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Bis heute haben empirische Untersuchungen zu den gegenwärtigen

Bis heute haben empirische Untersuchungen zu den gegenwärtigen

Bis heute haben empirische Untersuchungen zu den gegenwärtigen Handlungsbedingungen des Literatursystems immer wieder gezeigt, daß besonders das familiäre Milieu und der Sprach- und Literaturunterricht in den Schulen wichtig dafür sind, daß Kinder und junge Menschen den gesellschaftlich angemessenen Umgang mit solchen Texten lernen, die für Literatur gehalten werden; daß in diesen sozialisierenden Kontexten die Grundfähigkeiten und Fertigkeiten erlernt werden, die selbslbestimmt "freies" literarisches Handeln ermöglichen.
Das ist zwar nur die eine - äußere - Seite des literarischen So/.ialisationspro-zesses. Aber von dieser wissen wir deshalb recht viel, weil sie der historischen und empirischen Forschung der letzten Jahrzehnte einige Aufmerksamkeil wert gewesen ist34.
Schulische Erziehung und familiäres Milieu unterscheiden sich im 18. Jahrhundert in ihrer sozialisalorischen Funktion für literarisches Handeln jedoch noch sehr von dem, was wir heute als üblich und alltäglich ansehen. Das 18. Jahrhundert wird zwar zu Recht als das Jahrhundert der Aufklärung und der Buchkultur bezeichnet. Wer lesen kann, der ist am kulturellen Leben beteiligt. Kultur ist Buchkultur. Die Metapher von der Lesbarkeit der Welt entsteht nicht zufällig. Aber es gibt im 18. Jahrhundert noch keine allgemeine Schulpflicht im deutschsprachigen Raum Europas. Erst im 19. Jahrhundert entwickelt sich ein fest institutionalisiertes und staatlich kontrolliertes Erzichungs- und Bildungssystem. Dieses ist dann allerdings ideologisch vorbereitet durch Erfah-





rungen mit den beginnenden öffentlichen Erziehungsbemühungen und die vielfältigen programmatischen Erziehungstheorien des 18. Jahrhunderts.
Um zu pointieren: bis zu Rousseaus »Emile« ist in der durchschnittlichen Familie der mitteleuropäischen Agrarstaaten Erziehung der Kinder fast nie ein dominantes und allgemein bewußtes Problem, weil Kinder als kleine Erwachsene in die Abläufe des täglichen Familienlebens integriert sind. Gerade die Familie als soziale Institution aber rändert in dieser Zeit ihre traditionellen Funktionen. Die dramatische Ausbreitung von Manufakturen - etwa im Ancien Regime in Frankreich oder in den frühindustrialisierlen Bereichen Mitteleng-lands - erzwingt die Trennung von Familie und Arbeit. Die Verstädterung und damit einhergehendc Veränderung des Handlungsspielraums von Familien führt zur - erst heule wieder in Frage gestellten - Rollenaufteilung der bürgerlichen Kernfamilie mit den Rollen von Vater, Mutter und Kind. Erst da ist es ökonomisch, wegen der Staatsraison oder auch wegen allgemein humaner Vorstellungen über die »Erziehung des Menschengeschlechts« notwendig, Strategien der Erziehung zu entwickeln und soziale Institutionen außerhalb der Familie zu schaffen, etwa um in der durch Lohnarbeit erzwungenen Abwesenheit der Eltern für die Kinder (sofern diese nicht selbst arbeiten müssen) zu sorgen.
Wenn so auch die grundlegende Kulturtechnik des Lesens und Schreibens im 18. Jahrhundert meist gewiß im Rahmen von Familie und durch Formen des schulischen Unterrichts den zukünftigen Autoren und Lesern rmittelt wird, so kann man doch nicht zugleich annehmen, daß auch der richtige Umgang mit diesen Fähigkeiten und Fertigkeiten in jedem einzelnen Anwendungs-Fall gesichert ist, vor allem dann nicht, wenn es um das Lesen und Schreiben von - fik-tionaler - Literatur geht. Die unzähligen moralisch religiösen Pamphlete gegen das Lesen von Romanen im allgemeinen und von sogenannten minderwertigen, massenhaft rtriebenen Romanen im besonderen signalisieren ja - aus der Sicht des religiösen Handlungssystems -, daß hier ein gesellschaftliches Regelungsbedürfnis entsteht, das als Problem eines immer deutlicher sich herausarbeitenden eigenen sozialen Handlungssystems mit bestimmten eigenen, d.h. von anderen gesellschaftlichen Handlungssystemen nicht angebotenen "literarischen" Handlungsmöglichkeiten rstanden wird, für dessen Regulierung die Machtinstrumente des Religionssystems dann allerdings immer weniger taugen (cf. Funke 1988). Bekanntlich hat nicht nur das "Religionssystcm", sondern auch das "Erziehungssystem" - also die Sozialisationsmonopolisten in bezug auf die "Welt- und Menschenbilder" der Zeit - in solcher Weise die sozial sich mit Hilfe der LITERATUR durchsetzenden Interessen und Ziele zu diffamieren rsucht.35
Daß etwa die "Agenten" des "religiösen Handlungssystems", die Pfaffen und Bischöfe und kirchlichen Lehrmeister, besonders stark und anhaltend opponieren gegen die neuen Möglichkeiten des "literarischen Handelns", die der Roman bietet (cf. Erning 1974), kann - unter diesem Blickwinkel - schon fast vollständig durch ein schlichtes Konkurrenzmodell erklärt werden; denn nun, mit einem sich ausbreitenden "Literatursystem", gibt es für jedermann die Möglichkeit, sich auch mit nicht-kirchlichen Weltsichten und -ansichten auszustatten. Auch wenn sich viele fortschrittliche Pfarrersleule im 18. Jahrhundert Gedanken um das richtige Lesen von Romanen und um die Lesekultur machen, so zeigt sich in dem Bemühen der kirchlichen "Antimodernisten" jener Zeit, solcherart Leseprozesse in ihrem Sinne noch regeln zu wollen, doch vor allem nur, daß es sich dabei um ein neues und eben nicht mehr (rein) religiös zu bestimmendes soziales Ereignis handelt.
Der Roman ist wegen seiner Möglichkeiten, erzählerisch das ganze Panorama menschlichen Lebens aufzuspannen, genau dazu dann auch das literarisch sich modellierende Medium der Zeit. Der allgemeine MentalitäLsumbruch im 18. Jahrhundert, der die soziale Ausdifferenzicrung mit der Thematisierung von "Individualität", "Privatheit", "Familie" und "Bildung", von "Geschichte" und "Fortschritt" (R. Kosellek) begleitet, wird im Medium des literarischen Romans von Autoren und Lesern kommuniziert und symbolisch gestaltet. Um so bedeutsamer ist es unter dem Gesichtspunkt der sozialen und individuellen Integrationsleistung dieses literarästhetischen Diskurses, daß die Kommunikation produktiv rläuft, und daß sie nicht etwa von (strukturellen) Mißrständnissen geprägt ist oder - ganz, simpel - an mangelnder Leserkompetenz scheitert; denn solche "Mißrständnisse" könnten im systemischen "Wettstreit" die Position des Lileratursystems entscheidend schwächen.







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