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Dorf und Landschaft in der deutschsprachigen Literatur nach 1945



Dorf und Landschaft in der deutschsprachigen Literatur nach 1945



Nach 1945 wurden das Dorf, mit ihm der Bauer, die kleinregionale Land­schaft und im weiteren die Provinz als Faktoren eines diskreditierten Begriffs n Heimat betrachtet und n Schriftstellern als Thema kaum behandelt. Es ist dies jene Phase in der Einschätzung des Regionalen, in der ein Bewusstsein seiner historischen Belastetheit dominiert. In dem Aufsatz „Philosophie und Lehrer” (1961) hat Theodor W. Adorno diese Einschätzung artikuliert: Er spricht n der „Brutalität des Rustikalen”, die durch „Eman­zipation n der Provinz” zu überwinden sei. Denn sonst bestünde die Ge­fahr — Adorno sagt dies mit Blick auf das Rustikale im Menschenbild der Literatur des Nationalsozialismus - dass die „Barbarei” sich perpetuiere.[1]
Dazu eine These: Die „Emanzipation n der Provinz” fördert durch das Auslöschen regionaler Eigenarten die nivellierenden Tendenzen in der Gesellschaft und bringt letztlich ein funktionalisiertes Menschenbild herr. Lothar Baler, ein Adorno-Schüler zum Beispiel schreibt: „Begierig haben wir die Worte unserer Lehrer aufgeschnappt, wenn sie n der ‚Brutalität des Rustikalen’ (Adorno) redeten und uns die ‚Emanzipation n der Provinz’ zur intellektu­ellen Pflicht auferlegten, der wir nur zu gern nachkamen. Urban und gebildet wollten wir wirken, man sollte uns ülberall verwenden können, ohne dass etwas Provinzielles an uns störte.”[2] Hier wird eine Dialektik n geradezu klassischer Prägung beschrieben: Vergangenheitsbewältigung arbeitet auf unerwünschte — und in einer n Adorno nicht rhergesehenen — Weise einer Erziehung zum verfügbaren Menschen in die Hände.




Die zweite These schließt sich an die erste an: Dieser Vorgang der Ent­regionalisierung eines gesellschaftlichen Leitbildes wird in einem beträcht­lichen Teil der deutschsprachigen Literatur nach 1945 sichtbar. Die österreichische Mundart­literatur kann diesem Vorgang wenig entgegensetzen, weil sie im Stoff- und Motivkanon der Tradition verharrt ist. Die „neue” Mundartliteratur hingegen, die man nicht zuletzt auf Sprachexperimente der Wiener Gruppe und auf H. C. Artmann zurückverfolgen kann, hat potenziell größere Aussichten, Gegen­positionen zu entwickeln. Die Leserschaften hochsprachlicher und ­mundartlicher Literatur kommen einander näher, die Zeitschrift „Akzente” bringt zum Beispiel Themenhefte zur Mundartliteratur.[3]

Die dritte These: Es gibt eine Tendenz in der Gegenwartsliteratur, die kleine Region als „subjektiven Herkunftsraum” zu beschreiben[4]. Das Re­gionale ist dabei nicht unbedingt der Ausgangspunkt, vielmehr liegt er in einer Neugier der Autoren auf sich selber. Die Autoren fühlen, dass Individualität m Regionalen mitgeprägt worden und daher ist eine Selbstbeschreibung an die Beschreibung ihrer frühen Heimat gebunden ist.

Bei einer Gruppe n Autoren wie Franz Xaver Kroetz, Martin Sperr, Peter Turrini, Elfriede Jelinek, wird der provinzielle Kleinraum nicht um seiner selbst willen dargestellt, sondern als die schwächste Stelle des heutigen Gesellschaftssystems, das damit kritisch in den Blick gerückt wird. Es geht nicht darum, regionale Besonderheiten zu zeigen, sondern darzustellen, wie der allgemeine Gesellschaftsprozess diesen Raum und seine Bewohner einerseits schon erfasst, andrerseits ihnen noch nicht zu den „Standards” der Urbanisation verholfen hat.

Die vierte These lautet daher: Diese Art der literarischen Ge­staltung des Regionalen zeigt lediglich einen Aspekt der Entregionalisierung.

Die Autoren, welche sich mit der Heimat als negativem Existenzraum auseinandersetzen, verwenden ähnliche Motive, um die traditionelle Dorf- und Heimatliteratur zu rekonstruieren. Das Motiv der Stille, die Gesundung des kranken Städters auf dem Lande, die Sozialform der organischen Gemeinschaft und des Standes anstelle der ver­hassten Gesellschaft, der Glaube an schicksalshafte Bindung zwischen Mensch und „seiner” Landschaft: das alles läßt sich mit genügend Beispielen aus der Literatur­geschichte belegen.[5]

Literatur, die der Tradition der Regional- und Heimatliteratur eine wirklich neue Richtung zu geben geeignet erscheint, muss mit einem dichten Netz n zählebigen Vorerwartungen rechnen. Modifikationen eines solchen Erwar­tungsrasters setzen nicht zuletzt neue literarische Verfahrensweisen raus, denn es geht ja nicht darum, bloß die Inhalte auszutauschen. Dies wird die Möglichkeit einer populären Rezeption eines solchen neuen Typus als un­wahrscheinlich erscheinen lassen. Sie wird auf jeden Fall mit der Rezeption der älteren Regional- und Heimatliteratur nicht zu vergleichen sein.[6]

Folgende Ideen lassen sich an drei Beispielen verdeutlichen, welche den Themenbereichen Dorf, Landschaft, Heimat, Provinz gerecht werden. Diese Beispiele wurden aus der österreichischen Literatur gewählt. Sie bieten den Rahmen, auf dessen Hintergrund der negative Heimatroman eines Innerhofer, Winkler oder die negativen Dorfgeschichten Herta Müllers diskutiert werden.

Hans Leberts Roman Die Wolfshaut[7] steht für einen realistisch-psychologischen Literaturtyp, der ein mechanistisches Ins-Gegenteil-Verkehren bekannter Motive nicht immer vermeidet, der aber gerade deshalb die radikalste Entsprechung zu Adornos Vorderung in der Romanliteratur nach dem Kriege ist. In einem Dorf irgendwo in Österreich passieren rätselhafte Dinge: Ein Todesfall eines jungen Burschen, ein Mord, eine Gemeinschaftsjagd auf einen entsprungenen Sträfling. Ein Außenseiter Matrose genannt, zwar im Dorf geboren, aber erst nach langer Abwesenheit auf See in seine Heimat zurückgekehrt, spürt diesen Vorgängen nach, und allmählig enthüllt sich ein Geheimnis: Die Todesfälle im Dorf hängen zusammen mit einem Verbrechen bei Kriegsende. Damals waren n der Ortswacht sechs Fremdarbeiter erschossen worden. Der Anführer des Todeskommandos wird am Ende des Romans Landtagsabgeordneter.

Der Name des Ortes “Schweigen”, könnte sich auf Stille und Harmonie beziehen, aber noch in der selben Zeile wird das Nachbardorf “Kahldorf” genannt. Schweigen wird also gleich zu Beginn negativ besetzt. Das Dorf liegt “abseits der großen Verkehrsadern”. Die Bahnlinie mündet in einen Sack aus Landschaft, die Straße legt sich wie eine Schlinge um das Dorf, darüber hinaus bilden die Wälder einen weiteren Ring. Ein geschlossenes Sozialwesen in einer geschlossenen Landschaft, also als “Ödnis” bezeichnet, nicht mehr als, “Gemeinschaft”, die Lebenswärme zu spenden in der Lage ist. Den Matrosen weckt ein “ekelhaftes, frostiges Gefühl” das sich später als eine Vorausahnung eines mysteriösen Todesfalles entpuppt. Da Geschlossenheit nicht mehr identisch ist mit Geborgenheit, erscheint auch der heimatliche Kleinraum nicht mehr als Identifikations- und Entfaltungsraum. Der Rauch aus den Gehöften stinkt; Merkmale aus der Tradition der Idylle -Hütte, Herd, Rauch- haben ihre Möglichkeit verloren, an das “Andere”, an ein besseres, ein einfacheres Leben zu erinnern. Der Enge n Schweigen wird die Weite des Meeres gegenübergestellt, das Meer ist für den Matrosen der Raum für Lebendige Bewährung, am Ende wird er dorthin zurückkehren. Im Gegensatz dazu erscheint ihm die Landschaft um Schweigen als “Lehm gewordenes Meer”, also erstarrt und tot. Der Matrose liebt die Erde, den Lehm, nur insofern, als er daraus Töpfe formt und verkauft. Die heimatliche Erde als “Scholle” in mytischer Überhöhung wird herabgestuft. Ebenso entzaubert wird der Zusammenhang n Gesundheit und Ländlichkeit. Einige der Haupturen sind als vitale Gesundheitsprotze charakterisiert, aber der Motivkomplex, der sich um das “Gesunde” herum gebildet hatte, erhält eine entscheidende Variation: Die Darstellung wird so übertrieben, dass es am Ende identisch ist mit dem Rohen, Brutalen. Das Motiv der Stille, so oft in Zusammenhang gebracht mit Harmonie und Gesundung, wird n Lebert in die Nähe des Todes und des Schuldbewusstseins verarbeitet. Eng mit dieser negativen Stille ist die Kälte assoziert.

Beim zweiten Beispiel handelt es sich um Gert Friedrich Jonkes Geo­rnetrischen Heimatroman. Der „Roman” hat keine eigentliche Handlung. Verbindendes Element lockerer Beschreibungen sind zwei Personen, die immer wieder einen Anlauf nehmen, über den Platz zu gehen, einander auffordern: „Gehen wir über den Dorfplatz!” Sie gelangen aber nicht hinüber, offenbar aus einem bestimmten Grund: Sie beherrschen das richtige Verhalten nicht, das m Dorf gefordert wird. Die Dorfskizze ist mit einem Kommentar versehen: „… das erlebnis des konflikts zwischen der welt der dinge und der welt der personen, wobei die welt der dinge der welt der personen die muster rschreibt . ..”, und weiter: „.. . der dorfplatz ist ein strukturales muster . ..”

Die Art und Weise, wie nun die Welt der Dinge der Welt der Personen die Muster rschreibt, ist in der Sprache und durch die Sprache vermittelt. Es ist also nicht so, dass die Ordnungen und Normen des Dorflebens, als Muster für das gesellschaftliche Leben, in einer realistisch-psychologischen Weise beschrieben werden, sondern die Ordnungen und Normen werden in einer Thematisierung der Sprache dargestellt. Dazu zwei Beispiele:


währenddem hat sich die erste auf der ersten uns am nächsten liegenden Bank sitzende Figur erhoben, während sich die auf der der ersten Bank gegenüberstehenden Bank sitzende Figur eben­falls erhoben hat,
die sich erhoben habenden Figuren sind einander entgegenge­gangen, sind einander auf der den Dorfplatz teilenden Mittellinie begegnet, haben ihre rechten Hände gehoben, die Handflächen einander zugestreckt, umschlossen, auf und ab geschüttelt, gelöst, die beiden Figuren haben sich neinander abgewandt, sind zu ihren Bänken zurückgegangen, haben sich wieder gesetzt, während die zweite auf der ersten uns am nächsten liegenden Bank sitzende Figur sich erhoben hat, während die auf der der ersten Bank gegenüberstehenden Bank sitzende zweite Figur sich ebenfalls erhoben hat, die sich erhoben habenden Figuren sind einander entgegengegangen alle auf den einander gegen­überstehenden Banken gegenübersitzenden Figuren sich erhoben hatten, einander entgegengegangen waren, die Hände einander geschüttelt hatten, zu den jeweiligen Bänken zurückgegangen waren und sich wieder gesetzt hatten.”



An den Personen, die hier auf Bänken um den Dorfplatz herum sitzen, wird gezeigt, dass der Dorfplatz ihnen ein bestimmtes Verhalten rschreibt. Es heißt aber nicht etwa: „Die Personen begrüßten einander mit Handschlag und gingen zu ihren Bänken zurück”, sondern es wird der Vorgang, den die Umgangsnorm rschreibt, in seine Einzelrgänge zerlegt, zerdehnt, und wie in einem Stehbildfilm zusammengefügt. Dabei zeigt sich, dass Menschen bei der Befolgung n Normen wie an Fäden gezogen handeln und sehr auf geometrische Symmetrie achten, z.B. um ja nicht einen Schritt zu weit zu gehen. Vom Text geht eine Aufforderung aus, Selbst­verständlichkeiten des sozialen Lebens nicht als „natürliche” zu verstehen. Mit den Mitteln der Verfremdung durch eine Überdimensionierung n Details gelingt es, den Leser in eine Betrachterposition n außen zu bringen. Ein Blick n außen ist wiederum die Voraussetzung für das Begreifen n Zuständen und für ihre eventuelle Veränderung.

Das zweite Beispiel bringt eine der Beschreibungen des Dorfplatzes:



Die Steinplatten am Boden enden an den Mauern der Häuser, enden am Beginn der sichtbaren Unterkellerungswände, die zehn Zentimeter breiter sind als die eigentlichen Hausmauern. Die sichtbaren Unterkellerungsteile sind einen Meter hoch, grau zementiert, die Hausmauern, geziegelt, beginnen auf ihnen, die Keller sind breiter als die Häuser, ihre Vorsprünge enden, indem sie einen Meter über dem Boden nach innen in Richtung der Hausmauern gleiten, so dass an den Häusern in ein Meter Höhe zehn Zentimeter breite ebene Bahnen sichtbar werden.
Die Kinder schieben ihre Reifen über den Platz, laufen hinter den rollenden Reifen her, holen sie ein, stoßen sie mit einem S weiter, so dass sie ihnen wieder weit rausrollen.



Das hier verwendete Muster des Aussagesatzes, mit dem Verbum finitum an zweiter Stelle, ist im allgemeinen das Mittel zur Formulierung n gene­rellen Wahrheiten. Damit lassen sich allgemeine Sachverhalte (Im Winter wird es kalt) ebenso darstellen wie Sachverhalte, die jemand für Wahrheit hält (Alle Wege führen nach Rom). Die Sätze fordern durch Häufung und schematische Reihung zum Überlegen auf.

In solchen Sätzen sind Baurschriften abgefasst, und besonders der erste Absatz der Passage konnte einer solchen entstammen. „In Sätzen steckt Obrigkeit” — so überschrieb Peter Handke seine Rezension n Jonkes Buch[8]. Sprach­kritik wird zu Gesellschaftskritik. Das Dorf mit seinem regionalen Umkreis ist zu einem Modell für das System geworden, es ist entregionalisiert[9].

Das dritte Beispiel für Darstellung n Dorf und Kleinregion in der Literatur nach 1945 stammt aus der Feder n Ilse Aichinger. Sie hat ihn 1958 in der Neuen Rundschau veröffentlicht; er trägt den Titel „Das Bauen n Dörfern”.[10]

Der erste Satz lautet: „Wir fanden es gut, Dörfer zu bauen, die an den Wald grenzten.” Ein erzählendes Ich und eine Julia benützen hier das Muster des kindlichen Spiels, um Dörfer zu bauen. Es ist eine Art Sand­kastenspiel, wie aus einem späteren Satz herrgeht („Ihr langes rotblondes Haar hing still über dem Wald”,). Und so beginnt das Bauen:



lmmer wieder ging der Blick zum Lagerhaus, das am andern Ende des Dorfes stand: parallel zu einem letzten, weniger tiefen Waldstreifen, der rsprang und dem es seinen breiten Rücken kehrte. Nahe dem schmalen Waldstreifen erinnerte es doch an die ganze Tiefe des Waldes, Morgen- und Abendspaziergänge konnte man hierher richten und wie zufällig wieder zurückkommen; ein tröstlicher Punkt für das Auge, wenn es über das Dorf streifte, ein Punkt am Rande, aber ein guter Punkt. Von hier aus war alles rstellbar: aufgestapelte Moose am frühen Morgen, Lichtdrähte
und Postämter, n hier aus war alles leicht zu entwerfen und zu umarmen, n hier aus war es gut. Das Lagerhaus bauten wir meistens zuerst. Und hierin war ich auch mit Julia einig.



„Von hier aus war alles rstellbar.” Das ist ein Kernsatz dieses Textes. An ihn lassen sich einige Reflexionen Dieter Wellershoffs zur modernen Literatur anknüpfen, in denen er die Möglichkeiten der Literatur mit der Technik der Simulation n Spielfällen als Vorbereitung für „Ernstfälle” vergleicht. „Auch sie (= die Literatur) ist ein der Lebenspraxis beigeordneter Simulationsraum, Spielfeld für fiktives Handeln, in dem man als Autor und als Leser die Grenzen seiner praktischen Erfahrungen und Routinen über­schreitet, ohne ein wirkliches Risiko dabei einzugehen.” Solchermaßen „angstentlastet” kann sich die Phantasie besser entfalten. Eine Bedingung liegt darin, dass das Alltägliche mit den Mitteln der Verfremdung, der Ab­weichung m Vertrauten und Erwarteten, dargestellt wird. „Die Durch­brechung des Kontinuums unserer praktischen Realitätsbeherrschung ist die Entstehungsbedingung des Poetischen”.
In diesem Sinne geht auch bei Aichinger das Bauen weiter:



Die Verladerampe schaute zur Straße, so konnte der Mittagswind immer gut darauf fallen. Er unterbrach das Rollen der Fässer und Jutesäcke zur rechten Zeit; dann verstummte auch die Sägemühle. Die Sägemühle war unvermeidbar, aber es freute uns, sie da sein zu lassen, sie bezeichnete den Bach. Und der Bach führte in kleinen Windungen weit weg, zum Dachsteinblick oder wer weiß wohin. Das ließen wir offen. Selbst Julia war sich darüber im klaren, dass man einiges offenlassen musste. ‚Aber nicht alles!’ sagte sie manchmal und schaute hilflos auf die kurzen armseligen Straßen. Sie wagte es niemals zu sagen, dass sie sich einen Platz wünschte, aber ich erriet es fast immer. Und dann bauten wir den Platz, Julia zuliebe und schräg gegen den Wald zu. / Von hier ergab sich ohne weiteres die Lage des zweiten Krämerladens, eines wie durch ein Wunder noch nicht windschiefen Gebäudes, zur Linken n Enten und roten Herbstblumen flankiert, Julias Ideen, obwohl ich fand, dass der Wind zu beiden Seiten genügt hatte. Der zweite Krämerladen hatte nur ein Fenster, das mit Schachteln und Kartons aller Art angefüllt war, mit Seifenkartons im Frühjahr, mit Dattelschachteln im Herbst. Aber es hatte den Vorteil, dass ein Bauer, wenn es ihm am Heimweg schlecht wurde oder wenn es gar zum Sterben mit ihm kam, sein Gesicht daranlehnen konnte, ehe er auf die harten, gelben Wiesen hinausging. Und dass er mit der Krämerin reden konnte, die neugierig heraustrat.



Eine Verladerampe wird hier gebaut, und zwar so, dass der Mittagswind gut darauffallen kann. Von einer Sägermühle wird gesagt, dass sie auf einen Bach verweisen soll. Ein Platz wird gebaut, aber „schräg gegen den Wald zu”, also nicht in der Dorfmitte. Ein Krämerladen ist hier, damit ein Bauer sich daran lehnen kann. Das Gemeinsame liegt in einer Art „poetischer Sabotage”, mit der die Erzählerin die Dinge so darstellt, dass sie n der Phantasie in ihrer alltags-routinehaften Funktion gestört werden können. Das Kontinuum des Erzählens wird durchbrochen. Dass also eine Verladerampe nur im Zusammenhang mit dem Mittagswind erwähnt, d.h. „gebaut” wird, entfunktionalisiert sie, belegt auch das nächste Zitat: .



Eine andere Frage, eine, die selbst ich ernster nahm, war, ob man eine Straße durch unseren Wald legen sollte. „Für Holzarbeiter!” sagte Julia, die meine Einwände kannte. Und sie sagte: „Durch alle Wälder führen Wege.” Dass aber auf diese Art aus einem Wald zwei würden, bedachte sie nicht und war auch nicht bereit, es zu bedenken. Sie hielt mir ihre ängstliche Stimme entgegen, als wäre diese Stimme Beweis genug. „Wir haben keine andere Wahl.” Dieses letzte Argument war das einzige, das mich überzeugte und manchmal dazu bewegte, einen Weg für Holzarbeiter quer durch das Ende unserer Welt zu legen, aus einem Wald zwei Wälder zu machen; einen Weg, der doch zu nichts anderem führen konnte als zu „dem breiten, gewundenen Band der Straße”, das wir zur Genüge kannten, zu Spielzeugdörfern und Seen. „Aber wer weiß!” sagte Julia.



Die Frage, ob durch den Wald eine Straße gelegt werden solle, wird nicht durch Über­legung, sondern gleichsam „n der Sprache her” entschieden. Denn der ausschlaggebende Satz „Durch alle Wälder führen Wege” strahlt einen ver­steckten Imperativ aus (vgl. „Jede Frau hat eine Schürze”). Die Erzählerin wird n diesem Satz „überzeugt”, denn der andere, „Wir haben keine andere Wahl”, ist natürlich kein Argument, auch wenn sie ihn so nennt, sondern ebenfalls ein Sprach-Fertigteil. Andererseits sieht die Erzählerin sehr n jenem „Überzeugungssatz” aus das Klischee wachsen; sie sieht raus, dass aus einem Weg das „breite, gewundene Band der Straße” wird.

Dass am Ende das Dorf als ganzes verlegt wird, an den See, und dass es dort stehen bleibt und nicht mehr verändert wird, beendet das kindliche Spiel, setzt aber nur den Text, nicht aber der Verfahrensweise, Wirklichkeit phantasiell zu verändern, außer Kraft. Am Ende richtet sich der Blick auf den Friedhof, auf ein Grabkreuz. Erst der Tod bereitet dem Modellspiel ein endgültiges Ende. Er ist irreversibel, aber weil nur er irreversi­bel ist, ist das andere beeinflussbar. „Das Bauen n Dörfern” wird also zur Darstellung n Gemachtheit und Machbarkeit. Es wird nicht ein histori­sches Wachsen n Dörfern dargestellt, sondern ein „Bauen” als Bild für die Betätigung einer produktiven Phantasie. Das im Modellspiel Gete steht quer zu seiner Funktion und verbindet das Feststehende mit dem Unerwarteten. Es ist deshalb ein Text, der Tradition nicht anzweifelt, aber nach Wegen ihrer offenen Weiterführung sucht. Er tut dies, und darin liegt seine Gemeinsamkeit mit den beiden anderen Beispielen, an einem Wirklichkeitsbereich, der, wie noch aus Dorfprosa r 1945 herrgeht, als ein Hort der Statik der Verhältnisse und der Archaik der literarischen Leitbilder zu urieren hatte, und dem lediglich in der Form organischen Wachstum Veränderung zugebilligt worden war. Diese Beispiele ordnen sich der These n der Entregionalisierung in der deutschsprachigen Literatur nach 1945 ein.









[1] Theodor W. Adorno: Eingriffe 46f


[2] Lothar Baier: “Mein Okzitanien”, in Regionalismus! 1976, 29


[3] Vgl. Akzente 23 (April 1976), Heft 2


[4] Vgl. Norbert Mecklenburg: Provinz in deutschen Gegenwartsroman, in: Akzente 22 (April 1975), Heft 2, S 121-l28


[5] Vgl. Karlheinz Rossbacher: Heimatkunstbewegung und Heimatroman. Zu einer Literatursoziologie der Jahrhundertwende (Stuttgart: Klett, 1975)


[6] Vgl. Walter Hömberg und Karlheinz Rossbacher: Lesen auf dem Lande. 41-47 und 62f.


[7] Hans Lebert: Die Wolfshaut (Hamburg: Claassen,1960)


[8] Peter Handke: Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms, 199


[9] Vgl. Hannes Rieser: “Die Grammatik des Dorfes. Versuch über G.F. Jonke, Geometrischer Heimatroman, S 560-566


[10] Ilse Aichinger: Das Bauen n Dörfern, S 85-90











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