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Der Anti-Heimatroman in der rumäniendeutschen Literatur

Der Anti-Heimatroman in der rumäniendeutschen Literatur



1. Herta Müller: Zu Leben und Werk



In diesem Kapitel wird der Versuch unternommen, den Auswirkungen des österreichischen Antiheimatromans in der rumäniendeutschen Literatur nachzuforschen. Gewählt wurde eine Autorin aus dem Banat, die das heile Bild von der Provinz zerstört hat und die vom negativen österreichischen Heimatroman eines Thomas Bernhard, Franz Innerhofer und Peter Handke beeinflusst wurde. In einem ersten Schritt werde ich dabei, wie in den anderen Kapiteln, auf biografische Elemente Herta Müllers eingehen.

Herta Müller, geboren am 17.8.1953 in Nitzkydorf (Banat/Rumänien). 1973 bis 1976 Studium der Germanistik und Romanistik in Temeswar, 1976 bis 1979 Übersetzerin, 1979 bis 1983 Deutschlehrerin in Temes­war, seit 1984 freischaffende Schriftstellerin. Im März 1987 Übersied­lung in die Bundesrepublik; Gastdozentur für Schriftsteller an der Uni­versität Paderborn (Wintersemester 1989/90). Lebt in Hamburg.Die Autorin wurde mit vielen Preisen gekrönt.[1]

Die Demontage des traditionellen Heimatromans unternimmt Herta Müller mit ihrem Prosaband„Niederungen, der zunächst 1982 in Rumänien und dann 1984 in Westberlin verlegt. Schon die Veröffentlichung des Prosatextes „Das schwäbische Bad” in der Neuen Banater Zeitung brachte Herta Müller das Attribut der „Nestbeschmutzerin” ein. n Verunglimpfungen aus den eigenen Reihen sprach die in Temeswar erscheinende „Neue Banater Zeitung; gegen „Schdädigung der Auslandsdeutschen im Mutterland und gegen „Greuelmärchen aus Nitzkydorf protestierten „Banater Post und „Donauschwabe, Organe auslandsdeutscher Landsmannschaften. Die Literaturkritiker aber feierten Herta Müller einmütig als „Entdeckung Delius und überschütteten die Autorin mit Preisen und Auszeichnungen-




Auch die Erzählung „Der Mensch ist ein großer Fasan auf der Welt” (1986) und die Prosasammlung „Barfüßiger Februar” dokumentieren die tiefwurzelnde Fremdheit im eigenen Land, stehen darüber hinaus aber ganz im Zeichen von Abschied und Trennung – in der Spannung zwischen Bleiben und Gehen. Sie deuten bereits das Problem an, Heimat zu finden in einem fremden Land. „Bleiben zum Gehn” und „Angekommen wie nicht da” umreißen, als Leitsätze aus „Barfüßiger Februar”, die schmerzlichen Stationen von Warten, Ausreisen und Ankommen. „Reisende auf einem Bein” (1989) ist der erste Prosaband Herta Müllers, der nach ihrer Übersiedlung nach Westberlin entstanden ist: ein Dokument ihrer Ausreise aus Rumänien und ihrer Ankunft (Übergangslager, Wohnung, der westlichen Passanten – und Warenwelt in Westberlin). Ihre literarischen Nahaufnahmen einer totalitären Diktatur und einer sozialistischen Mangelgesellschaft, ihre beklemmenden Bilder von Bedrohung, Terror, Angst und Ausweglosigkeit erbrachten ihr den Ruf, eine der „glaubwürdigsten Schriftsteller der Gegenwart” zu sein, unvergleichlich in der deutschsprachigen Literatur. Insbesondere ihr erster Roman „Der Fuchs war damals schon der Jäger” (1992) trug ihr aber auch vielfach die Kritik ein, mit der fortgesetzten Mikroskopierung der Wahrnehmung, mit der Fragmentarisierung und metaphernüberhäuften Poetisierung der Wirklichkeit Gefahr zu laufen, in künstlicher Manier zu erstarren. Parallel zur Arbeit am Roman entstanden die Text-Bild-Collagen „Der Wächter nimmt seinen Kamm” (1993). Auf 94 Postkarten in einer Schachtel geliefert und auf der Rückseite unauffällig nummeriert, finden sich ausgeschnittene und einzeln aufgeklebte Wörter in unterschiedlichen Schrifttypen, zu Prosagedichten zusammengefügt. Damit verknüpft sind Photomontagen und schwarze Scherenschnitt-Männchen in vielfältigen Körperhaltungen. Ein „Karten-Karton-Buch”, das einmal mehr Angst und Bedrohung, Dikatur und Gewalt, Anpassung und Widerstand, Flucht und Exil als Lebensthemen Herta Müllers umkreist, teilweise schon im doppelsinnigen Untertitel „m Weggehen und Ausscheren”. Herta Müller hat auch einen poetologischen Essays „Der Teufel sitzt im Spiegel. Wie Wahrnehmung sich selbst erfindet” (1991) verfasst. Schwerpukt des Bandes sind fünf Poetik-rträge an der Universität Paderborn. Im steten Rückgriff auf ihre subjektiven Schreiberfahrungen spürt Herta Müller dem Spannungsverhältnis von Wirklichkeit und Imagination, von Innenwelt und Außenwelt, von Schreiben, Deken und Leben nach. Da wird immer wieder die Angst zum Auslöser erfundener Wahrnehmungen und zur Antriebskraft des Schreibens. Und die fortgesetzte Täuschung wird zur Überlebensstrategie in einer Diktatur, die kritische Reflexion verbietet und die literarische Demontage normierter und sanktionierter Wirklichkeitswahrnehmungen unter Strafe stellt. Auch der zweite Roman „Herztier” (1994) Herta Müllers handelt von der totalitären Diktatur Ceausescus, jetzt in der Zeit der siebziger und achtziger Jahre. Stark autobiographisch gefärbt bezieht sie die Kindheit im banatschwäbischen Dorf, Studium und Berufsausübung, Überwachung, Unterdrückung sowie die schließliche Ausreise in die Bundesrepublik ein. „Herztier” ist ein eindringliches Buch der Angst, der gefährdeten Freundschaft, des Widerstands und des Überlebenswillens in Zeiten totalitärer Diktatur, verknüpft mit zwei einfühlsamen Liebesgeschichten.





2. Niederungen – Der „Antiheimatroman” der Banater Schwaben

Herta Müller hat die Beschäftigung mit der dörflichen Thematik nach einer langen Pause des Verstummens mit dem Bedürfnis nach Selbstverständnis in Anschluss an den Tod des Vaters motiviert. Ein negatives Erlebnis, das nach den Worten der Autorin zum Stachel, zum Antrieb für das Schreiben fungiert,[2] wird zum Schreibanlass. Die Versprachlichung soll verschüttete Erfahrungen handhabbar machen, soll die Frage nach der eigenen Identität beantworten.

Ich habe die Niederungen geschrieben, weil das Überdenken meiner Kindheit, nachdem mein Vater gestorben war, für mein Weiterleben unumgänglich wurde. […] Ja, das musste ich und muss ich vor mir selbst zugeben: dass diese Umgebung mich geformt und verformt hat, dass Trachten und lksfeste und unbewohnte Zimmer […] Irritationen auslösten.[3]

„Niederungen” erwächst damit zu einer schonungslos kritischen Dorfchronik, Familienchronik und Chronik einer traumatischen Kindheit in der banatschwäbischen Provinz nach den Zweiten Weltkrieg, gesehen in der unverbrauchten und phantasievoll verfremdeten Perspektive des leidenden Kindes. Annäherung an den archaisch anmutenden Lebensraum von Kindheit und Jugend, ist „Niederungen” zugleich auch ein Dokument der Entfremdung und Isolierung, die verstärkt werden durch Misswirtschaft und Repressionen eines korrupten kommunistischen Regimes und durch eine latent fortlebende faschistische Vergangenheit. Indem Herta Müller Provinz als psychosozialen Zustand analysiert und kritisiert, wird „Niederungen” aktuell und überregional bedeutsam, über die Demontage banatschwäbischer Lebens-, rstellungs- und Wertewelt hinaus.

In der Erzählung Niederungen baut die Autorin aus „traumatischen Kindheitserlebnissen“[4] eine Chronik des schwäbischen Dorfes, unternimmt mit schonungslos entblößendem Blick, eine „bewusst[e] Demontage des schwäbischen Weltbilds“[5], was ihr auch den rwurf des ubruchs eingebracht[6] hat. Es gelingt Herta Müller, die frühen Jahre nicht aus der Perspektive der erwachsenen Autorin zu beleuchten, sondern aus dem Blickwinkel eines verwundbaren Mädchens mit „hypertrophierter Empfindsamkeit“[7], das seine Umgebung zu begreifen versucht: „Sie berichtet von dem rgang einer langsamen, überaus schmerzlichen Bewusstwerdung, in der Alpträume und Tatsachen ineinander übergehen, sich unentrinnbar durchdringen und ergänzen.“[8] Das dörfliche Milieu ist bei Herta Müller keine Idylle, es wird mit Gefühlen der Ablehnung, mit Hass und Ekel schonungslos gestaltet. Die Provinz erwächst zu einem negativen Heimatroman, zu einer „negativen Mythologie“,[9] die sich der „Anti-Heimatliteratur“[10] zuordnen lässt. „Herta Müllers Geschichten“, schreibt Peter Motzan diesbezüglich, „sind Grenzüberschreitungen von aufrüttelnder und empörender Rücksichtslosigkeit“[11], wobei das Moment der Grenzen (us) verletzenden Prosa konstitutiv für Herta Müllers Schreiben wird.[12] Die Ich-Erzählerin nimmt aus der Perspektive des Kindes Familien- und Dorfverhältnisse „mit der Schärfe eines Röntgenapparates“[13] wahr und erlebt eigentlich ihre ganze Umwelt als Gegenspieler.



Nicht minder bedeutsam und vielgelobt ist die sprachliche und poetische Qualität der fünfzehn Texte, die, mit Ausnahme der Titelgeschichte, jede kaum mehr als drei Druckseiten umfassen. Es dominieren kurze und einfache Sätze, die sich mit vielfältigen Mitteln der Wiederholung, Variation und Opposition, der Metaphorisierung und Rhythmisierung zu komplexen Bild- und Sinngefügen verdichten. Immer wieder löst sich dem kindlichen Blick gegenständlich verdichtete Prosa, bricht und mischt Wirklichkeit und Traum, präzise Beschreibung und phantasievolle Verfremdung, Gegenwart und Geschichte; so enstehen Texte von teilweise magisch anmutender Evokations- und Assoziationskraft und zuweilen von hintergründigem Witz. Auch das Deutschtum wird einer schonungslosen Kritik unterzogen. Dafür prägt Herta Müller das Symbol des „deutschen Frosches”, welches sich auf die Zurechtlegungen durch das dörfliche Über-Ich, durch die schwäbische Mentalität bezieht. Seitdem es sie gibt, loben sie sich, dass sie Deutsche sind, und reden über ihre Frösche nie, und glauben, dass es das, wovon zu reden man sich weigert, auch nicht gibt.” So fasst Herta Müller die Beschreibung ihrer Banater Landsleute am Ende ihrer Erzählung Niederungen zusammen. Und an einer anderen Stelle, in der Skizze Schwarzer Park, fragt sie ratlos: „Was kann man da tun, wenn egal wovon die Rede ist, vom Verlieren die Rede ist. Diese zwei Zitate können als Kernsätze für die Prosa Herta Müllers gelten. Ihr Thema ist das Banater schwäbische Dorf nach dem Zweiten Weltkrieg, in dem sich die programmierte sozialistische Bewusstseinswandlung nicht vollzogen hat. Die Bauernmentalität der Dorfbevölkerung blieb von der Revolution unberührt, die Menschen verweigern sich ihr instinktiv und legen sich auf eine Welt fest, die es nicht mehr gibt. Zucht und Strenge, Respekt und Gehorsam sind Requisiten aus einem anderen Alltag, die starrsinnig fortexerziert werden. Man wohnt in einer moralischen rstellung und glaubt, es dabei belassen zu müssen, auch wenn alles dagegen spricht.

Erzählt werden die Leiden einer Kindheit in einem Banater deutschen Dorf. Gemeint ist Herta Müllers Heimatgemeinde Nitzkydorf in der Banater Hecke, eine deutsche Siedlung in der Banater Bauerngeographie. Für dem Leser ist weniger die örtliche Bestimmung wesentlich als die menschliche und literarische Auseinandersetzung mit dem Stoff Heimat, wobei in diesem Buch die Zugehörigkeit zur Heimat als Auslieferung an sie dargestellt wird. Herta Müllers Leiden einer Kindheit sind ein Leiden an der Heimat. Geblieben ist die Ablehnung dieser Heimat, aber auch das Unvermögen, sich von ihr zu lösen. „Und weil ich noch am Leben war”, berichtet sie, „kam der Hass.” Eine gereizte Kuh hatte das Kind auf die Hörner genommen und zu Boden geschleudert. Aus Angst und Wut und Ohnmacht kam der Hass: „Ich wollte ihren großen, behaarten Bauch mit den Augen durchbohren, mit den Händen in ihren heißen Gedärme wühlen, ihr bis zu den Ellbogen unter die Haut greifen.” Sie – Herta Müller, das Kind- ist immer wieder das Opfer brutaler Gewalt, sie ist immer der Verlierer.





3. Die dekonstruierte Familie: brüchige Beziehungen

Die Beziehungen zwischen den Familienmitgliedern sind brüchig, zu Verhaltensnormen geschrumpft. Das Verhältnis Mutter-Kind wird als Schuldbewusstsein und als Pflicht zur Dankbarkeit von seiten der Mutter verstanden:

Seitdem es mich gibt, sind Mutters Brüste schlaff, seitdem es mich gibt, hat Mutter kranke Beine, seitdem es mich gibt, hat Mutter einen Hängebauch, seitdem es mich gibt, hat Mutter Hämorrhoiden und quält sich stöhnend auf dem Klo. Seitdem es mich gibt, spricht Mutter von meiner Dankbarkeit als Kind.[14]

Patriarchalische Kulturen sind auf die Unterbindung des Kontaktes und der Verbindung zwischen den Frauen aufgebaut. Die Mutter der Niederungen terrorisiert ihre Tochter, erteilt ihr eine repressive, häu lieblose Erziehung, prügelt und richtet sie zurecht. In der Erzählung Meine Finger [15] bezieht sich die Tochter symbolisch auf das Zurücktauchen und Verhindern der natürlichen Entwicklung und Lebensentfaltung durch die Mutter. Psychoanalytisch wird dieser Akt als die erste Verstoßung durch die Mutter gedeutet, von der das junge Mädchen lebenslängliche Verletzungen zurückbehält.

Die am eigenen Leib erfahrene autoritäre Erziehung, deren Opfer Autoren wie Peter Handke, Franz Innerhofer, Johann Winkler gewesen waren, wird von Alice Miller als „schwarze Pädagogik“ erläutert. Die Eltern bezweckten dabei ein überkommenes Erziehungsideal: Gehorsam und Härte, Pflichtbewusstsein, Dankbarkeit, anerzogen durch Autorität und Züchtigung. „Sobald aber die Kinderaugen das Machtspiel der Erziehung durchschauen“, schreibt Miller, „besteht Hoffnung auf einer Befreiung aus dem Panzer der ´schwarzen Pädagogik´.[16] Diese Schriftsteller - und Herta Müller gehört auch zu dieser Gruppe - versuchen, sich im Schreiben gegen die von der Erziehung aufgezwungene Selbstverleugnung aufzulehnen.
Die Vater-Mutter Beziehung erlebt das Mädchen als bloßen Schein und es ist von der missglückten Ehe der Eltern zutiefst erschüttert. Die Familienbeziehungen beruhen also auf einem Gefühl der Entfremdung, das die innere Abwehr des Kindes gegen die Sphäre der Eltern verdeutlicht. Der entblößende Blick des Mädchens richtet sich gerade auf das gestörte Verhältnis zwischen den Eltern, auf die Rohheit des trinkenden Vaters, der in diesem Kontext mit negativem rzeichen versehen wird.

Die schwäbische Familie liefert die bestimmenden raussetzungen für die kindliche Erlebniswelt. Das Dorf im Jahreskreislauf mit seinem jahreszeitlich bedingten Lebensrhythmus, mit seinen ernsten und heiteren Festen, ergänzt den familiären Erlebnisraum. Aus der Perspektive des Kindes registriert die Ich-Erzählerin diese Welt sozusagen von unten. Der Zerfall der Familienbeziehungen und der dörflichen Gemeinschaft erfolgt von innen her. Aus dem Blickwinkel eines liebesbedürftigen und grausam enttäuschten Kindes gesehen, ist der Wertezerfall weder das Ergebnis gesellschaftlicher Umschichtungen noch die Folge von Zersiedlungserscheinungen. Dieses sinnentleerte Gefüge ohne jeden Bezug zu lebendigen humanen Werten, liegt wie ein Gespenstermantel über Familie und Dorfgemeinschaft und vernichtet auch die Menschen. Aus der Perspektive des Kindes registriert die Ich-Erzählerin Familien- und Dorfverhältnisse mit der Schärfe eines Röntgenapparates. Das Bild, das dabei entsteht, verdichtet Alltägliches und Unauffälliges zu einem Trauma, das die kindliche Seele zutiefst erschüttert. So wird z.B. das Verhältnis Mutter-Kind als Sebstbewusstsein und Pflicht zur Dankbarkeit von seiten des Kindes empfunden. Genauso gestört ist das Verhältnis zum Vater; er steht, ständig betrunken, gehasst von der Mutter und gefürchtet vom Kind, als drohende brutale Gewalt im Leben der Familie. Selbst der Anblick des nüchternen Vaters enoch erweckt Angst. Die Familienbeziehungen werden vom Gefühl der totalen Entfremdung beherrscht. Soweit überhaupt Worte an das Kind gerichtet werden, sind es Verbote. Ringelgras darf man nicht essen, davon wird man dumm, die Bienen stechen einen in den Gaumen, so dass man erstickt. Viel schlimmer noch als solche Verbote schürt der tägliche Tagesablauf die Angstzustände des Kindes; die Selbstverständlichkeit, mit der Großmutter sich auf die Flügel der Ente stellt und dieser die Kehle durchschneidet, löst Angstvisionen aus. Die kindlichen Angstvisionen, die durch solches Verhalten ausgelöst werden, machen deutlich, dass „häusliche” Grausamkeiten böse rzeichen für schlimmere menschliche Vergehen sind. Wie die Reinlichkeits- und Ordnungswut der Mutter, die die Spatzenjungen aus ihrem Nest reißt, sich zu anderen Grausamkeiten steigert, macht die Autorin metaphorisch ersichtlich.[17]Vernichtet aber wird in diesem Haus nicht nur das Kind; auch die Erwachsenen sind Gefangene und Opfer ihrer eigenen Lebensgewohnheiten. Der betrunkene Vater geht singend und mit erhobenem Küchenmesser auf die Mutter los, um in Trunkenheit und Brutalität einen Ausweg aus der eigenen verfahrenen Lebenssituationen zu finden. Da Wertsystem, das die Familie nach außen hin zusammenhält, besteht aus den sprichtwörtlichen bekannten Tugenden der Banater Schwaben. Fleiß, Ordnungsliebe, Sparsamkeit, Gemeinschafts- und Traditionsbewusstsein. Der Fleiß der Mutter, der sich in Putzsucht und Sauberkeitswut austobt, entfremdet dem Kind das Elternhaus: „Es ist alles sauber. Mutter verdunkelt die Zimmer, die rzimmer. Das ganze Haus ist unbewohnt und dunkel. Die Sparsamkeit der Mutter verlebt das Kind als Geiz und Geldgier; Besitz ist nur noch Selbstzweck: die Schlafpuppen sitzen mit gestärkten Kleidern auf den Schlafzimmerbetten, in denen seit der Hochzeitsnachtder Eltern niemand mehr geatmet hat. Die ethnisch-traditionelle Grundlage der Familie lebt auf verwachsenen und neugenähten Wandtüchern: „Gutes Essen macht Sorgen vergessen Mutter sagte, dass Wandtücher sehr schön und außerdem sehr lehrreich sind.”[18] Diese familiäre Welt erstarrt in Gewohnheiten, über die nachzudenken man sich weigert, wird vom Kind mit scharfer Beobachtungsgabe registriert. Dabei werden durch den sachlich-kritischen Blick Gewohnheiten zu negativen Verhaltensmustern verdichtet. Die Sprache wird durch die kindliche Objektivität der Wahrnehmung unterkühlt; der Satzbau raffiniert-gekonnt kindlichen Sprachstrukturen angepasst; Subjekt und Aussage werden in monotoner Wiederholung nebeneinander gesetzt, so dass die Eindringlichkeit und die Überzeugungskraft der Aussage durch die sprachlichen Mittel gesteigert werden. Gleichzeitig wird dadurch die Methode zum Thema ihrer Geschichte. Die chirurgische Genauigkeit der Beschreibung paart die Autorin mit intensiven Gefühlserlebnissen, so dass die realistischen Röntgenaufnahmen von der Umwelt durch die Gefühlswelt des Kindes zu phantastischen und grotesken Bildern ausgeweitet werden. Dadurch werden Gewohnheiten und Gepflogenheiten des Alltags gewissermaßen überbelichtet und verfremdet; gängige Verhaltensmuster steigern sich ins Kriminelle, sobald deren Auswirkung auf die Psyche des Kindes ausgeleuchtet wird: „Die Nacht war am Erfrieren. In den Scheunen schürten leuchtende Katzenaugen das Feuer. Es schneite auf umherstreunende Hunde. Ich hörte das Schwein. Es stöhnte. Sein Widerstand war so klein, dass die Ketten überflüssig waren. Ich lag im Bett. Ich fühlte das Messer an meiner Kehle. Es tat mir weh, der Schnitt ging immer tiefer, mein Fleisch wurde so heiß, es begann zu kochen in meinem Hals. Der Schnitt wurde weit größer als ich, er wuchs übers ganze Bett, er brannte unter der Decke, er stöhnte sich ins Zimmer.”

Die dörfliche Problematik ist ein wesentliches Thema ihrer Prosa und wird in den Erzählbänden Niederungen, Drückender Tango, Barfüßiger Februar, Der Mensch ist ein großer Fasan auf der Welt und teilweise im Roman Herztier behandelt, mit denen die Autorin ein beliebtes Sujet der rumäniendeutschen Heimatliteratur aufgreift.

Die Schriftstellerin nimmt aber innerhalb der neuesten rumäniendeutschen Literatur eine Ausnahmestellung ein: mit ihrem Werk findet eine neue Betrachtungsweise des Themas Heimat ihren Durchbruch, da die Autorin bestrebt ist, sich von einem kritischen Standpunkt aus mit dieser Thematik auseinander zu setzen. Als einschneidende Erneuerung auf inhaltlicher Ebene ist der zeitkritische – kritisch in bezug auf die schwäbische und rumänische Wirklichkeit – Ansatz zu betrachten. Die Dorfwirklichkeit wird literarisch in sorgfältig ausgesuchte negative „Idyllen“ gebannt.[19]

Die Protagonistinnen Herta Müllers erleben in der Heimat[20], sei es der ländliche oder der städtische Boden, die Macht und die daraus erwachsende Angst in der Familie, vor dem Kollektiv des Dorfes oder angesichts des omnipräsenten Überwachungsapparates.



















[1] Förderpreis des Literaturkreises „Adam Müller-Guttenbrunn (1981); Debutpreis des Rumänischen Schriftstellerverbandes (1982); Literaturpreis des Rumänischen Kommunistischen Jugendverbands (1982); Aspekte-Literaturpreis (1984); Literaturförderpreis der Freien Hansestadt Bremen (1985); Rauriser Literaturpreis (1985); Ricarda-­Huch-Preis der Stadt Darmstadt (1987); Preis der Henning-Kaufmann­Stiftung zur Pflege der Reinheit der deutschen Sprache (1989); Marie­luise-Fleißer-Preis (1989); Roswitha-Gedenkmedaille der Stadt Bad Gandersheim (1990); Kranichsteiner Literaturpreis (1991); Villa-Mas­simo-Stipendium (1991); Kritiker-Preis des Verbands deutscher Schriftsteller (1992); Kleist-Preis (1994).




[2] “Nur ein negatives Erlebnis reizt mich zum Schreiben.” In: Schuller Annemarie (1984): “Und ist der Ort, wo wir leben.” Interview mit Herta Müller. In: Reichrath, Emmerich (Hrsg.) (1977): Reflexe. Kritische Beiträge zur rumäniendeutschen Literatur, Bukarest: Kriterion, 120-l26,.S,122.


[3] Schuller, Annemarie (1985): Ihre Mittel: arm und reich zugleich. In: Karpatenrundschau, 14.6.198


[4] Motzan, Peter (1983): “Und wo man etwas berührt, wird man verwundet.” Zu Herta Müller Niederungen. In: Neue Literatur, 3/1983, 67-72, hier 67.


[5] Heinz, Franz (1985): Kosmos und Banater Provinz. Herta Müller und der unliterarische Streit über ein literarisches Debüt. In: Schwob, Anton (Hrsg.) (1985): Beiträge zur deutschen Literatur in Rumänien seit 1918, München: Verlag des Südostdeutschen Kulturwerks, 103-l12, hier 10


[6] Nachdem die Dorfgeschichten aus dem Band Niederungen in Rumänien veröffentlicht wurden, haben viele Landsleute der Autorin vorgeworfen, dass sie den Zusammenhalt der deutschen Minderheit in Rumänien untergrabe. Zu einem wahren Skandal uferte die Veröffentlichung der Kurzprosa Das Schwäbische Bad, einem Text, der eine Leseweise ad litteram und eine symbolische ermöglicht, in der Neuen Banater Zeitung aus. Viele Leser haben die satirische Zuspitzung des Textes Missdeutet und haben sich persönlich beleidigt gefühlt. Die Redaktion der Neuen Banater Zei-tung hat eine Unzahl von Briefen, die Beschimpfungen und sogar Drohungen enthielten, erhalten und hat sich verAnlasst gesehen, einen Teil davon zu veröffentlichen, der unter dem Titel n der Sauberkeit und vom Dünkel erschienen ist. (Vgl Neue Banater Zeitung 7.1981, 19.7.1981, 16.8.1981, 13.9.1981). Um das Ausmaß der Beschuldigungen besser zu verdeutlichen, zitieren wir einen Auszug aus einem Brief, den kein Laie geschrieben hat, sondern ein Temeswarer Journalist, Nikolaus Haupt, der selbst die Verleihung des Adam-Müller-Guttenbrunn-Preises an Herta Müller in Frage stellt. Der Artikel trägt den Titel „Ein Sturm des Protests … Ausgeburten krankhafter Gehirne“ und hält folgendes fest: “Wenn man bedenkt, dass solches in der Zeit vor sich geht, in welcher die deutschen Menschen in diesem Landstrich vielleicht wie noch nie zuvor eines inneren Haltes und des Glaubens an den eigenen Wert bedürfen, ist es verständlich, dass die Herausstellung dieser Schreibenden und der Grundton der Laudatio, die bei der Preisverleihung auf diese Literatin gehalten wurde, in noch gesunden Schichten unserer deutschen Mitbürger Missmut, Ablehung und empörten Widerspruch ausgelöst haben”. In: Neue Banater Zeitung, 7.1981.



[7] Vgl. dazu die Rezension von Motzan, Peter 67.


[8] Schwartz, Leonore (1984): Am Fuße der Karpaten. Das bemerkenswerte Debüt einer rumäniendeutschen Erzählerin. In: Der Tagesspiegel, 16.12.1984.


[9] Motzan, Peter , 68.


[10] Sihe dazu die Definition der Anti-Heimatliteratur aus dem 2 Kapitel obiger Arbeit. In: Koppensteiner, Jürgen (1981): Anti-Heimatliteratur: Ein Unterrichtsversuch mit Franz Innerhofers Roman Schöne Tage. In: Die Unterrichtspraxis 14/1981, 10. Der Schwerpunkt des Begriffes liegt also auf dem Aufdecken negativer Zustände in der Heimat, auf der Auflösung der rstellung von der Provinz als einer heilen Welt. Andrea Kunne vertritt in ihrer Dissertation Heimat im Roman. Lust oder Last. Transformationen eines Genres in der österreichischen Nachkriegsliteratur, Amsterdam 1991, 18 den Standpunkt, dass der Begriff der Anti-Heimatliteratur zu eng gefasst ist, weil in allen Anti-Heimatromanen dasselbe Thema abgewandelt wird.


[11] Siehe Motzan, Peter: “Und wo man etwas berührt, wird man verwundet.” Zu Herta Müller Niederungen. In: Neue Literatur, 3/1983, 67-72, hier 70..


[12] Bary, Nicole hält “die Thematik von Grenze, Grenzüberschreitung und Entgrenzung” für do-minierend im Werk Herta Müllers. Siehe dazu: Bary, Nicole (1990): Grenze – Entgrenzung in Herta Müllers Prosaband Der Mensch ist ein großer Fasan auf der Welt”. In: Grenze und Entgrenzung. Germanica 7/1990, 120. Dieselbe Anschauung vertreten: Eke, Otto, Norbert (1991): “Überall, wo man den Tod gesehen hat”. Zeitlichkeit und Tod in der Prosa Herta Müllers. Anmerkungen zu einem Motivzusammenhang. und Schau, Astrid, die die Grenzüberschreitung nicht nur als fundamentales Thema von Herta Müller sieht, sondern auch von einer Grenzüberschreitung als das Leben der Autorin prägenden Erfahrung spricht. Vgl. dazu Schau, Astrid (1996): “Doch all die Geschichten, wie hält man sie wach”. Herta Müllers Schaffen als Schreiben auf der Grenze, Magisterarbeit an der Neuphilologischen Fakultät der Eberhard-Karls-Universität Tübingen.


[13] Götz, Dorothea: “m Ende einer heilen Welt”. Herta Müllers Niederungen. In: Schwob, Anton (Hrsg.) (1985): Beiträge zur deutschen Literatur in Rumänien seit 1918, München: Verlag des Südostdeutschen Kulturwerks, 103-l12, hier 10.


[14] Müller, Herta: Anm. 158, 7.


[15] Müller, Herta: Meine Finger. In: Müller, Herta (1987): Barfüßiger Februar, Berlin: Rotbuch, 77-79.


[16] Miller, Alice (1983): Am Anfang war Erziehung, Frankfurt/Main: Suhrkamp, 196.


[17] Herta Müller: Niederungen. Berlin 1984. S. 75


[18] Ebd. , S. 68


[19] Vgl. Grazziella Predoiu: Faszination und Provokation bei Herta Müller. Eine thematische und motivische Auseinandersetzung, Frankfurt/Main: Peter Lang, 2001, S. 56.


[20] Siehe zur Bedeutung der kabel Heimat: Polheim, Konrad Karl: Einleitung In: Polheim, Kon-rad, Karl (Hrsg.) (1989): Wesen und Wandel der Heimatliteratur am Beispiel der österreichischen Literatur seit 1945, Frankfurt/Main: Peter Lang, 15-21; Seliger, Wilfried (Hrsg.) (1987): Der Begriff “Heimat” in der deutschen Gegenwartsliteratur, München: Iudicium.; Zur Heimatdiskussion in der jüngeren rumäniendeutschen Literatur siehe: Motzan, Peter (1987): Schwierigkeiten im Umgang mit der kabel Heimat. In: Neue Literatur, 8/1987, 37-39; Heimat – Plural ungebräuchlich. Auszüge aus einem Rundtischgespräch in Kerz (1987). In: Neue Literatur, 8/1987, 40-46







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