Raumerfahrung - ambivalent aus: Fast alles, was erreicht werden kann, ist r aller Erfahrung schon im Kopf, rfixiert durch die stereotypen Bilder. Ausschnitte und Bruchstücke, die die Welt im Bewußtsein repräsentieren und auf Abruf zur Verfügung stellen.

Auf Reisen sieht man sich plötzlich r die Wirklichkeit der Ansichtspostkarten gestellt. Man erschrickt etwas. Die berühmte Fontäne springt wirklich aus dem See (Koeppen 1973,13).
Gerade die Bedeutung, die das Reisen für die Bevölkerung der ehemaligen DDR seit Öffnung der Mauer hat, zeigt, wie eng Reisen-Können mit Teilhabe an Freiheit verknüpft ist -jenseits aller kullurkritischen Überheblichkeit, mit der man den Tourismus immer wieder abgewertet hat. Ahnlich ambivalent zeigt sich die horizonterweiternde Wirkung der modernen Medien. Bei allem Pessimismus, der auch hier eher n entwirklichter Scheinerfahrung spricht, öffnet doch die allumfassende Präsenz der Welt im Wohnzimmer zumindest potentiell neue Erfahrungsräume jenseits des privaten Interieurs. Die traditionelle Orientierung der Deutschen an kleinräumigen Lebenswelten geht eine komplexe Verbindung mit einem quasi universellen Erfahrungsraum ein. Dorffeste mit ihrem Nebeneinander n Bratwürsten und Bier, Kebab und Retsina, Pizza und Cevapcici sind ein konkretes Beispiel für die mentale Legierung n bornierter und entgrenzter Erfahrung. Das Fremde (mindestens in der Form des Folklorismus) hat sich längst seinen Platz in der Heimat geschaffen.

Raumorientierung - Konturen eines neuen Heimatbegriffes

Die weitgehende Fixierung der Industriegesellschaft auf die forteilende Zeit und die Verabsolutierung von Fortschritt und Zukunft verdrängte lange das herkömmliche Orientierungsmuster Raum. Der Modernisierungsprozeß hat sich jedoch zunehmend auch als Verlustgeschichte, als Zerstörung von Natur und Umwelt erwiesen. Es ist daher nicht überraschend, wenn der Soziologe Wolfgang Lipp zu Recht einen "Rückschlag des Pendels feststellt:
Das Dasein kehrt auf den "Boden der Tatsachen, Boden in der Tat, zurück; es besinnt sich auf Lokalität, Regionalität in neuer Weise und versucht noch dort, wo es an Zeitaufgaben geschichtsidcalistisch festhält, das Handeln auf die Bewältigung naheliegender - haus-naher, "öko-logischer - Probleme zu verpflichten (Lipp 1986,332).
Ganz unbefangen von "Heimat zu sprechen, fällt auch heute nicht leicht. Zu schwer wiegt der Ballast der Tradition. Heimat, das war für das Bürgertum des 19. Jahrhunderts eher eine "ausgeglichene schöne Spazierwelt, das scheinbar sichere Refugium. das die sozialen Spannungen und Umwälzungen des Jahrhunderts vergessen machen sollte (vgl. Bausinger 1983.212). Heimat, das reicht in seiner massivsten Ideologisierung weit über die nationale Beschwörung des gemeinsamen Vaterlandes hinaus bis zum militanten Blut- und Boden-Mythos.

Erst nachdem die Modemisierungseuphorie zu Beginn der 70er Jahre sich merklich abkühlte und die Grenzen des Wachstums ins Bewußtsein rückten, war der Weg frei für eine Renaissance des Heimatverständnisses, das sich deutlich von der Erbschaft der Romantisierung und des Nationalismus absetzt.

Die eingebürgerten Gegensätze zwischen Tradition und Fortschritt, Gemeinschaft und Gesellschaft, ländlich-agrarisch und industriell-städtisch, scheinen sich zu verwischen. Diejenigen, die in den späten 60er Jahren aufgebrochen waren, das Gesellschaftssystem der Bundesrepublik von Grund auf zu verändern, entdecken die Bedeutung einer ökologisch intakten Umwelt und des sozialen Nah-Raums. Aus süddeutscher Perspektive ist wohl das Dreiländereck (die Basler Region, das Elsaß und Südbaden) ein besonders anschauliches Beispiel für die komplexen Antriebe der neuen Heimatbewegung. Der Widerstand gegen den Zentralismus und die Zusammenballung von Großindustrie und Kernkraftwerken in einer bislang weitgehend verschont gebliebenen Kulturlandschaft schafft seine eigenen Ausdrucksformen in der Rückbesinnung auf lokale Traditionen und die gemeinsame alemannische Mundart. Wie lebendig föderalistisches Denken in Deutschland ist, belegt die Wiederherstellung der alten Länder Sachsen, Thüringen, Sachsen-Anhalt, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern in der ehemaligen DDR. Die zentralistisch durchgesetzte Neugliederung in 15 Bezirke (1952) war von der DDR-Bevölkerung nie wirklich akzeptiert worden. Wenn sich bislang der nationale Überschwang im Zuge der Vereinigung in Grenzen hält, so deshalb, weil in vielen Ländern Deutschlands ein regionales und heimatbezogenes Bewußtsein mindestens ebenso ausgeprägt ist wie die nationale Identität.












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