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Kesslers und van de Veldes Kampf gegen Reichsbeseeler und Heimatkunst

Kesslers und van de Veldes Kampf gegen Reichsbeseeler und Heimatkunst

Wird es ein neues, ein »Drittes Weimar« geben, das den Anschluß an die Moderne findet, oder wird Ilm-Athen zum Zentrum einer deutsch-konservativen Renaissance, welche erste völkische Züge trägt? Um die letzte Jahrhundertwende finden sich beide kulturpolitischen Ansätze in der Klassikerstadt, und beide kämpfen um die geistige Vorherrschaft. Für die Avantgarde, die sich bewußt europäisch gibt, stehen die Namen Henry van de Velde und Harry Graf Kessler, für die rückwärtsgewandte dcutschtümelnde Vision Namen wie Ernst Wachler, Adolf Bartels oder Friedrich Lienhard, welcher die Klassikerstadt zum Hort deutscher »Reichsbeseelung« machen will. Beide Lager machen Front gegen den Wilhelminismus: Kessler und van de Velde werden zu Speerspitzen der ästhetischen Opposition gegen den epigonalen, nationalen Kunst- und Kulturgeschmack des Kaisers; nach ihrem Willen soll Weimar eine internationale Kunst- und Literaturhochburg werden, ein Sub- oder Gegenzentrum zu Berlin, wo Wilhelm II. Hugo von Tschudi wegen des Ankaufs impressionistischer Bilder als Leiter der Nationalgalerie entläßt. Auch die Bartels, Wachler und Lienhard wollen Weimar wieder zur geistigen Hauptstadt Deutschlands machen, wenn auch auf andere Weise: Sie verstehen sich als konservative Erneuerer im Bismarckreich, ihr Kampf gilt einer angeblich rein materialistisch orientierten, sittenlosen Gesellschaft. Von der Kraft der Pronz, dem wahren Deutschland, erhoffen sie das Heil, von der Wiedergewinnung einer deutschen Innerlichkeit, wie sie sie verstehen, die rechte Medizin gegen die Gefahren des Liberalismus wie des Asphaltdschungels.




Und wie könnte es in Weimar anders sein, betrachten beide, Konservativ-Völkische wie die Kunst- und Kultur-Modernisierer gerade die künstlerische Erziehung als wichtigstes Vehikel zur sittlichen Erneuerung. Van de Velde versteht seinen »Neuen Stil«, mit dem er alle Bereiche der sozialen Wirklichkeit durchdringen will, letztlich als einen Beitrag zur Lebensreform; Kessler, dem Kunst die neue Religion bedeutet, zielt im Sinne Nietzsches auf eine Erhöhung des Menschen durch die Kraft der Kultur.

Als die berühmte Tragödin Louise Dumont ihm ihre Lieblingsidee vorträgt, in Weimar ein »Dramatisches Nationaltheater« zu gründen, greift er den Gedanken begeistert auf. Umgehend t er mit van de Velde den Bau eines Mustertheaters für klassische und moderne Schauspielkunst. Auf ein solches »Bayreuth des Schauspiels« in Weimar zielen ironischerweise auch die Verfechter der Antimoderne. Adolf Bartels konzipiert die »Nationalfestspiele für die deutsche Jugend«, die 1909 eröffnet werden, eindeutig als nationales Erzie-hungs- und Einigungswerk, welches deutschen Gymnasiasten die deutschen Klassiker, dazu Kleist, Grillparzer und den Beinahe-Deut-schen Shakespeare nahebringen soll. Ernst Wachler versteht Theater als Mittel einer nordischen Renaissance und sucht für die Volksgesamtheit »nach einem Untergrund der Bildung - in Landschaft, Brauchtum, Mythos«. Beide Ansätze, der modernistische wie der rückwärtsgewandte, sind übrigens keineswegs demokratisch - der Bartels-Wachlersche ist antiwestlich und antiparlamentarisch, der Kesslers, welcher von einem neuen ästhetisch-aristokratischen Orden der Kunstsinnigen träumt, ohne jeden Zweifel elitär.

Überlappend zwischen den beiden Lagern, im Schnittpunkt der Kreise, findet sich um 1900 die Villa Silberblick, in der Elisabeth Förster-Nietzsche seit ihrem Umzug von Naumburg den dahindämmern-den Bruder bis zu seinem Tode wie eine lebende Reliquie zur Schau stellt. Rudolf Steiner, damals Mitarbeiter am Goethe- und Schiller-Archiv, zeigt sich vom Anblick des geistig Zusammengebrochenen tief beeindruckt: »Da lag der Umnachtete mit der wunderbar schönen Stirnc, Künstler und Denkerstirne zugleich auf einem Ruhesopha Eine innere Erschütterung, die meine Seele ergriff, durfte meinen, daß sie sich in Verständnis für den Genius verwandle, dessen Blick auf mich gerichtet war, aber nicht traf.« Dem Nietzsche-Ethusiasten Kessler fallen die Finger des geistig zusammengebrochenen Philosophen auf - »lang und fein gebildet, nur die Farbe ist leichenhaft«. Nichts Irres findet er in Nietzsches Augen, elmehr einen Ausdruck der »Treue und zugleich des Nicht ganz verstehen könnens, des gei stigen Suchens ohne Resultat«, ein Blick, vergleichbar dem eines großen, schönen Berhardiners. Als der Philosoph des Fin de siecle im August 1900 stirbt, eilt Kessler in die Villa Silberblick, ihm die Totenmaske abzunehmen.

Das Weimar um die Jahrhundertwende, in dem dieser Kampf um die kulturelle Hegemonie entbrennt, lebt vom ermattenden Glanz seines silbernen Zeitalters, das mit dem Weggang von Richard Strauss nach München 1898 definitiv zu Ende ging. Ahnlich Bach, hat der Kapellmeister in seinen er Weimarer Jahren seinen Durchbruch als Komponist erlebt und seine Oper »Guntram«, auch sinfonische Dichtungen wie »Don Juan« und »Macbeth« zur Uraufführung gebracht.
Die Stadt zählt nun beinahe dreißigtausend Einwohner, aber den Anschluß an das moderne, technische Deutschland hat sie noch immer nicht gefunden. Zwar gibt es seit 1898 eine Waggonfabrik, doch bleibt die Wirtschaft weiter von Klein- und Handwerksbetrieben dominiert. Als van de Velde nach Weimar kommt, findet er eine Welt, deren »patriarchalische Sitten und Vorstellungen noch nicht dem Schock sozialer und ökonomischer Erschütterungen ausgesetzt« sind. Neue Villenertel entstehen, denn der Ruf der Kulturstadt und die landschaftlich schöne Umgebung ziehen immer mehr hohe Beamte und Offiziere an, die ihren Ruhestand in der Ilm-Stadt verbringen wollen. Vermögende Witwen kommen zuhauf, ihre und der betuchten Ruheständler Dienstmädchen, dazu die zahlreichen Mädchenpensionate, sorgen für einen außerordentlich hohen Frauenüberschuß in der Stadt. Der Zuzug aus dem Reich stärkt jene konservativen Schichten, welche dem Neuen Weimar ohnehin mit äußerster Skepsis gegenüberstehen. Die meisten denken wie Wildcnbruch, und der zeigt sich aufs tiefste verstört über den neuen Geist, der mit van de Velde und Kessler in seiner »Oase der Glückseligkeit« Einzug hält.

Wahlergebnisse belegen den Trend nach rechts, der nach der Reichsgründung durch das ganze Großherzogtum geht. Gab es im Landtag zunächst eine nationalliberale Mehrheit, gewinnen bei den Wahlen von 1897 die agrarisch und antisemitisch orientierten Konservativen die Oberhand. Selbst das neue Wahlrecht von 1909 verleugnet noch das Prinzip des orte man orte vote. Nach dem Muster des Königreichs Sachsen geschneidert, zielt es klar darauf ab, die Sozialdemokratie kleinzuhalten. So gewinnen die Konservativen ihre neun Sitze mit weniger Stimmen als die Sozialdemokraten, die sich trotz eines erheblichen Vorsprungs mit nur er Mandaten begnügen müssen. Ausschlaggebend für die wichtigen Entscheidungen vor allem auf kulturpolitischem Gebiet ist noch immer der Großherzog, der kulturelle Projekte aus dem ihm verbliebenen Anteil am Domänenvermögen, zum Teil auch aus seiner privaten Schatulle finanziert. Und die ist bei Großherzog Wilhelm Ernst, der seit dem Tod Carl Alexanders 1901 das Regiment führt im kleinen Staat, der sich jetzt verkürzt »Großherzogtum Sachsen« nennt, durch das Erbe seiner Großmutter Sophie beträchtlich. Sie hinterließ ihm neben großen Gütern in Posen auch die schlesische Standesherrschaft Heinrichau, auf die er sich nach seiner Abdankung 1918 zurückziehen wird.
Wer ist dieser Wilhelm Ernst, der mit nur fünfundzwanzig Jahren den Weimarer Thron besteigt und im Streit der kulturpolitischen Lager die Schlüsselrolle spielt? In seiner Flugschrift »Ein Wort über Weimar« ruft ihn Ernst von Wildenbruch im März 1903 öffentlich zur Ordnung, weil er den Jahresversammlungen der Goethegesellschaft ferngeblieben ist: Der neue Herr verletze damit die Überlieferung seines Hauses und seine Pflichten als Schirmherr des Goethe- und Schiller-Archivs.
In der Tat fehlt Wilhelm Ernst jedes innere Verständnis für die im Begriff Weimar enthaltene Tradition. Ein Mann wie Wildenbruch, der Carl Alexander als den idealen Herrscher verehrt, ihn als Hüter des »heiligen Grals« Weimar betrachtet und sein Wirken für die »geistige Einheit des Reiches« gepriesen hat, kann deshalb von dem Erben nur bitter enttäuscht werden. Für jene geistige Führerschaft in Deutschland jedenfalls, die der Hohenzollern-Dramatiker von allen Ernesti-nern erwartet und in seiner Flugschrift anmahnt, zeigt der junge Nachfolger nur Mißachtung und Desinteresse. Nach dem öffentlichen Tadel bei Hofe einbestellt, entlädt sich ein allerhöchstes Donnerwetter über dem Dichterhaupt; der Ton der Königlichen Hoheit ist so schroff wie das Zerwürfnis vollkommen.

Ungezügeltes Temperament steckt dem letzten regierenden Ernesti-ner in den Genen - er ist heftig wie Carl August, brutal, cholerisch und sadistisch wie sein Vorfahr Zar Paul. Geradezu lustvoll, so Ulrich Hess, habe er die Prügelstrafe an Kindern und Jugendlichen immer wieder selbst vollzogen und am Hof gern Ohrfeigen an Adlige verteilt. Die Jagd und das Militärische liebt er jedenfalls mehr als Kunst und Literatur, wo er sich auf unsicherem Terrain bewegt. Einiges deutet darauf hin, daß er deshalb Komplexe hat, die sich in abstoßendem Hochmut äußern. Barsch und kurzangebunden gibt er sich, die Bilder aus den Jahren seiner Herrschaft zeigen ihn stets in Uniform mit einem riesigen Säbel, den er an der Seite trägt. Beim Besuch nüchterner Industriefirmen von Weltruf wie Zeiss oder Schott in Jena wirkt das so unpassend-grotesk wie bei der Eröffnung einer Klinger-Ausstellung. In seinen Reeren tritt er vor Bauern wie Jagdbediensteten herrisch auf, er genießt den Ruf eines Draufgängers. Wenn er sich in rasender Fahrt im Automobil vom Schloß nach Ettersburg und zurück chaufficren läßt, müssen die braven Weimarer Untertanen beiseite springen, wollen sie nicht unter die Räder kommen.
Wilhelm IL, der ihm seit seiner Potsdamer Zeit nahesteht, hat großen Einfluß auf ihn. Historikern wie Facius oder Hess gilt dieser Wilhelm Ernst als unausgeglichen und launisch, zwiespältig und widerspruchsvoll, aber sie bescheinigen ihm schnelle Auffassungsgabe und einen scharfen, durchdringenden Verstand.
Aus seinem privaten Vermögen zahlt er bereitwillig auch für größere, aufwendige Vorhaben, wenn man ihm die Sache nur richtig schmackhaft zu machen weiß. Ist es als Wiedergutmachung für den Affront gegen die Goethegesellschaft gedacht, wenn er die klassischen Erinnerungsstätten in Schloß Tiefurt und seinem Park im Stil Anna Amalias ausstatten und restaurieren läßt? Die Kosten für den Neubau des Hoftheaters, der 1908 eingeweiht wird, übernimmt er zum größten Teil persönlich. Wenn er sich, wenn auch nur wenige Jahre, für die Idee des Neuen Weimar gewinnen läßt, hat dies el mit der Bonner Borussia zu tun, jenem kleinen, exklusiven Corps, dem nahezu ausschließlich Studenten aus den vornehmsten protestantischen Adelsgeschlechtern Ostelbiens angehörten.

Eberhard von Bodenhausen, Industrieller und Förderer moderner Kunst, ist ein Corpsbruder Wilhelm Ernsts und macht ihn mit seinem Freund Harry Graf Kessler bekannt. Auch Prinz Wilhelm von Preußen, der spätere Kaiser Wilhelm IL, war Bonner Borusse, obschon Thronerben nach den ungeschriebenen Gesetzen der Hohenzollern nicht mit scharfen Waffen kämpfen durften und er damit von Mensuren, dem Tauglichkeitsnachweis für wahre Mitgliedschaft, ausgeschlossen blieb. Kessler läßt sich zwar von den Borussen keilen und schlägt sich commentgemäß auf dem Paukboden, wird jedoch nie Vollmitglied, weil der Vater ihm eine Corpszugehörigkeit untersagt hat.
In seiner Biographie über die Jugend des Kaisers hat John H. G. Röhl errechnet, daß sich unter den Konkneipanten der Borussia von 1871 bis zum Ausbruch des ersten Weltkrieges 44 Fürsten, Herzöge und Prinzen, 99 Grafen und 84 Freiherrn beziehungsweise Barone finden, Katholiken sind kaum, Juden überhaupt nicht vertreten. Da ele Generäle, Staatssekretäre und Abgeordnete von Reichstag wie Preußischem Herrenhaus aus ihr hervorgehen, bezeichnet Kessler, ein großer Tagebuchschreiber vor dem Herrn, diese Borussia einmal als ein »Stück der deutschen oder wenigstens der preußischen Verfassung«.
Die Freunde Kessler und Bodenhausen verbindet mehr als die gemeinsame Zeit bei den Borussen in Bonn: Beide denken über die Grenzen Deutschlands hinaus, denn sie haben angelsächsische Mütter- die Kesslers stammt aus dem angloirischen Adel, jene Bodenhausens aus einer amerikanischen Gelehrtenfamilie; beide gehen von Bonn nach Leipzig und gehören dort der vornehmen Adelsverbindung der »Canitzer« an; beide zeigen sich schon als Studenten von Nietzsches Thesen über die Bedeutung der Kunst für das Leben begeistert, und beide sind führende Mitglieder der PAN-Genossenschaft, deren Zeitschrift allein schon ein Programm darstellt.
Auf Bütten gedruckt und mit einem Signet von Franz Stuck versehen, mit Kunstbeilagen und Illustrationen von Böcklin, Klinger sowie Liebermann ausgestattet und buchkünstlerisch aufwendig gestaltet, steht die »freie Kunstzeitschrift PAN« für Jugendstil, auch wenn sie für andere Kunstrichtungen wie Symbolismus oder Impressionismus bewußt offenbleiben will. Kessler-Biograph Peter Grupp nennt sie die »repräsentativste deutsche Kunstzeitschrift der Jahrhundertwende«.

Die PAN-Genossenschaft ist aus einem Boheme-Kreis in der Berliner Kneipe »Schwarzes Ferkel« um den Schriftsteller Otto Julius Bierbaum und den Kunstkritiker und späteren Kunsthändler Otto Meier-Graefe hervorgegangen, und die Bohemiens verstehen es bestens, sich der vorzüglichen Verbindungen ihrer aristokratischen Mitglieder zu Wirtschaft, Gesellschaft und zum Hofe zu bedienen. Kessler wie Bodenhausen rühren die Werbetrommel, gewinnen Aristokraten und Großbürger als Förderer, Mitglieder und Abonnenten, darunter Walter Rathenau, über den Kessler in den zwanziger Jahren eine Biographie schreiben wird. Zum Aufsichtsrat der PAN-Genossenschaft gehört auch Max Liebermann, mit dem Kessler später in Weimar den Allgemeinen Deutschen Künstlerbund gründen wird. In seine PAN-Zeit fällt Kesslers Entwicklung zum großen Vermittler zwischen den Welten der modernen Kunst und der gesellschaftlichen Elite, zum wahrscheinlich bedeutendsten und erfolgreichsten Kulturmanager seiner Zeit, der er nach heutigen Begriffen unstreitig gewesen ist. Nur sein großes Engagement für den »PAN«, zu dessen Mitherausgeber er schließlich avanciert, hat ihm bei Künstlern, Literaten und Kunstkritikern jenes Maß an persönlicher Anerkennung und Vertrauen beschert, ohne das seine Rolle als genialer Anreger und einflußreicher Kulturagent undenkbar gewesen wäre.
Sein Einsatz für »PAN«, und damit schließt sich der Kreis der einzelnen Netzwerke, welche die Entstehung des Neuen Weimar möglich machen, vermittelt auch erste Kontakte zu Elisabeth Förster-Nietzsche und Henry van de Vclde. Von der Schwester des Philosophen erbittet er die Zustimmung zur Publikation von »Nietzsches musikalischen Worten« im »PAN«. Seither verbindet beide ein enges Verhältnis, das auch spätere politische Meinungsdifferenzen überdauern wird.

Den belgischen Maler, Designer, Kunsthandwerker und Architekten, der von sich sagt, er sei vom Dämon der Linie besessen, lernt er über Bodenhausen kennen, der ihn 1897 im Brüsseler Vorort Uccle besucht hat. Kessler zeigt sich von van de Veldes Ideen so begeistert, daß er ihm sofort die gesamte Einrichtung seiner Wohnung im Berliner Westen überträgt. Er führt ihn in die Berliner Salons ein, verschafft ihm Aufträge, beteiligt sich mit Bodenhausen an van de Veldes »Werkstätten für angewandte Kunst« und überredet ihn schließlich zum Umzug nach Berlin. Weil der quirlige, von Ideen übersprudelnde und gesellschaftlich ehrgeizige Kessler ele Tees, Frühstücke und Diners gibt, wird seine Wohnung in der Köthener Straße zu einer Art Möbel-Musterschau, im Urteil Peter Grupps zum »wahren Repräsentationssalon der Arbeiten des Künstlers«.
In Berlin lernt van de Velde auch erstmals Elisabeth Förster-Nietzsche kennen, die ihn einlädt, am Todestag Nietzsches mit ihr eine Wallfahrt nach Roecken zum Grab des Bruders zu unternehmen. Da der belgische Kunsthandwerker und Illustrator Nietzsche als einen »der größten und mutigsten Denker aller Zeiten« verehrt, kostet es Kessler keine Mühe, ihn für den Buchschmuck einer Prachtausgabe des »Zarathustra« zu gewinnen, die er herausgeben will. Bald verbindet van de Velde Freundschaft mit der Schwester Nietzsches. Geradezu leidenschaftlich, schreibt er rückblickend in seiner Autobiographie, habe sie sich während seiner Weimarer Jahre für sein Schaffen eingesetzt, seine Sache beharrlich verteidigt und nach dem Krieg auf seine Rückkehr nach Weimar gehofft.
So erstaunlich das aus heutiger Sicht auch erscheinen mag: Das Dritte oder das Neue Weimar Kesslers und die Kultstätte für Nietzsche, jenes Weimarer Gegenbayreuth, von dem die Herrin der Villa Silberblick als ewige Rivalin Cosima Wagners träumt, sind zunächst durchaus kein Gegensatz. Zwar zimmert »Zarathustras Schwester« schon damals am Mythos des Bruders auf ihre Art, aber noch ist sie der breiten Öffentlichkeit nicht als die große Fälscherin des »Willens zur Macht« bekannt. Vielmehr sonnt sich Elisabeth Förster-Nietzsche in der Popularität, welche die Werke ihres Bruders bei der intellektuellen Avantgarde Europas genießen, und nutzt sie geschickt für ihre Ziele. Kessler und van de Velde wiederum unterstützen sie bei der Verbreitung von Nietzsches Werken, weil sie in dem Philosophen vor allem den Erzieher zum neuen Menschen, den Europäer und unbarmherzigen Kritiker des Wilhelminismus sehen.

Der erste Anstoß zur Berufung van de Veldes nach Weimar geht denn auch unstreitig von Elisabeth Förster-Nietzsche aus. Sie vermisse, schreibt sie Kessler im März 1901, daß »die »allergeringsten Gebrauchsgegenstände nach guten, künstlerischen Prinzipien hergestellt werden«, und wünscht sich für die elen Glasbläsereien, Porzellanfabriken und Töpfereien des Großherzogtums Modellwerkstätten, die unter der Leitung eines hervorragendes Künstlers wie van de Velde stehen sollten. Natürlich erhofft sie sich von der Anwesenheit des renommierten Künstlers auch eine Aufwertung ihres Archivs. An Elisabeths Teetisch, wo sie ihre politischen und gesellschaftlichen Fäden spinnt, bespricht sie mit Kessler dann im August 1901 im Detail, wie beide ihre Beziehungen spielen lassen können, um jenen großen Plan zu verwirklichen, der für das kleine Weimar einer personalpolitischen Verschwörung gleichkommt. Für Kessler geht es ja darum, die kulturellen Schlüsselpositionen im Großherzogtum in die Hand zu bekommen, und um das zu erreichen, ventiliert er sogar die Möglichkeit, seinen Freund Bodenhausen als Privatsekretär des Großherzogs zu bestellen, doch der heuert bald bei Krupp in Essen als Direktor an und wird damit für Weimar unbezahlbar.
Nach einem Diner mit dem Großherzog, der ihn prompt auf diesen seinen Corpsbruder Bodenhausen anspricht, fällt dann die positive Entscheidung: Gegen ein Jahresgehalt von sechstausend Mark wird van de Velde zum 1. April 1902 mit dem recht allgemein gehaltenen Auftrag nach Weimar berufen, das Gewerbe und Kunstgewerbe im Lande durch künstlerische Beratung auf ein höheres Niveau zu heben. Sein Freund und großer Förderer Kessler, dessen Bemühungen um Aufnahme in den Auswärtigen Dienst inzwischen endgültig gescheitert sind, folgt ihm im Oktober nach - als ehrenamtlicher Vorsitzender des Kuratoriums des Großherzoglichen Museums für Kunst und Kunstgewerbe. Beider Anfänge in Weimar sind also bescheiden und stehen im Gegensatz zu den kühnen Plänen, mit denen sie an die Um kommen. Offen zielt Kessler auf die Oberleitung in Kunstfragen, die alle kulturellen Aktitäten im Großherzogtum aufeinander abstimmen soll, erhofft für sich also die Rolle eines heimlichen Kultusministers; und van de Velde versteht Weimar als großes Laboratorium, in dem er sämtliche Aspekte der Jugendstilkunst wie in einem Orchester zusammenfassen kann. Für die Weimarer Regierung dagegen steht, wie Alexandre Kostka herausgearbeitet hat, der wirtschaftliche Nutzen im Vordergrund.

Sicher spielt die Konkurrenz zur Darmstädter Mathildenhöhe eine Rolle, wo Großherzog Ernst Ludwig von Hessen Künstler ihre eigenen Häuser bauen und ausstellen läßt. Der Fürst von Hessen und bei Rhein erhofft von der Erneuerung aller Zweige der Kunst durch eine besondere Richtung des Jugendstils eine Ankurbelung der heimischen Wirtschaft. Ahnlich colbertistisch im Ansatz, glaubt auch der zuständige Weimarer Staatsminister Rothe, daß durch van de Velde vermitteltes Design den Absatz des Kunsthandwerks fördern und das Steuersäckel des Fürstentums füllen werde. Um diesen Erwartungen entgegenzukommen, weist Kessler in den Verhandlungen, die seiner Bestallung vorausgehen, immer wieder af den »Lehrwert« hin, den sein Museum für Kunst und Kunstgewer » für die heimische Industrie und das Handwerk haben werde.
Die hochfliegenden Pläne in den Köpfen freilich bleiben. Schon halb auf dem Absprung nach Weimar, schreibt er dem Freund, den er als den großen Künstler des Rhythmus preist: »Wir werden aufbauen, was uns vorschwebt: eine klare, gesunde, stärkende und produktive Lehre.« Und rückschauend meint er im Exil auf Mallorca 1934, beide hätten damals an nichts Geringeres gedacht, »als sage und schreibe Germanien in ein modernes Kunstland zu verwandeln, oder elmehr in den Mittelpunkt einer neuen Wcltkunst zu rücken«. Der Bruch mit einer Regierung und mit großherzoglichen Hofchargen, die Handfestes erwarten, nur ja keine kulturelle Revolution, scheint damit von Anfang an vorprogrammiert.
Zunächst jedoch herrschen Harmonie und Aufbruchstimmung. Alles sieht danach aus, als ob das Neue Weimar die kulturelle Hegemonie über die konservativen Barden Lienhard, Bartels und Wachler erringen könnte. Van de Velde erhält den Auftrag, das Tafelsilber für die Vermählung des großherzoglichen Paares zu fertigen, und wird mit dem Titel eines Professors ausgezeichnet, den freilich 1903 auch sein späterer Gegner Paul Schultze-Naumburg und 1905 der rabiate Antisemit Bartels erhalten. Zum Wahrzeichen des neuen Geistes wird das von van de Velde umgebaute, im Oktober 1903 wiedereröffnete Nietzsche-Archiv, welches bis heute als eines der gelungensten Beispiele für den neuen Stil des belgischen Meisters steht.
Van de Velde hat die elen Zimmer im Erdgeschoß in einen großen, lichtdurchfluteten Empfangssaal verwandelt; das geschwungene, Mobiliar mit der sanftroten, erdbeerfarbenen Polsterung zeigt ihn auf der Höhe seines Schaffens. Barocke Überspitzungen der Jugendzeit sind zurückgenommen und durch schlichte, elegante Linienführung ersetzt. Der Blick des Besuchers wird durch eine große Marmorstele Nietzsches am Ende des Saals gefangen, die Max Klinger im Auftrag und auf Rechnung Kesslers gefertigt hat. Für die Finanzierung des Umbaus hat der Graf seinen Freund, Mitbegründer des Insel-Verlags und Bremer Mäzen Walter Heymel gewonnen, der die damals horrende Summe von fünfzigtausend Mark als Hypothek zur Verfügung stellt. Erst später folgen die Bauten der Kunst- und Kunstgewerbeschule, architektonische Meistcrleistungen van de Veldes, die 1919 zur Herberge des Bauhauses werden.

Sein Kunstgewerbliches Seminar, mit dem er beginnt und das zunächst als Beratungsstelle für bessere Produktgestaltung gedacht ist, rühmt er bald als die »fortschrittlichste Zitadelle der neuen künstlerischen Prinzipien«, auf der er die Fahne des Aufstands gegen den tradierten Kunstgeschmack hißt.

Angefangen hat der junge van de Velde einst als Maler, bis er unter den Einfluß von William Morris, des Erneuerers des britischen Kunstgewerbes, und des Oxforder Kunsthistorikers John Ruskin geriet, der äußere Schönheit als Entsprechung einer schönen Seele verstand und den schöpferischen Wert des Handwerks predigte. Sie und das Beispiel der englischen Arts-and-Crafts-ßewegung bringen ihn dazu, sich ganz für die angewandte Kunst, das Kunsthandwerk und die Architektur zu entscheiden. Seither erstrebt van de Velde eine Renaissance des Kunsthandwerks durch die ästhetische Erziehung des Gewerbes. Jedes seiner Möbel hat nach seiner Überzeugung Modellcharakter, weil es durch »die Reinheit seiner inspirativen Herkunft« in die Nähe des »Typus« gelange.
Ist er damit ein Vorläufer des Bauhaus-Funktionalismus, wenn auch gebremst durch die Leidenschaft zur Kraft der Linien und die Liebe zum Ornament? Bei seinen Möbelentwürfen geht er davon aus, »daß es nur eine vollkommene Konstruktion, nur eine vollkommene Struktur« gibt, daß nur eine einzige Lösung seine Anforderungen an ein bestimmtes Stück befriedigen kann. Den Virus der Häßlichkeit und die Verseuchung, die von diesem ausgeht, will er mit der einzigen Waffe bekämpfen, die der Menschheit seiner Meinung nach dafür gegeben ist: einer Gestaltung nach den Prinzipien der Vernunft. Van de Velde wird zum Universalkünstler. Kunst und Leben sollen harmonieren und einander durchdringen, die Asthetik der Gebrauchswelt, Architektur, Möbel und Dekorationen haben bis hin zu Teekanne, Teller und Besteck ein und demselben Prinzip zu folgen.
Redlich müht er sich in seinem Kunstgeweblichen Seminar, den Verpflichtungen des Anstellungsvertrags nachzukommen und den Geschmack der Handwerker zu heben. Großherzoginmutter Pauline zeigt für seine Arbeit besonderes Interesse; im Vierspänner reist sie mit ihm über Land, um ihn bei Kunsthandwerkern und Fabrikdirektoren einzuführen.

Das Erscheinen der offiziellen Kavalkade mit dem uniformierten Oberstallmeister an der Spitze flößt den braven Handwerkern Respekt vor dem Fremdling ein. Van de Velde fördert den Zusammenschluß der Korbmacher, die um ihre Existenz kämpfen, zu Genossenschaften; als bescheidenen Erfolg seiner Anstrengungen darf er verbuchen, daß die Korbmöbel, welche in Tannroda nach seinen Entwürfen gefertigt werden, in Berlin reißenden Absatz finden. Doch spürt er sehr bald, daß für eine tiefergreifende Verbesserung der Produktkultur Seminare allein nicht genügen, sondern eine künstlerische Ausbildung der Entwerfer in eigens dafür eingerichteten Lehrstätten vonnöten ist. So entsteht 1907, was den Ruf des modernen Weimar in ganz Deutschland begründen soll: die großherzogliche Kunstgewerbeschule mit ihren elen Werkstätten - den für Goldschmiedearbeiten und Emailbrennerei, Keramik und Buchbinderei, Metallarbeit und Ziselierkunst, den Ateliers für Weben, Sticken und Teppichknüpfen, nicht zu vergessen jenes für Gestaltungslehre, welche alle Einzelfächer übergreift und auf einen Stil verpflichten soll. Damit schafft er wesentliche Elemente, die Gropius für das Bauhaus nutzen wird.
Doch geradezu sensationellen Auftrieb im verschlafenen Weimar erhält die Sache der Moderne durch die Ausstellungen und Vorträge, die sein Freund Kessler organisiert - laut van de Velde »der eigentliche Urheber jenes Experiments, das in Weimar zu einer künstlerischen und geistigen Erneuerung führen sollte«. Der neue, ehrenamtliche Museumschef zeigt Klinger, danach werden französische Impressionisten und Pointillisten, Kandinsky und Nolde, Renoir und Rodin präsentiert, 1905 dann neben Monet auch Gauguin, der mit seinen Süd-see-Motivcn indes auf offene Ablehnung durch konservative Kreise stößt. Zwar sei in der kleinen Stadt und bei Hofe alles von Intrigen und Arriertheit beherrscht, notiert Kessler in seinem Tagebuch, aber die Kreise, auf die es ankommt, lassen ihn anfangs gewähren oder unterstützen ihn gar.

Von Kessler inspiriert, erwirbt die kunstverständige Großherzogin Caroline eine Rodin-Skulptur. Nicht nur, daß van de Velde durch seine Bauten Weimar in eine Hochburg des Neuen Stils verwandeln soll, Kessler denkt auch, alljährlich zwanzig Köpfe der geistigen Elite Deutschlands und Europas zu versammeln, die »aus Weimar 15 Tage lang einen Hof der Renaissance machen« sollen. Zwar wird er diese Idee nicht mehr in die Tat umsetzen können. Aber er verpflichtet Künstler und Schriftsteller von europäischem Rang zu Vorträgen, in denen sie den Hof auf sein Neues Weimar einschwören sollen. Der belgische Maler Theo van Rysselsberg, ein Freund van de Veldes kommt, Gerhart Hauptmann, Richard Dehmel und Rainer Maria Rilke lesen aus ihren Werken, Hugo von Hofmannsthal trägt aus seinem »Kleinen Welttheater« vor.
Meist finden die Veranstaltungen bei der Herzoginmutter Pauline in deren Wohnsitz Belvedere statt. »Über den Durchschnitt groß, elegant in der Haltung, die gut proportionierten Glieder in einem engen schwarzen Anzug von strengem Schnitt, wie ihn anglikanische Priester zu tragen pflegen« - so beschreibt Henry van de Velde den Besucher Andre Gide und zeigt sich von seinem langen, schwarzen Schnurrbart beeindruckt, dessen Fransen über die Lippen fielen. Hat Gide seinen Vortrag »De l'importance du public« (»Über die Bedeutung der Öffentlichkeit«) im Auftrag Kesslers so konzipiert, daß die Erben des klassischen Weimar ihre Verpflichtungen gegen ihn und van de Velde endlich besser verstehen und würdigen? Elitekünstler, so der französische Schriftsteller im August 1903 am Weimarer Hof, brauchen ein Elitepublikum, das nicht im tradierten Geschmack verhaftet ist. Gides ideale Öffentlichkeit darf nicht hungrig, sie muß kultiert sein und vor allem - klein: »Eine kleine Schar war das Publikum Peri-kles', die »honnetes gens< um Ludwig den Vierzehnten, die edlen Italiener der Renaissance, und die Großen des Weimarer Hofs.«
Was der Autor des Romans »L'Immoraliste« vorträgt, der Nietzsche bewundert und die rauschhafte Liebe zum Leben verklärt, entspricht ganz dem elitären Ansatz des Grafen Kessler, der im schlechten Geschmack der unteren Stände lediglich ein Spiegelbild sieht: »Sie gucken es sich ab von den oberen Ständen Die einzige Art, sie [die unteren Stände] zu leiten, ist, das Vorbild zu verbessern.«

Hat er das Beispiel der Fürstenerziehung vor Augen, wie sein Biograph Burkhard Stenzel vermutet? Daß Kessler, anders als der Hamburger Museumsdirektor Lichtwark, nicht auf Erziehung in der Breite, sondern ausschließlich auf jene der Eliten setzt, macht seine besondere Verwundbarkeit aus. Wenn er die tonangebenden Kreise des Großherzogtums mit seinem gesellschaftlichen Gharme einige wenige Jahre geschickt in Richtung Moderne manipuliert, kann dies nur mit Billigung des Regenten geschehen. Er unterschätzt die Gefahr, daß die Hofchargen auf einen Wink des launischen Referenten den Kurs abrupt um hundertachtzig Grad ändern und zu erklärten Gegnern werden können. Burkhard Stenzel bringt dies auf die Formel, die beabsichtigte umfassende Erneuerung durch den »Weimarer Kreis« um Kessler und van de Velde, dieser »widersprüchliche Reformversuch der Moderne«, sei »ohne Berücksichtigung der Trennung von Macht und Geist im Kaiserreich erfolgt« und daran letztlich gescheitert.

Seinen unverwüstlichen Charme eines umfassend gebildeten, vollkommenen Gentleman verdankt Kessler seiner Mutter Alice Harriet Blosse Lynch. Sie stammt aus altem angloirischen Adel, der sich voller Stolz auf Wilhelm den Eroberer zurückführt, und zählt - so Peter Grupp - auch Verwandte des persischen Herrscherhauses zu ihren Vorfahren. Wie Söhne besonders schöner und dominierender Mütter häu, hat auch Kessler Schwierigkeiten mit dem anderen Geschlecht. Die strahlende, vollkommene Schönheit der Alice Kessler verzaubert selbst den alten Wilhelm, als er, noch König von Preußen, ihr 1870 vor Erhalt der berühmtem Emser Depesche auf der Kurpromenade begegnet. Sie trägt ein »allerliebstes türkisblaues Kleid, ein Meisterwerk von Rodrigues, dem damaligen großen Pariser Modeschneider«, beschreibt der Sohn diese Episode in seinen »Gesichter und Zeiten«, dazu einen weichen, grauen, mit blauer Straußenfeder garnierten Filzhut, wie er bei Reitern zu Wallenstcins oder Cromwells Zeiten üblich war. Der König geht auf sie zu, macht Komplimente und sagt sich einige Tage darauf zum Besuch bei ihr an. 1877 wird er Pate von Harrys Schwester Wilma, 1879 erhebt er Vater Adolf Kessler, einen erfolgreichen Hamburger Kaufmann und Bankier aus altem Schweizer Patriziergeschlecht, in den erblichen Adelsstand. Auf Kaiser Wilhelms Bitte schafft Fürst Heinrich XIV. Reuß jüngere Linie, Herr über nur 827 Quadratkilometer Boden und knappe hundertfünfzigtausend Untertanen, für Kessler und seine leiblichen Nachkommen 1881 gar das erste und einzige reußische Grafenhaus.

Um el mehr als eine harmlose Großvater-Enkelin-Beziehung zwischen der schönen Alice, Jahrgang 1852, und dem greisen Hohen-zollern-Herrscher, Jahrgang 1797, wird es sich kaum gehandelt haben. Der Altersabstand beträgt immerhin fünfundfünfzig Jahre. Und doch hält sich hartnäckig das pikante Gerücht, Harry Graf Kessler sei ein illegitimer Onkel ausgerechnet jenes Mannes, der zu seinem wichtigsten Gegner in der Auseinandersetzung um den Kunstgeschmack in Deutschland werden soll - von Wilhelm II. Kessler selbst spricht von bösartiger Verleumdung und muß sich gegen derlei süffisante Unterstellung immer wieder zur Wehr setzen. Von einem anrüchigen Hauch umweht, wird der junge Grafentitel im preußischen Berlin eher belächelt denn ernst genommen, eine Tatsache, welche die Weigerung der Wilhelmstraße wohl beeinflußt hat, Kessler trotz glänzender juristischer Examen und perfekter Sprachkenntnisse im Englischen wie Französischen die Aufnahme in den diplomatischen Dienst zu verweigern. Die definitive Absage wird ihm im Frühjahr 1902 mitgeteilt. So kommt es, daß der erunddreißigjährige nach einer anderen Lebensaufgabe sucht und zum Glücksfall für Weimar wird.
Weiße Schleiflackmöbel, Frauengestalten Maillols in Glastrinen, Skulpturen von Rodin, Gemälde von van Gogh, Edvard Munch und den bedeutendsten französischen Impressionisten und Ncoimpressio-nisten - so erinnern Besucher die Wohnung Harry Graf Kesslers in der Cranachstraße 15, die van de Velde für den Freund eingerichtet hat. Nichts haftet diesem Salon von der typischen deutschen Gemütlichkeit an, schreibt Helene von Nostitz, sondern el vom »Geist der Unrast, der Vielheit, des Umspannenden«, der auch im Weimar Goethes lebte und der »fälschlich jetzt oft eine enge deutsche Farbe erhält«. Hier verkehren Literaten, Musiker und Schauspieler, Andre Gide und der norwegische Maler Edvard Munch, Rainer Maria Rilke und Hugo von Hofmannsthal, der dem Hausherrn das Libretto zum »Rosenkavalier« widmet, weil Kessler daran mitgearbeitet hat. Ein wenig Dandy, ein wenig Snob, so bannt ihn Munch 1906 in Weimar auf die Leinwand: hochaufgeschossen, schlank und auf den Spazierstock gelehnt, die Kleidung erlesen und comme il faut, kühler, scharfer und sehr selbstbewußter Blick, das lange, schmale Gesicht mit dem dicken schwarzem Schnurrbart unter einem breitkrempigen Sonnenhut.

Den Kunstsinn wie das Weltmännische hat Kessler schon mit der Muttermilch eingesogen. Alice Kessler, begabte Sängerin und passionierte Laienschauspielerin, baute sich in jenem Pariser Haus, in dem Harry 1868 das Licht der Welt erblickt, ein eigenes kleines Theater ein. Erzogen in Frankreich, im britischen Ascot und am renommierten Hamburger Johanneum, reist der junge Kavalier nach Abschluß seines Studiums um die Welt - über die USA nach Japan, China, Indien und Agypten und von dort nach Deutschland zurück. Mit dem Tod des Vaters erbt er 1895 ein riesiges Vermögen, das ihn unabhängig macht und die Rolle des Mäzens erlaubt.
Aber Vorsicht - der Kessler des Neuen Weimar vor dem Krieg ist keineswegs mit dem des Roten Grafen identisch. Der tritt nach 1918 für die Republik ein, lernt als Reichstagskandidat der Deutschen Demokratischen Partei 1924 die »ranzige Atmosphäre« ostwestfälischer Kleinstädte ertragen und entwirft das Programm eines »Wahren Völkerbunds«, der von Vertretern von Hand- und Kopfarbeitern aller Nationen zu bilden ist. Der Kessler der Vorkriegszeit denkt bei aller Weltoffenheit national, auch und gerade wenn er entschlossen für den Anschluß des eigenen Volkes an den westlichen Kunststandard kämpft. Ein guter Deutscher und guter Europäer zu sein, sind für ihn keine Gegensätze. Kessler bezeichnet sich 1888 gar als einen conservative at beart. Er reitet Parforcejagden in Anwesenheit des Kaisers, läßt sich bei Hofe einführen und dient bei den vornehmen 3. Garde-Ulanen in Potsdam. Dort bringt er es zum Rittmeister der Reserve und findet soel Gefallen am militärischen Milieu, daß er in Zeiten persönlicher Krisen sich immer wieder zum Regiment begibt und die Nähe der Offizierskameraden sucht.
Kein Zweifel: Seine Opposition gegen den Wilhelminismus ist vorwiegend ästhetischer Natur, sie richtet sich nicht gegen das hierarchische oder gesellschaftliche System, sondern gegen den Kunstgeschmack des Herrschers. Wilhelm II. hat ein durch und durch politisches Verständnis von Kunst. Er verlangt nach Werken, die durch ihre Schönheit und Harmonie erzieherisch auf die unteren Stände wirken, nach einer »Kunst dem Volk« ä la Hohenzollern, die Vaterlandsliebe, Pflichterfüllung und Respekt vor der Dynastie bestärkt. Und das kann Kunst nur, meint der Kaiser, wenn sie den Betrachter durch die Pflege von Idealen erhebt, statt »daß sie in den Rinnstein niedersteigt« wie der Naturalismus, den er erbittert bekämpft, weil er eine scheußliche Welt angeblich noch scheußlicher macht.
Aber auch den Impressionismus fürchtet er, und der amerikanische Kunsthistoriker Peter Paret nennt auch den Grund dafür: ein instinktives Gefühl, daß die Moderne, selbst wenn sie unpolitisch ist, »Zweifel an der Gültigkeit des allgemein Anerkannten, des Gebräuchlichen, nicht nur in der Kunst, weckte und die Möglichkeit radikaler Veränderungen in Aussicht stellte«.

Selbstredend steht des Kaisers Kunstauffassung dem Geschmack des Volkes näher als die Kesslers, nach dessen Glaubensbekenntnis in der Kunst nur die Ausnahme wertvoll ist. Als auf des Kaisers Geheiß Künstler der Münchner und Berliner Sezessionen für die Weltausstellung in St. Louis nicht genügend berücksichtigt werden, formiert sich dank Kesslers Verhandlungsgeschick 1903 in Weimar ein Kampfbund gegen die offiziöse preußische Kunstpolitik: der Allgemeine Deutsche Künstlerbund, in dem sich Vertreter der verschiedenen Sezessionen zusammenschließen. Präsident wird Leopold Graf Kalckrcuth, das langjährige Haupt der Karlsruher Sezession, zu den Vizepräsidenten zählen Max Liebermann und Max Klinger, die Leitungsvollmacht aber liegt bei dem geschäftsführenden Vizepräsidenten Kessler, der die Aktitäten des Bundes von seinem Museum aus lenkt. Bodenhausen wird Schriftführer, van de Velde ist im Vorstand vertreten. Als Ziel proklamiert Kessler den kunstneutralen Staat, der keinen Einfluß auf Kunst oder Künstler ausübt, sondern ihnen völlige Freiheit der Gestaltung und Entwicklung läßt.
Kaum wird ruchbar, daß der Reichstag die fragwürdigen Auswahlkriterien für St. Louis während der Budgetdebatte aufgreifen wird, eilt Kessler nach Berlin, um dem Angriff gegen die preußische Hofästhetik die nötige Stoßkraft zu verleihen. Sprecher der Freisinnigen, Nationalliberalen und des Zentrums werden von ihm beraten und mit Material versorgt - nicht jedoch die Sozialdemokraten, die für ihn, damals noch ganz im aristokratisch-elitären Denken verhaftet, die Masse mit all ihren Gefahren repräsentieren. Was das »Berliner Tageblatt« dann als einen »großen parlamentarischen Tag« bezeichnet, wird zum Scherbengericht über die Geschmacksdiktatur der kaiserlichen Majestät. Selbst die Londoner »Times« nimmt sich der Auseinandersetzung an und rühmt eine bemerkenswerte Einmütigkeit quer durch die Parteien. Nationalliberale Redner sind mit Radikalen und Sozialisten plötzlich einig in der Kritik am »obersten Kunstherrn«; selbst der Freikonservative Wilhelm von Kardorff aus Mecklenburg setzt sich vehement für die künstlerische Freiheit ein: » wie die Geschmacksrichtung selbst von den allcrgenialstcn Herrschern unter Umständen fehlgegangen ist, dafür erinnere ich nur an das Urteil Friedrichs des Großen über Shakespeare.«

Im Urteil der öffentlichen Meinung hat die Sache des Künstlerbunds einen glanzvollen Sieg errungen, ein Triumph, der Kessler in gefährliche Illusionen wiegt. Noch 1905 wähnt er sich nahezu unangreifbar, wenn er in seinem Tagebuch vermerkt: »Niemand anders in Deutschland hat eine so starke, nach so elen Seiten reichende Stellung. Diese auszunutzen im Dienste einer Erneuerung Deutscher Kultur: mirage oder Möglichkeit?«
Er macht seine Rechnung ohne Wilhelm IL, der seine Aktitäten in Weimar seit langem argwöhnisch verfolgt, zumal der preußische Gesandte Felix von Müller mit kritischen Berichten nicht spart. Als er nach seinem Antrittsbesuch beim Großherzog nach Berlin meldet, Wilhelm Ernst habe lebhaftes Interesse an den kunstgewerblichen Bestrebungen van de Veldes und eine unverkennbare »Vorliebe für die moderne Richtung« geäußert, kritzelt Wilhelm »ultramoderner Unsinn« und »abscheulich!« an den Rand des Berichts. Im Künstlerbund vermutet der Gesandte völlig zu Recht eine »Opposition gegen die von unserer Regierung begünstigte Richtung«, worauf ihm der Kaiser im Gespräch versichert, er werde dies Kessler nie vergessen: »Er soll noch denken an mich in meinem Leben.«

Seine erbitterte Ablehnung van de Veldes ist kein Geheimnis, seit er auf der Düsseldorfer Industrie-Ausstellung 1902 vor dem Salon des Belgiers mit den Worten kehrtmachte: »Nein, meine Herren, ich verzichte darauf, seekrank zu werden.« Er spielte damit auf den Begriff der »Wellenlinien« an, der in Kritiken über Arbeiten des belgischen Künstlers immer wieder eine Rolle spielt. »Das Gefolge trat beiseite, um den Kaiser vorbeizulassen, der mit triumphierender Geste den Arm hob. Unter den Herren in Frack und Uniform entstand Betroffenheit und einige Unordnung« - so beschreibt van de Velde den kaiserlichen Affront in seinen Memoiren. »Ich befand mich mitten unter ihnen, blaß vor Wut, beleidigt, von einem heimtückischen Hieb getroffen, gegen den ich mich nicht wehren konnte. Der Zug ging weiter. Gedemütigt blieb ich allein zurück. Ich brauchte einige Zeit, um mich von der Beleidigung zu erholen. Und von der Erkenntnis, daß niemand aus dem Gefolge oder der Menge gewagt hatte, mir die Hand zu reichen, hätte er es auch von Herzen gewünscht.«

Kessler verläßt sich auf die Unterstützung des Großherzogs, jenes jungen Fürsten aus dem »edlen Geschlecht der Wettiner«, den er in einem Aufsatz über den Künstlerbund als einen Förderer moderner Kunstbestrebungen, ja als kulturpolitisches Vorbild preist, gegen den Kaiser aufbaut und in Stellung bringt. Zwar weiß er genau, wie schwer es Wilhelm Ernst fällt, gewisse moderne Maler zu verstehen und zu schätzen. In seinem Tagebuch bescheinigt er dem Herrscher gelegentlich sogar Schwachsinn; als er von ihm fallengelassen wird, schreibt er von einer »fast pathologischen inneren Roheit, die keine Erziehung oder Erfahrung beheben kann«. Aber bis zum Bruch glaubt er an die Ehrenhaftigkeit Wilhelm Ernsts und meint, ihn durch persönlichen Gharme und Verhandlungsgeschick auf dem einmal eingeschlagenen Kurs zu halten, genauer: ihn weiterhin als einen Förderer moderner Kunst manipulieren zu können. Doch bewegt sich Kessler damit auf äußerst dünnem Eis. Denn dieser Weimarer Regent, in Fragen der Künste ebenso unsicher wie ungebildet und deshalb beeinflußbar, ist auch anderen Einflüsterungen offen, wie sich nur zu bald zeigen wird.
Als die Großherzogin 1905 einer Lungenentzündung erliegt, verlieren van de Velde und Kessler ihre wichtigste Stütze am Weimarer Hof. Daß sie in dieser Ehe mit einem Rabiaticus zutiefst unglücklich war und sie deshalb stets Selbstmordgedanken verfolgten, haben in Weimar die Spatzen von den Dächern gepfiffen. Nun sagt die Fama, die fiebrige Caroline habe mit einem langen Ritt durch verschneite Wälder bei eisiger Kälte bewußt den Tod gesucht, weil sie die grobe Behandlung durch den Gemahl nicht verwinden konnte. »Skandalöse Ereignisse«, schreibt van de Velde, »sollen sich in dem Leipziger Hotel abgespielt haben, in dem das junge Paar nach den [Hochzcits-]Fest-lichkeiten die Nacht verbrachte.«

Den Kunstgeschmack des Fürsten bestimmt nun vorwiegend Aimee Charles Vincent de Palezieux-Falconnct, seines Zeichens Oberhofmarschall, der in Weimarer Diensten steht, seit der Berliner Hof ihn 1870 als guten Tänzer, glänzenden Gesellschafter und hervorragenden Flügeladjutanten an Carl Alexander empfahl. Seine Impulsität ist gefürchtet, der Welschschweizer verwaltet die private Schatulle des Großherzogs und gilt als mächtigster Mann am Hof. Vor allem wünscht er keine Konflikte zwischen Weimar und Berlin, denn er steht im Rang eines preußischen Generalleutnants und verfügt über gute persönliche Beziehungen zu Wilhelm II. Seit Kessler im Museum für Kunst und Kunstgewerbe regiert, beklagt Palezieux die systematische Zerstörung seines Lebenswerks. Hat nicht er, der Kunstliebhaber Palezieux, jene Permanente Kunstausstellung begründet, über die nun der Graf aus Berlin nach eigenem Gusto verfügt? Veräußert der neue Herr nicht geradezu schamlos jene Bilder, die er einmal angekauft hat, nur um den Platz und die Mittel für den Erwerb französischer Impressionisten zu beschaffen? Hat der preußische Gesandte nicht recht, wenn er an diesem Grafen Kessler das Fehlen jeder »feineren Empfindung für die deutsche Eigenart« kritisiert? Die Intrige, die seinen Feind stürzen soll, ist feingesponnen. Und sie enthält all die gemeinen, bornierten, nicht zuletzt xenophoben Spießigkeiten, die so kennzeichnend sind für das mufe Krähwinkel eines Kotzebue.

Das Signal zum Halali auf Kessler kommt mit einem Leserbrief. Rodin hat dem Grafen einige aquarellierte Zeichnungen zukommen lassen - ein Dank für dessen Vermittlung der Ehrendoktorwürde, welche der französische Künstler von der Universität Jena erhalten hat und die er offenbar sehr zu schätzen weiß. Es handelt sich um leicht aufs Papier geworfene Aktskizzen, die im Januar 1906 ausgestellt werden. Ein Blatt hat Rodin mit einer Widmung an den Großherzog versehen. Nach Meinung van de Veldes gehören diese Zeichnungen »zum Schönsten und Eindrucksvollsten aus den Mappen des Rodinschen Ateliers«. Hans Behmer dagegen, Senior der Weimarer Maler und Professor an der Kunstschule, spricht in einem »Eingesandt« in der Weimarer Zeitung »Deutschland« von einem »Tiefstand der Sittlichkeit« und rückt die »ekelhaften« Rodin-Zeichnungen in die Nähe der Pornographie: Das Gebotene sei so anstößig, daß Frauen und Töchter die Ausstellung besser nicht besuchen sollten. Die Widmung an den Großherzog bezeichnet er als Schmach für alle Weimarer und beschließt seinen prüden Leserbrief mit einem gewaltig chaunistisch dröhnenden Pfui: »Möge der Franzose aus seinem Künstlerkloakenleben sich ins Fäustchen lachen, so etwas in Deutschland an den Mann gebracht zu haben; wir wollen uns das nicht ruhig gefallen lassen und rufen Pfui und tausendmal Pfui über den Urheber und seine Helfershelfer, die solche Abscheulichkeiten uns vor Augen stellen.«

Wichtigster Helfershelfer ist natürlich Harry Graf Kessler, und wenn dessen ärgster Feind Aimee de Palezieux-Falconnet den Herrn Kunstprofessor Behmer nicht selbst zu seinem »Eingesandt« angestiftet haben sollte, dann weiß er doch die Chance glänzend zu nutzen, die ihm damit geboten wird. Der Großherzog weilt auf Indienreise, in seiner Abwesenheit spielt sich sein Oberhofmarschall jetzt als Hüter der öffentlichen Sittlichkeit und Verteidiger der verletzten Ehre seines Herrn auf. Durch telegraphische Kommuniques unterrichtet er ihn über jede Phase des Skandals, veröffentlicht sie in Weimar und bläst damit die Kleinstadtposse erst zur Staatsaffäre auf. Kessler geht zum Gegenangriff über und beharrt darauf, daß der Großherzog durch sein persönliches Sekretariat die Schenkung Rodins angenommen habe. Damit wird er am Ende recht behalten, auch wenn der entsprechende Brief wegen des chronischen Schreibtischchaos in Kesslers elen Wohnungen lange Zeit unauffindbar ist und der Privatsekretär des Großherzogs sich partout nicht an ihn erinnern will. Was danach geschieht, liest sich wie ein Lore-Roman der gehobenen Stände im Wilhelminischen Deutschland:
Der Reserveoffizier der 3. Carde-Ulanen bespricht den Fall mit dem Ehrenrat seines Regiments und fordert den preußischen Generalleutnant zum Duell, doch der Oberhofmarschall nimmt die Forderung nicht an und informiert wider allen Comment das Ministerium des Großherzogtums. Bei einem Rundgang durch die dritte Ausstellung des Künstlerbunds verweigert der Großherzog Kessler demonstrativ den Gruß und spricht ihm damit sein allerhöchstes Mißfallen aus. Die Demission, die Kessler danach anbieten muß, wird ohne Bedauern angenommen, und Wilhelm II. kritzelt ein »Sehr erfreulich!« auf den Bericht seines Weimarer Gesandten.
Der ragende Pfeiler des Neuen Weimar ist damit eingestürzt. Zwar kostet Palezieux den Triumph aus und organisiert sein altes Museum neu, aber Kessler zerrt sein commentwidriges Verhalten vor Ehrengerichte. Als der Oberhofmarschall am 10. Februar 1910 stirbt, will die Fama wissen, er habe seinem Leben durch Arsen selbst ein Ende gesetzt. Ironischerweise sagt man Palezieux genauso wie Kessler nach, daß er ein illegitimer Sohn des alten Kaiser Wilhelm sei. Wäre es also zu dem Duell gekommen, hätte der Gesellschaftsklatsch des kaiserlichen Deutschland mit Sicherheit die Mär verbreitet, daß in Weimar zwei Halbbrüder als Rivalen mit der Waffe gegeneinander gestanden hätten.

Kessler behält zwar Weimar als Wohnsitz bei, bringt hier mehrere Monate des Jahres zu und ediert die bibliophilen Drucke seiner Granach-Presse. Aber die kulturelle Hegemonie, die er für sein Konzept des Dritten oder Neuen Weimar zu erringen hoffte, ist eindeutig dahin. Zum Teil hat er diese persönliche Niederlage mitverschuldet -durch die elen, oft monatclangen Reisen, die den Weltmann immer wieder nach Paris, London oder Italien führen und ihn daran hindern, seine Stellung in Weimar zu befestigen. So können seine Feinde behaupten, der Museumsdirektor habe zu ele andere Interessen. Wie sehr er diese Feinde in beinahe sträflichem Hochmut unterschätzt, geht aus einer Tagebuchnotiz hervor, die besagt: Diese »kleinen Spießbürger hier fangen an, sich wirklich wichtig zu nehmen, seitdem man ihnen so ele berühmte Leute zuführt.« Sein Biograph Peter Grupp jedenfalls sieht ihn auch als Opfer eigenen Wunschdenkens: Kessler habe nie »die Basis seiner Weimarer Stellung nüchtern analysiert«, sondern in falscher Einschätzung der Verhältnisse sein Spiel ständig überreizt.
Der Geist, der nach Kesslers Sturz Schritt für Schritt von Weimar Besitz ergreift, gleicht einem gefährlichen Gemisch, das sich aus einem politisch verfälschten Nietzschebild, aggressivem Rassenwahn, deutschtümelnder Innerlichkeit und einem programmatischen Bekenntnis zur Pronz als Heimat zusammensetzt. Mit seinen »Wegen nach Weimar« steht der Elsässer Friedrich Lienhard noch für das harmloseste Element dieses antimodernistischen Sprengsatzes tout Deutschtum und Lindenblütentee und Zuckerware«, wie sein Elsässischer Landsmannn Rene Schickele über ihn gespottet hat. Als Dichter und Dramatiker bevorzugt Lienhard deutsche Sagengestalten wie »Wieland den Schmied«, wie ele Grenzlanddeutsche neigt er zur Überbetonung und Verklärung alles Deutschen, und wie der späte Wildenbruch empfindet er Abscheu gegen die literarische Moderne und Berlin mit seinem »Literatengeschmeiß«.

Der Dorfschulmeistersohn aus dem elsässischen Rothbach wächst in pietistisch-protestantischer Atmosphäre auf. Der Vater wünscht, daß aus dem Sohn ein Pastor werde. Also studiert dieser Theologie in Berlin, entschließt sich dann jedoch zum Schriftstellerberuf und wird damit, wie er selbst es versteht, »ein geistiger Priester in unendlich höherem Sinn« - Priester einer neuen, nationalen Innerlichkeit. In Berlin schwimmt er gegen den Zeitgeist der Feuilletons, lehnt von ihnen gepriesene Autoren wie Ibsen, Zola oder Sudermann ab. Als erbitterter Feind des Naturalismus verdammt er Hauptmanns »Weber« als Armeleute-Literatur. Die moderne Großstadt wird ihm zum Trauma, zum Symbol für das Heraufdämmern eines seelenlosen, materialistisch verseuchten Zeitalters, das sich auf scheußlichste Art und Weise in der Kunst der Moderne widerspiegelt. Nicht Aufpeitscher der Sinnlichkeit brauche Deutschland, sondern Propheten des Idealismus und der Ehrfurcht: »Verflacht, versinnlicht, veräußerlicht, soel ihr wollt laßt eure Maschinen und Hämmer dröhnen, daß die Gebirge zittern und die Tiere des Waldes fliehen; laßt eure Fabriken rauchen, daß die Städte in Qualm zu ersticken drohen - ich sage Euch, den Idealismus werdet ihr nie und nimmer ersticken noch übertäuben.« Wenn er ein vermeintlich apolitisches deutsches Innerlichkeitsideal vertritt, macht ihn das beim protestantischen deutschen Bildungsbürger um so attraktiver: Seine Werke haben einen stolzen Absatz, allein sein Roman »Oberlin« wird einhundertzwanzigmal aufgelegt.
Heute springt manche Parallele zu dem Thomas Mann der »Betrachtungen eines Unpolitischen« ins Auge. Gegen I.iteratentum setzt der F.lsässer die heilige Dichtersendung, gegen Zilisation stellt er Kultur, gegen den formalistischen gallischen Geist die Tiefe der deutschen Seele - Stereotypen, die über Jahrzehnte das kulturelle Weitbild des deutschen Bürgers bestimmen und in der nationalsozialistischen Kulturproanda dann eine entscheidende Rolle spielen werden.
Zwar kommt der Alemanne Lienhard aus dem Westen, aber er ist kein Mann des Westens, ganz im Gegenteil: Liberalismus bedeutet ihm ein Graus, Demokratie den Vormarsch der Masse, Sozialismus die Herrschaft der Plebejer. Aus Berlin mit seinem »Dunstgewoge und Menschengedränge,« seinen »zerrütteten Nerven, Cafes, Boudoirs und Versammlungssälen« flieht er in die Einsamkeit des Thüringer Waldes und schreibt jenen programmatischen Artikel »Gegen die Vorherrschaft Berlins«, der für ele seiner Zeitgenossen den Anfang der reaktionär-nationalen Heimatkunst-Bewegung markiert. Und bei alledem versteht auch er sich als Opponent gegen den Wilhelminismus, dessen Konventionen, Materialismus und Verflachung er durch die Rückbesinnung auf die Tiefe der deutschen Seele, durch die Kraft der Pronz zu überwinden sucht. Als ein Feind des plakativ-grob Nationalen und Anwalt des Innerlich-Nationalen proiert er den »Weimar- Wartburg-I.ebensbegriff«: Weimar, das Herz deutscher Kultur ist ihm »heiliger Gral« und Wallfahrtsort für alle Deutschen, die Wartburg, Symbol edlen Rittertums und lutherischen Protestantismus, nennt er einen »heiligen Hain«. Er lobt »die Stillen im lauten Land«, wie es in einem seiner Gedichte einmal heißt, sein Nationalismus hat nichts mit militärischem Imperialismus zu tun, sondern kommt idealistisch verklärt daherstolziert.

»Wenn Deutschland seine Sendung vergißt,
Wenn Deutschland, nachdem es die Meere befahren,
Den Völkern nicht mehr Führer ist
Zum Innenland des Unsichtbaren,
Zu Gott und Geist - Wenn Deutschland versäumt seine
heilige Sendung Und nicht mehr voran geht im Drang nach Vollendung,
Wenn es vom Haß, der in Spannung hält
Die eiserne Welt,
Zu neuer Liebe den Weg nicht weist -
So wisse: dein Glück und dein Reich zerschellt.«
(»Lebensfrucht«, 1911)

Nicht nur Idealismus und Deutschtum sind für ihn deckungsgleich, Justus H. Ulbricht verweist auch darauf, daß in seinem Werk deutschnationale und nationalprotestantische Positionen einander sehr nahe kommen. Aber auch wenn er aus dem »Brunnen deutschen Volkstums« schöpft, wenn er bei aller Verehrung Schillers den Volkston der Grimmschen Märchen höher schätzt, trennen ihn doch Welten von jenen rassistischen Völkischen, für die allein der Arier edel und vornehm, rein und ritterlich ist. Ein Arier kann verlumpt, ein Nichtaricr vornehm sein, schreibt Lienhard in einem Artikel über »Gobineaus Amadis und die Rassenfrage«. Wenn er von Rasse spricht, dann nicht im biologischen Sinn, er meint die »Edelrasse großer Seelen«: Allein die Art, »wie wir uns zu den Widerständen der Welt stellen, ob wir verärgert oder geläutert, verkümmert oder veredelt daraus hervorgehen, gibt den Ausweis, ob wir Sklaven oder Herrengeister sind«. Daß Kriterien der neuen Rassenlehre »in den reingeistigen Sprachschatz der Ethik« hineingetragen werden, hält er weder für segensreich noch für philosophisch haltbar. Das steht für innere Distanz zu einem Adolf Bartels.

Kritik meldet Lienhard auch am Gesamtkunstwerk Richard Wagners an, wenn er sich gegen jene Bayreuth-Schwärmer und -Dogma-tiker wendet, die behaupten, Shakespeare und Schiller, Mozart und Beethoven seien gleichsam nur Ansätze gewesen, Vorläufer auf dem Wege zum dramatischen Gipfelpunkt, der da heißt: »Wagners erfüllendes Gesamtkunstwerk.«
Immer wieder bricht er aus seiner Waldeinsamkeit nach Weimar auf, bis er schließlich ganz in die Ilm-Stadt übersiedelt. Enge Freundschaft verbindet ihn mit Ernst Wachler, einem völkischen Dramatiker, der um die Jahrhundertwende als Redakteur bei den »Weimarer Nachrichten« tätig ist. Mit ihm teilt er die Abneigung gegen die »Zwingherrschaft« Berlins im deutschen Theaterbetrieb, vor allem aber schätzt er, daß der Regisseur Wachler seine Stücke aufführt.

Wachlers Leitsterne heißen Richard Wagner, Gobineau und Nietzsehe, allein der Titel seines wichtigsten Werks - »Die Läuterung deutscher Dichtkunst im Volksgeiste« - spricht Bände. Sein Thüringischer Theaterbund soll ein Gegengewicht zum dominierenden großstädtischen Spielbetrieb schaffen; die 1903 von ihm in Thale gegründete Freilichtbühne, das »Harzer Bergtheatcr«, ist von Bayreuth inspiriert. Ein »Heiligtum des Volkes« nennt er es, in dem er Klassiker aufführt, aber auch völkische Weihedramen von sich selbst oder Ludwig Fah-renkrog. Er präsentiert dramatisch gestaltete deutsche Mythen, damit das zuschauende Volk sich selbst zurückfinden und die Identität wiedererlangen kann, die in den Strudeln der Moderne abhanden zu kommen droht - so Justus H. Ulbricht, der ihn zu den »führenden Theologen des Neuheidentums« zählt.

In der Tat will Wachler beenden, was er die »Überfremdung im Religiösen« nennt. Er träumt er von einer »nordischen Renaissance«, einer arteigenen germanischen Religion, also einem deutschen Glauben ohne Ghristentum, ein Weg, auf dem ihm der Freund und studierte Theologe Lienhard nicht mehr folgen kann.
Ob die »Edda« das Religionsbuch der Deutschen werden könne, fragt Wachler 1905 in der antisemitischen Zeitschrift »Hammer«. In Thale inszeniert er germanische Thingspiele und veranstaltet »Edda«-Abende am Wotansaltar, an seinem »Jungbrunnentisch« in Weimar versammeln sich Elisabeth Förster-Nietzsche und Peter Gast, der mit ihr den »Willen zur Macht« aus Nietzsche-Fragmenten zusammenstellte und für Wachlers Stück »Walpurgis« zur Eröffnung des »Harzer Bergtheaters« die musikalische Untermalung schrieb. Mit am Tisch sitzt natürlich Adolf Bartels, den Kurt Tucholsky einmal den »im Irrgarten der deutschen L iteratur herumtaumelnden Pogromdepp« nennt.
Bartels siedelt Pfingsten 1896 nach Weimar über, weil ihm das Thüringer Land nach seiner Heimat Dithmarschen »das sympathischste Deutschlands« ist. Der geschichtsträchtige Boden und die literarische Tradition Weimars ziehen ihn an, aber auch die mäzenatische Haltung der Regierungskreise, wie Thomas Neumann in seiner Studie über Bartels und die Weimarer Nationalfestspiele betont. Seine Hoffnung erfüllt sich, denn Julius Grosse, der ihn zum Umzug an die lim aufgefordert hat, ist Generalsekretär der Schillerstiftung und verhilft ihm zu einer Unterstützung.

Neben Lienhard wird Bartels zum wichtigsten Theoretiker der Heimatkunstbewegung, aber anders als dieser ist er ein geradezu wütender Vorkämpfer rassistischer Ideen. Als seine Leitsterne nennt er selbst »Heimat, Stammestum, Volkstum, Rasse«; jeder Internationalismus, der Politik, Wirtschaft und Kunst regiert, ist ihm verhaßt wie die dekadente Großstadtkultur, gegen die auch er den Heimatgedanken setzt: » überall wahrhaft bodenständiges Deutschtum mit ausgeprägtem Sondercharakter«.
Bartels in der Klassiker-Stadt, das bedeutet die Vorwegnahme von Blut-und-Boden-ldeen und den Rückgriff auf jene radikalen nationalistischen Vorstellungen, wie sie eine Minderheit der Studenten schon beim Wartburgfest 1817 artikuliert hat. Nicht die Klassiker repräsentierten ja seinen »heutigen Nationalismus«, sagt er und hat gottlob recht damit. Bartels beruft sich elmehr auf Fichtes »Reden an die deutsche Nation«, Ernst Moritz Arndts »Geist der Zeit« und Friedrich Ludwig Jahns »Deutsches Volkstum«. Bereits beim Turnvater findet er, wie Thomas Rösner nachgewiesen hat, den Begriff »Erhaltung des Volkstums«. Schon bei Jahn also ist jener völkische Konservatismus angelegt, den Bartels jenseits des politischen Parteibegriffs als »Erhaltung und Zusammenfassung der Volkskraft« definiert. Seit 1907 gehört er dem »Deutschbund« an, der sich als »Kernschar aller wirklichen Deutschen« versteht, 1912 entwirft er die Satzung des Deutsch-völkischen Schriftstellerverbands, dessen Mitglieder eidesstattlich versichern müssen, daß kein Tropfen jüdischen Bluts in ihren Adern fließt. Diesem Verband engstens liiert ist die Zeitschrift »Deutsches Schrifttum«, die Bartels 1909 herausgibt und die im völkischen Dunker-Verlag in Weimar erscheint.

Mit Wilhelm Schäfer, der später die »Dreizehn Bücher der deutschen Seele« schreiben wird, zählt er zu den wesentlichen Organisatoren des deutschen Tages in Eisenach 1913, auf dem sich verschiedene völkische Bünde zur Deutschvölkischen Vereinigung zusammenschließen. Nicht zu vergessen jene antisemitische »Geschichte der deutschen Literatur«, im Weimar der Jahrhundertwende verfaßt und immer wieder neu aufgelegt. Ihre Lektüre läßt Johannes R. Becher 1920 an Bartels schreiben: »Seit drei Tagen bin ich gezwungen, mir ununterbrochen die Hände zu waschen, da mir nicht erspart blieb, daß ich eines der schmutzigsten Sudelwerke dieses Jahrhunderts noch kennenlernen mußte.«

Jüdische Autoren werden von Bartels abqualifiziert, selbst den nationalsozialistischen Begriff des »GesinnungsJuden« nimmt er vorweg, wenn er Schriftsteller, die nicht seinem Geschmack entsprechen, einfach jüdisch nennt-etwa die »Gebrüder Mann aus Lübeck«. Heinrich Mann nimmt sich nicht die Mühe einer Antwort, aber sein Bruder Thomas bestreitet die jüdische Herkunft und schreibt nicht ohne Ironie, was Bartels an seiner und seines Bruders Produktion fremd anmute, sei wohl auf eine »lateinische (portugiesische) Blutmischung« zurückzuführen, der Antisemit möge die Brüder deshalb korrekter als »romanische Artisten« bezeichnen. Bartels veröffentlicht Manns Brief mit dem Kommentar: Auch diese portugiesische Blutzumischung sei »ziemlich bedenklich, da das portugiesische Volk von allen europäischen das rassenhaft schlechteste ist«. Wer möchte, der dies heute liest, nicht sofort nach dem Speikübel rufen?

Zum bekanntesten Antisemiten im Reich wird Bartels 1906 durch seine Heine-Biographie, in der er gegen das gete Heine-Denkmal in Hamburg zu Felde zieht. Ein Denkmal des deutschen Volkes für den Dichter der »Loreley«? Pfui! Die Anregung dazu war am fünfzigsten Todestag Heines von Alfred Kerr ausgegangen; seinen Aufruf hatten namhafte Künstler wie Klinger, Hauptmann, Hofmannsthal, Liebermann und Humperdinck unterzeichnet. Da Bartels glaubt, das Denkmal im »Zeitalter Ballins«, des jüdischen Großreeders und Freund Kaiser Wilhelms IL, sei kaum zu verhindern, nimmt er sich vor, mit seiner Biographie dem deutschen Volk zu zeigen, wer Heine wirklich gewesen sei. Habe dieses »Jüdchen« nicht gewagt, sich gar gegen Goethe aufzuspielen? Heine-Geist sieht Bartels im »Simplizis-simus« verkörpert - tollen »Haß gegen Deutschland, perverse Frivolität, grenzenlosen Cynismus« und dazu die Heuchelei, als sei man zum Richter des deutschen Volkes berufen, kämpfe für wahre Kunst wie höhere Sittlichkeit. Die Inschrift zu diesem Denkmal habe allenfalls zu heißen: »Heinrich Heine, ihrem grossen Dichter und Vorkämpfer, die deutschen Juden.« Sollte es jedoch heißen: »Heinrich Heine, das deutsche Volk«, dann könne niemand dafür stehen, daß dieses Denkmal nicht eines Tages in die Luft fliege. Nimmt er damit prophetisch Hitlers SA vorweg? Er sagt auch, wie sich eine solche Explosion bewerkstelligen ließe: »Wenn nun aber wirklich das deutsche Volk, der zur Zeit maßgebende Teil desselben, Heine ein Denkmal setzen, das heißt, den Kotau vor dem Judentum, den dieses verlangt, machen wollte? Nun, dann würden wir Nationalen einen starken Anstoß erhalten, in unserem guten Kampfe um die Gesundung und Reinigung des Deutschtums erst recht fortzufahren, die Kraft und den Willen, das ist bereits bewiesen, haben wir ja.« Geschrieben in Weimar in jenem Jahr, in dem ihm der Großherzog in Anerkennung seiner literaturgeschichtlichen Arbeiten den Professorentitel verleiht!

Ebenfalls 1905 veröffentlicht er den Plan, das Weimarische Hoftheater in eine National bühne für die deutsche Jugend zu verwandeln, die seinem Programm zur »Gesundung und Reinigung des Deutschtums« zu dienen hat. Damit das deutsche Volk nicht weiter hinter den Franzosen zurücksteht, soll sich für einige Sommerwochen wenigstens für die Jugend die deutsche Sehnsucht nach einem Nationaltheater erfüllen. Seine Idee findet Anklang, der eigens zur Verwirklichung 1906 in Weimar gegründete Deutsche Schillerbund wendet sich in einem Aufruf an alle Deutschen und findet zahlungskräftige Spender. Der Großherzog übernimmt die Schirmherrschaft, der neue Hoftheater-Intendant Carl von Schirach, ein ehemaliger Offizier und Vater des späteren Reichsjugendführers, zeigt Entgegenkommen bei den Vorstellungspreisen, und so dauert es nicht einmal drei Jahre, bis die ersten Nationalfcstspiele der deutschen Jugend im Juli 1909 mit Schillers »Wilhelm Teil« eröffnet werden. Sie währen drei Wochen und sind als »nationales Erziehungs- und Einigungswerk« konzipiert.
Die hier gesäte Saat, hofft Bartels, werde »keimen, wachsen und Ahren tragen zum Heil des deutschen Volkes«. Aus allen Teilen Deutschlands reisen Gymnasiasten in kleinen Gruppen für je eine Woche nach Weimar, um die Stadt Goethes und Schillers kennenzulernen, die klassischen Gedenkstätten zu besichtigen und mit den Meisterwerken der deutschen Dramatik vertraut zu werden. Auf dem Spiel stehen außer dem »Teil« Goethes »Egmont«, Lessings »Minna von Barnhelm« und Kleists »Prinz von Homburg«. Bei den Festspielen 1911 wird auch der »Othello« gezeigt, denn Bartels hat Shakespeare, wie Thomas Neumann bemerkt, in seinen »deutschen Dramenkanon« aufgenommen, ja ihn aufgrund seiner nordischen Herkunft sogar zum »deutschen« Dramatiker ernannt.

Nietzsche gegenüber zeigt sich der Heimatkunst-Barde noch 1897 bedeckt, sieht er doch im Philosophen des Verfalls der Werte zunächst »eine Decadencenatur wie wenige«. In der Tat wurde dieser um 1900, wie Kessler schreibt, nicht nur als »Revolutionär«, sondern beinahe als ein vaterlandsloser Geselle wie die Sozis betrachtet. Scharf verurteilt Bartels das Europäertum Nietzsches, kapituliert indes bald vor seiner wachsenden Anziehungskraft auf die intellektuelle Rechte und erkennt ihn als überragenden Moralpsychologen an. Ihn innerlich ganz ohne Vorbehalte zu akzeptieren, fällt ihm allerdings schon wegen Nietzsches Deutschfeindlichkeit schwer. Ein Volk müsse sich auch dann an seine großen Männer halten, schreibt er 1902 eldeutig in einem Artikel über »Nietzsche und das Deutschtum«, wenn diese sich von ihm abzuwenden suchten oder ihm unbequeme Wahrheiten sagten. Und dann stellt er die geradezu phantastisch anmutende These auf, Nietzsche habe nur deshalb vom Deutschtum nichts wissen wollen, weil er den »tieferen und freieren Nationalismus« der Völkischen, wie ihn Paul de Lagarde, der Deutschbund und er, Adolf Bartels, vertrete, nicht habe vorausahnen können. Nach Steven E. Aschheim sind es vom völkischen Weimarer Dreigestirn jener Jahre nicht Bartels oder Lienhard, es ist der »Edda«-Religiöse und Freund Elisabeth Förster-Nietzsches, Ernst Wachler, welcher »das enthusiastische Bild von Nietzsche als germanischem Propheten einer neugeborenen Herrenrasse« entwirft. Mit der Herrin der Villa Silberblick strickt er nach Kräften an der patriotischen und konservativen Deutung, ja an der Wiedereindeutschung eines Nietzsche mit, der doch nach eigenen Bekundungen tausendmal lieber Pole als Deutscher gewesen wäre.

Daß die Schwester des Philosophen sich bei alledem bewußt ist, wie sehr sie ihrem Bruder damit Unrecht tut, ist wohl kaum anzunehmen. Als Kind hatte sie den zwei Jahre älteren Fritz vergöttert, seit ihrer Jugend verband sie eine beinahe inzestuöse Beziehung zum Bruder, der für sie eine Lichtgestalt, eine Art Heiliger ist und den sie, schon aus Familiensolidarität, in ihrer Weimarer Kultstätte gegen alle Anfeindungen verteidigt, so wahr sie auch immer sein mögen: gegen den Vorwurf der Geschlechtskrankheit, die Zusammenbruch und Wahnsinn bewirkte; gegen die These von einer Erbkrankheit, die sich auf die epileptischen Anfälle des Vaters stützt und die ja Eltern, Großeltern und sie selbst belastet hätte; vor allem gegen seine Deutschen-und Hohenzollernfeindlichkeit. In ihrer Nietzsche-Biographie stellt sie ihn als selbstlos liebenden Sohn, Bruder und Freund, als guten Preußen und kriegerischen Menschen dar, der aus Vaterlandsliebe beim Kriegsausbruch 1870 freiwillig zu den Waffen eilte.

Von süßlichem Idealismus sei ihr Werk beherrscht, von jener kleinbürgerlichen Pfarrhausmoral, eben der »Naumburger Tugend«, meint Mazzino Montinari, gegen die Nietzsche allezeit Front gemacht habe. Wenn es im »Zarathustra« heiße, die Guten oder die Gerechten sprächen nie die Wahrheit, dann lassen sich nach Meinung des italienischen Nietzscheexperten diese Worte ohne weiteres durch »meine Mutter und meine Schwester« ersetzen. Als »fade Brühe« und »hagio-graphische Karikatur« bezeichnet er die eintausenddreihundert Oktavseiten der Schwester über das Leben des Bruders, man könne sie nicht lesen, ohne abwechselnd von Ekel und Verwunderung gepackt zu werden, und doch hätten sie das Bild von Nietzscheanern wie Nietzschegegnern bis zur Öffnung der Archive nach 1945 entscheidend bestimmt. Dabei unterstellt Montinari der Herrin der Kultstätte Silberblick nicht bewußten Fälschungswillen, er zeigt sich eher verwundert über die naive und »absolute (Jutgläubigkeit« der Schwester. Eine geradezu unglaubliche Naität bescheinigt ihr auch Kessler, wenn er 1919 in seinem Tagebuch notiert, noch in ihrem siebten Lebensjahrzehnt schwärme sie für diesen oder jenen »wie ein siebzehnjähriges Mädchen«.

Die am Teetisch in Weimar ihre Fäden spinnt, wurde von Nietzsche einst zärtlich Lama, später kritisch »Naumburger Tugend«, schließlich empört eine hinterhältige Gans genannt. Elisabeth Förster-Nietzsche ist eine freundliche, keineswegs dumme Frau, die als Schülerin außer im Englischen sehr gute Noten nach Hause brachte. Wäre sie nicht eine halbwegs gescheite, höfliche und kultierte Person gewesen, hätten wohl weder ein Henry van de Velde noch ein Harry Graf Kessler zu ihren Freunden gezählt. Beide honorieren ihren Einsatz für das Werk des Bruders, ohne den die Sammlung seiner verstreuten Manuskripte und Fragmente wahrscheinlich nie erfolgt wäre. Vom Hof bis zur Abdankung des Großherzogs konsequent geschnitten, weil der deutsche Adel in Nietzsches radikalem geistigen Aristokratismus eine Absage an die überkommene Gesellschaftsordnung und eine Unterminierung der eigenen Vorrangstellung sieht, hält sie selbst Hof in ihrer Villa Silberblick. Daß Künstler und Schriftsteller, die nach Weimar kommen, bei ihr vorsprechen, versteht sich angesichts der wachsenden Beachtung, die Nietzsche in ganz Europa widerfährt, beinahe von selbst. Edvard Munch porträtiert sie, Gabriele d'Annunzio widmet ihr ein Gedicht und nennt sie die »Antigone des Nordens«. In Elisabeths Gästebuch tragen sich Stefan George und Richard Deh-mel, Gerhart Hauptmann und Hugo von Hofmannsthal, Paul Ernst und Hermann Graf Keyserling ein, doch auch ele Mitglieder des Hofstaates besuchen sie. Weimars Staatsminister Rothe verkehrt in ihrem Haus; wer zu Besuch bei Großherzoginmutter Pauline war, macht in aller Regel auch Elisabeth Eörster-Nietzsche seine Aufwartung. Die kleine, rundliche Dame hat rosige Wangen und einen festen Dutt, zählt zur Jahrhundertwende erundfünfzig Jahre, lebt mit Equie und Dienerschaft auf großem Fuße und will ihren Bruder, den Zerstörer der Mythen, selbst zum Mythos machen: Der Seher-Heilige soll die lichte Zentralgestalt eines Dritten Weimar werden. Nur hat sie, die den Schlüssel zu seinen nachgelassenen Werken in Händen hält und sich als Hüterin seiner heiligen Flamme versteht, nie ein Studium absolert und keinen blassen Schimmer von Philosophie.

Dabei hat auch Rudolf Steiner, der Ende der neunziger Jahre Nietzsche als den modernsten Geist preist und zu seinen beredtsten Anwälten zählt, ursprünglich Hochachtung vor ihr. Elisabeth sucht ihn als Herausgeber für die Werke des Bruders zu gewinnen, zerstreitet sich aber bald mit ihm. Vor dem Zerwürfnis gibt er, übrigens selbst ein philosophischer Autodidakt, ihr private Nachhilfestunden, um sie in die Philosophie einzuführen. Dabei überzeugt er sich, daß sie »nicht einmal über das Einfachste dieser Lehre« ein selbständiges Urteil hat: »Frau Förster-Nietzsche fehlt aller Sinn für feinere, ja selbst für gröbere logische Unterscheidungen; ihrem Denken wohnt auch nicht die geringste Folgerichtigkeit inne; es geht ihr jeder Sinn für Sachlichkeit und Objektität ab. Ein Ereignis, das heute stattfindet, hat morgen bei ihr eine Gestalt angenommen, die mit der wirklichen keine Ahnlichkeit zu haben braucht; sondern die so gebildet ist, wie sie sie eben zu dem braucht, was sie erreichen will.« Wie Montinari bezichtigt auch Steiner sie nicht der vorsätzlichen Fälschung. Er habe Frau Förster-Nietzsche nicht in dem Verdacht, »Tatsachen absichtlich zu entstellen«, nur schlimmer noch: »Sie glaubt in jedem Augenblicke, was sie sagt.« Steiner war der erste, der die zweifelhaften Editionspraktiken des Nietzsche-Archivs anprangerte, schreibt Dad Marc Hoffmann. Trotzdem habe sich ihr Nietzsche-Archiv bis ins »Dritte Reich« hinein unbeschadet gehalten und »seine zweifelhaften Ausgaben und Machenschaften sogar mit Unterstützung aus Wirtschaft, Wissenschaft und Bildungsbürgertum fortsetzen« können.

Zum Geheimnis ihres Erfolgs zählt zweifellos die Ambivalenz von Nietzsches Philosophie, die nur angemessen zu verstehen ist, wenn man sie nicht auf einen elementaren Bestandteil reduziert und behauptet, sie »besitze nur einen einzigen, endgültigen Sinn«. Was der Kulturhistoriker Aschheim bedachtsam formuliert, der streitbare Feuilletonist Tucholsky bringt es auf die drastische Formel: »Wer kann ihn [Nietzsche] nicht in Anspruch nehmen! Sage mir, was du brauchst, und ich will dir dafür ein Nietzsche-Zitat besorgen Für Deutschland und gegen Deutschland; für den Frieden und gegen den Frieden; für die Literatur und gegen die Literatur - was sie wollen.«
Anders als Ernst Wachler, der den Nietzsche der blonden Bestie, den Propheten der Edelrasse und den vermeintlichen Künder des germanischen Übermenschen schätzt, sieht van de Velde vor allem den Verteidiger der schöpferischen Freiheit, der Kunst und des Geistes in ihm, den Europäer und schärfsten Kritiker gesellschaftlicher Heuchelei. Kessler nennt ihn gar einen Messias, versteht ihn als Erlöser aus wilhelminischer Mediokrität, der nicht nur Verstand und Phantasie anspricht: »Seine Wirkung war umfassender, tiefer, geheimnisvoller. Sein immer stärker anschwellender Widerhall bedeutete den Einbruch einer Mystik in die rationalisierte und mechanisierte Zeit. Er spannte zwischen uns und dem Abgrund der Wirklichkeit den Schleier des Heroismus. Wir wurden durch ihn aus dieser eisigen Epoche wie fortgezaubert und entrückt.«

In seinem Nietzsche-Überschwang t der Graf mit van de Velde ein monumentales, ja bombastisches Nietzsche-Heiligtum in Weimar und gewinnt für das 1911 gegründete Organisationskomitee große Namen: Gustav Mahler und Hugo von Hofmannsthal, Walter Rathe-nau und Hugo von Tschudi, Andre Gide und Anatole France, Gabriele d'Annunzio und H. G. Wells. Wir wollen, schreibt Kessler, an einer Berglehne »eine Art von Hain schaffen, durch den eine >FeststraßeWil-lens zur Macht< zu behaupten.« Daß für Zarathustra Krieg ein Denkkampf im Sinne des griechischen Agon ist, Wettkampf und Ratespiel der besten Gedanken, daß Nietzsche Soldaten als Kriegsmänner der Erkenntnis sieht, gerät beim Lesen dieser Rubrik völlig aus den Augen: »Unter Berufung auf solche Textmanipulationen betrachten es die westlichen Entente-Mächte 1918 als ihre »Mission', das Prinzip jenes Machtwillens, die »Teufelslehre der Deutschen', durch den -Willen zum Frieden' zu ersetzen.« Dabei, sagt Riedel, ist in Wahrheit diese »deutsche Lehre« erst mit der Editionspraxis von Nietzsches Schwester in die Welt gesetzt worden.

Lange vor Kriegsausbruch bekommt van de Velde in Weimar die Folgen des nationalistischen Wahns zu spüren, der die ganze Nation befällt und vor dem der echte, nicht von der Schwester verfälschte Nietzsche vergebens gewarnt hatte. Nach der Dresdner Kunstgewerbe-Ausstellung 1906 mehren sich die Presseangriffe auf den Leiter der Weimarer Kunstgewerbeschule. Fritz Stahl, ein hochangesehener Kritiker des »Berliner Tageblatts«, beschimpft ihn als einen eingedrungenen Fremdling und fordert seine Vertreibung aus Deutschland. Und die »Welt am Montag« nennt seine Dekorationen »schwüle Träume«, denen er besser im heimischen Belgien fröne als in »unserem schlichten Weimar«. Er solle sich gefälligst aus dem Staub machen, ehe er seinen Ruf als Reformator des Kunstgewerbes in den eines großen Destruktors umgewandelt habe.
Kessler fordert ihn zwar zum Durchhalten auf, aber es währt nicht lange, und van de Velde fühlt sich »in der Atmosphäre tödlicher Mittelmäßigkeit isoliert«, abgestoßen von der Teilnahmslosigkeit der Hofleute und ihrem Dünkel. Selbst ihm wohlgesonnene Kritiker betonen mittlerweile das Fremdartige in seiner Kunst - etwa Karl Scheff-Icr, der für die »Vossische«, die »Frankfurter Zeitung« und die »Weltbühne« schreibt und den »Rassendualismus« in van de Velde hervorhebt: In Brüssel betone er mehr das Deutsche, in Berlin und Weimar aus »Rassetrotz« das Gallo-Romanische in seiner Natur und entfremde sich damit »deutschem Wesen«. Noch deutlicher distanziert sich Rudolf Wustmann in seinem 1915 veröffentlichten, im Auftrag der Goethegesellschaft geschriebenen Werk »Weimar und die Deutschen 1815 - 1915«: Van de Veldes »Augengier nach schwellendem Linienfluß«, seine »vorwiegend romanische Abstraktion und Sensitität«, heißt es da, »wurden mehr und mehr als fremder Tropfen in unserem Blut empfunden«.

In der Tat verliert der Großherzog bald nach ihrer Gründung das Interesse an der Kunstgewerbeschule und ihrem ausländischen Leiter. Seine Gunst gilt jetzt der Kunstschule, die er in den Rang einer staatlichen »Hochschule für bildende Kunst« erhebt und in die längst konservativer Geist eingezogen ist. Der Osttiroler Maler und Lehrer Albin Egger-Lienz malt Bilder aus einer bäuerlich-deutschtümelnden Welt, ihr Leiter Fritz Mackensen, Mitbegründer der Worpsweder Künstlerkolonie und erklärter Gegner van de Veldes, widmet sich heimatlichen Motiven, und Paul Schultze-Naumburg, der bald zum einflußreichsten Gegner des Bauhauses werden soll, hält Vorträge über Architektur und unterrichtet Farbenlehre. Übrigens hat auch er, der spätere Leiter des nationalsozialistischen »Kampfbundes deutscher Architekten«, einmal als Reformer begonnen und von seiner Entwicklung her manches mit van de Velde gemein. Das betrifft natürlich nicht seine Architektur und den dekorativen Geschmack, denn Schultze-Naumburg knüpft am Bauen der Goethezeit an, das er durch eine Art NeoBiedermeier modernisieren und fortschreiben will. Aber beide beginnen als Maler und werden zu Kunsthandwerkern und Architekten, beide sind Gründungsmitglieder des Deutschen Werkbunds, beide wollen durch ihre Reformkleider die Frauen von Reifrock, Fischbeinpanzer und Taillenschnürung befreien.

Protest gegen den Standeshochmut, die Großmäuligkeit und die mufe Plüschatmosphäre des Wilhelminismus kommt eben nicht nur von links, er äußert sich auch auf völkische Art. Konservative und liberale Reformer werden zwar bald verschiedene Wege gehen und sich als erbitterte Feinde gegenüberstehen, doch am Anfang des Jahrhunderts sind sie vereint in der gemeinsamen Frontstellung gegen Historismus, Gründerzeit und den trialen kaiserlichen Kunstgeschmack.
Schultze-Naumburg bekennt sich erst zur Münchner, dann zur Berliner Sezession. Ahnlich van de Velde gründet er eigene Kunstwerkstätten in Saaleck und gilt, bis er 1913 den Bau des Potsdamer Schlosses Cäcilienhof übernimmt, als intimer Feind der preußischen Hofästhetik. Seine Mitarbeit am »Kunstwart«, der zu den publizistischen Gegnern der Kunstauffassung Wilhelms IL zählt, bringt ihn in Kontakt mit Adolf Bartels, der für das betont nationale und konservative Blatt als Literaturkritiker tätig ist. Beide schließen Freundschaft, gründen 1905 die Weimarer Ortsgruppe des Heimatbunds und werden zu Schlüsseluren jenes völkischen Netzwerks, das ab Mitte der zwanziger Jahre die Kulturpolitik in Ilm-Athen bestimmt.

Ablehnung ausländischer Einflüsse und eine wachsende Ausländerfeindlichkeit sind kennzeichnend für den Geist der Vorkriegszeit und machen vor Weimar nicht halt. Wenn Staatsministcr Rothe den Leiter der Kunsthochschule, Fritz Mackensen, im September 1913 telegraphisch um Vorschläge für die Neubesetzung des Direktors der Kunstgewerbeschule bittet, zeigt dies nur, daß der Großherzog und seine Regierung längst zur Kündigung van de Veldes entschlossen Der demütigenden und zermürbenden Angriffe müde, kommt van de Velde seiner Entlassung zuvor, kündigt wenige Tage vor Kriegsausbruch selbst und empfiehlt Walter Gropius als seinen Nachfolger. Kaum ist der Weltkrieg entbrannt, werden Frau und Kinder in Anrufen anonymer patriotischer Fanatiker mit dem Tode bedroht. Van de Velde selbst muß vorübergehend Zuflucht in der Psychiatrischen Universitätsklinik seines Freundes Professor Binswanger in Jena suchen. Als der Chef der Klinik sich beim Großherzog für den Künstler verwenden will, brüllt der Weimarer Regent durchs Telefon: »Wie sagen Herr Geheimrat, van de Velde ist noch auf freiem Fuß? Den Kerl soll man einsperren!«
Soweit kommt es zwar nicht, doch als ob im winzigen Weimar jeder Schritt unbeobachtet bliebe, hat sich van den Veldc zweimal täglich auf der Polizeidienststclle zum Rapport zu melden. Durch Hilfe eines befreundeten Galeristen in Berlin gelingt es ihm, in die Schweiz auszureisen und sich den Demütigungen zu entziehen. Mit diesem wahrhaft beschämenden Abschied des weltbekannten Meisters des Jugendstils endet der erste Anlauf Weimars zur Moderne im zwanzigsten Jahrhundert. Der zweite folgt er Jahre später, doch auch er soll keinen glücklicheren Abschluß finden.







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