REFERAT-MenüArchaologieBiographienDeutschEnglischFranzosischGeographie
 GeschichteInformatikKunst und KulturLiteraturMarketingMedizin
 MusikPhysikPolitikTechnik

Widerstehe doch der Sünde - Hofmusicus Bach in der Himmelsburg

Widerstehe doch der Sünde - Hofmusicus Bach in der Himmelsburg

Small is beautiful - das galt r allem für das kleinstaatlich zerrissene Thüringen mit seinen Duodezfürstentümern, obwohl Churchill sie einmal verächtlich die »pumpernickel principalitics« nannte. Aus einer Großmachtperspektive betrachtet, konnte sich die deutsche Kleinstaatenwirtschaft r der Bismarckschen Reichsgründung nicht anders denn anachronistisch ausnehmen, und in der Tat haftet ihr bei allen kulturellen Verdiensten stets etwas Armseliges und Lächerliches an, wie es Büchner in »Leonce und Lena« so treffend für die Bühne dargestellt hat. Daß Heinrich n Treitschke, der sächsische Verherrlicher Preußens und Prediger des neuen deutschen Nationalismus, die Kleinstaaterei als deutschen Fluch bezeichnet, nimmt nicht Wunder. Aber auch die Arbeiterbewegung macht in einer Kampfschrift 1906 Front gegen den »Thüringischen Kleinstaatenjammer« der verschiedenen ernestinischen, schwarzburgischen und reußischen Lande.

Und doch trifft gerade auf Thüringen zu, was der britische Nationalökonom F.. F. Schumacher 1973 in seinem vielbeachteten Plädoyer für eine auf den Menschen bezogene Politik empfohlen hat: möglichst viele kleine, autonome, überschaubare Einheiten zu schaffen, die sich in einen umfassenden Ordnungsrahmen einfügen sollten. Der Mensch könne Bruder zu einigen Brüdern sein, nicht aber zu allen auf einmal und schon gar nicht zu einem Abstraktum wie der Menschheit. Nur im Überschaubaren, so Schumacher in seiner Absage an alle Gigan-tomanie, gehe das Menschliche nicht verloren. So etwa versteht knapp zweihundert Jahre r Schumacher auch der Wirkliche Geheime Rat Goethe sein Weimar - als bescheidene Residenz eines kleinen Fürstentums, das sich mit anderen Kleinstaaten in einem Fürstenbund zusammentun muß, um sich gegen die Großen in Berlin oder München zu behaupten. Das Reich, auch wenn es sich in marodem Zustand befindet, betrachtet der Reichsbürger aus Frankfurt als gegeben. Es garantiert Ordnung in der Vielfalt und läßt den kleineren Staaten damit den nötigen Spielraum für eine eigenständige Entwicklung. In Weimar erlaubt dies eine großzügige Kulturpolitik, die um so erstaunlicher ist, als sie die finanziellen Mittel eines Zwergstaates eigentlich übersteigt. Goethe selbst, lange Kultusminister seines Freundes und Herzogs Carl August, spricht einmal n der »gegen unsere Kräfte disproportionierten Beförderung der Künste und der Wissenschaften«.




Die thüringische Duodezwirtschaft ist weitgehend das Resultat der immerwährenden, zwar sehr brüderlich gedachten, aber die eigene Bedeutung verringernden Erbteilung des Hauses Wettin, das durch den Erz- und Silberbergbau im Erzgebirge und in Thüringen einst zu den reichsten und mächtigsten deutschen Herrscherhäusern gehörte. Nach Bruderkrieg, Erbauseinandersetzungen und dem Zerfall in die albertinische und die ernestinische Linie wird das Territorium, welches den in Weimar herrschenden Ernestinern verbleibt, wegen des Verzichts auf das Erstgeburtsrecht immer weiter zersplittert, bis schließlich das Herzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach zur Zeit Goethes so »überschaubar« geworden ist, daß es nur mehr 36 Quadratmeilen umfaßt und ganze 106398 Einwohner zählt. Da versteht sich beinahe n selbst, daß Goethe in seinen ersten Jahren als Weimarer Minister nicht nach der Aktenlagc entscheiden will, sondern sich aufs Pferd oder in den Zweispänner setzt, um die Probleme r Ort zu studieren. Der Verzicht auf Großmachtpolitik erlaubt den mitteldeutschen Kleinstaaten die Konzentration auf die innere Landespflege und läßt auf engem Raum verschiedene kulturelle Zentren entstehen, die einander gegenseitig befruchten. »Die Fähigkeit, aus Krisen, Niederlagen und Kriegsfolgen neue Kraft zu gewinnen und diese r allem auf die Kultur, Bildungs- und Wirtschaftspflege anstatt auf zweifelhafte Abenteuer zu richten«, so der Jenaer Historiker Jürgen John, »gehört wohl eher zu den Stärken als zu den Schwächen kleinstaat-licher Politik.«

Mit der Gründung der »Fruchtbringenden Gesellschaft« im August 1617 im Weimarer Schloß Hornstein setzen der ernestinische Hof an der Um und der anhaltinische in Köthen das Beispiel für einen Kulturverbund, der über die engen Grenzen der Kleinstaaterei hinausgreift. Schon der Titel der neuen Sozietät will sagen, daß sie sich dem Nutzen und Wohl der Allgemeinheit verschrieben hat. Angeregt n dem Weimarer Hofmarschall Caspar n Teutleben, der jahrelang Italien bereiste und in Florenz Mitglied der italienischen Sprachakademie »Academia della Crusca« geworden ist, hat die neue Vereinigung patriotisch-sittliche Ziele, beschränkt sich aber bald auf die Förderung und Reinhaltung der deutschen Muttersprache und kämpft gegen Sprachverwilderung und -Überfremdung. Die ehrenwerten Mitglieder, zu denen später auch Dichter und Gelehrte zählen - Martin Opitz, Andreas Gryphius und Friedrich n Logau -, erhalten jeweils einen Pflanzennamen. Wahrzeichen der Sozietät ist der Indianische Palmen- oder Nußbaum, über dem in großen Lettern zu lesen steht: »Alles zu Nutzen.« Bald heißt der neue Verein, dessen Sitz Fürst Ludwig n Anhalt an seinen Hof nach Köthen holt, nur noch der »Palmorden «, obschon er nicht als geschlossener Ritterorden, sondern als offene Gesellschaft konzipiert ist. Fruchtbringer sind zunächst die Regenten und die wichtigsten Mitglieder ihres Hofstaates, doch stoßen bald Bürgerliche hinzu, die sonst bei Hofe nicht geduldet würden, sich jedoch einen literarischen oder philosophischen Namen gemacht haben. Für heutige Begriffe mag das Wort Akademie für die Fruchtbringer viel zu hoch gegriffen, das schlichtere Wort Sprachverein - der erste europäische nördlich der Alpen übrigens - scheint den Sachverhalt besser zu treffen. Doch damals schmückten sich die verschiedensten Sozietäten mit diesem Namen, und mit fast neunhundert Mitgliedern war sie eine der größten »Akademien« Europas. Nach dem Tod ihres Spiritus rector Ludwig n Anhalt wandert die Zentrale dann wieder an ihren Gründungsort Weimar, wo Wilhelm der IV. n Sachsen-Weimar, ein Neffe des Köthener Fürsten, 1651 neues Oberhaupt wird. In Weimar schreibt dann Georg Neumark, Dichter, fürstlicher Bibliothekar und »Erzschrcinhalter«, also Geschäftsführer der Gesellschaft, die Geschichte dieses ersten deutschen Sprachvereins: »Der Neu-Sprossende Teutsche Palmbaum oder Ausführlicher Bericht n der Hochlöblichen Fruchtbringenden Gesellschaft«, deren Eigenschaften und »derselben Fortpflantzung«.

Nicht nur das Beispiel des Palmordens zeigt, wie eng die Beziehungen zwischen den ernestinischen und den anhaltinischen Höfen sind. Hartmut Ross hat darauf hingewiesen, daß die kulturellen Zentren Weimar, Köthen und Dessau über Jahrhunderte aufeinander einwirken und miteinander im geistigen Austausch stehen. »Kulturphänomene der gewichtigsten Art« beginnen in Weimar und enden im Anhaltinischen oder auch umgekehrt. Johann Sebastian Bach, Weimarer Hoforganist und Konzertmeister, wechselt n der ernestinischen Residenz an der Um an den anhaltinischen Hof in Köthen, nachdem er sich mit Herzog Wilhelm Ernst überworfen hat. Empfohlen m Neffen des Herzogs, der mit einer Anhaltinerin verheiratet ist, komponiert er in Köthen dann die »Brandenburgischen Konzerte«. Der Wörlitzer Park, den Franz n Anhalt-Dessau anlegt, dient der Herzogin Anna Amalia als Vorbild für Tiefurt und hinterläßt auch bei Goethes Gestaltung des Ilmparks Spuren. Last not least: Als das Bauhaus 1925 aus Weimar vertrieben wird, findet es seine neue Heimstatt in - Dessau.

Wenn in Anhalt die Konzentration der Landesherren auf die innere Entwicklung früher zur Geltung kommt als in Weimar, dann hat dies nicht nur mit der Größe der Fürstentümer, sondern auch mit dem Verzicht auf große Politik zu tun. Mit dreißig-, später vierzigtausend Einwohnern zählt Anhalt zu den Winzigstaaten, die auf der buntgescheckten Karte des Deutschen Reiches kaum zu finden sind. Diese Tatsache führt dazu, daß Dessau »einen Vorrang bei den Kulturinno-vationen in Deutschland bis circa 1780 wahren kann« und erst danach n Weimar überholt wird. Folgt man Ross, dann entstand das Dessau-Wörlitzer Reformwerk nur, weil Franz n Anhalt-Dessau mit seinem Ländchen »wie mit einem großen Gut« umgehen konnte. Dagegen widerstehen die Herrscher des nur dreimal größeren Weimar, Sprossen eines Geschlechts, das einst eines der größten und bedeutendsten deutschen Territorien regiert hat, militärischen Versuchungen nicht und trachten im Dreißigjährigen Krieg danach, ihr kleines Fürstentum zu vergrößern, um als Dynastie an Bedeutung zu gewinnen - eine Tendenz, die später bei Herzog Carl August wieder durchbrechen wird. Herzog Wilhelm, der n 1626 bis 1662 über Sachsen-Weimar herrscht, widmet seinen Degen der Sache der Protestanten in der geheimen Hoffnung, die Kurwürde wieder zu erstreiten. Als Kriegsherr fehlt ihm freilich Fortune wie seinem Vorfahr Johann Friedrich: 1623 wird er n den Kaiserlichen unter Tilly geschlagen und gefangengenommen. Erst siebzehn Monate später kommt er wieder frei - nach getanem Fußfall r Kaiser Ferdinand II. in Wien, dem er danach bei gemeinsamer Tafel sogar die Serviette reichen darf. Auch Herzog Bernhard n Weimar, Wilhelms jüngerer Bruder, kann das politische Gewicht Sachsen-Weimars nicht vergrößern. Zwar gehört er zu den bedeutendsten protestantischen Heerführern des Dreißigjährigen Krieges und ist der einzige herrragende Militär, den die ernestinische Dynastie je herrgebracht hat. Aber als er mitten im Kriege, nach der Eroberung des Elsaß, vergiftet wird, ist der Traum des Hauses Weimar n mehr Einfluß, Macht und Größe endgültig ausgeträumt. Nach dem Frieden n Münster besitzt das Herzogtum keinen Fußbreit mehr Boden als dreißig Jahre zur, und als 1672/73 Wilhelms Söhne, weil das Erstgeburtsrecht noch nicht eingeführt ist, nach alter ernestinischer Teilungstradition aus der ohnehin schon kleinen Masse auch noch die Fürstentümer Jena und Eisenach für sich herausschneiden, schrumpft das Herzogtum Sachsen-Weimar, wenn auch nur rübergehend, auf ganze fünfzigtausend Seelen. Als Johann Sebastian Bach 1708 nach Weimar kommt, findet er in dem kleinen Fürstentum gleich zwei Herzöge r, Wilhelm Ernst und seinen Neffen Ernst August. Weil beide große Musikliebhaber sind und sich über die Verwendung ihrer Hofmusici nicht einigen können, wird Bach r seinem Weggang nach Köthcn einen Monat im Weimarer Kerker darben.

Bachs Schaffen in seiner Weimarer Periode bezeugt die enge Nähe, die gegenseitige Anregung und Förderung n Luthertum und Musik, welche die Musikkultur Thüringens auszeichnet und zu der sich der Organist und Komponist immer wieder ausdrücklich bekennt. Auf musikalische Art legt er die Bibel aus, vergleichbar Lucas Cranach, der sie hundert Jahre r ihm illustriert hat. In Eisenach geboren, Thüringer wie Martin Luther und Heinrich Schütz, ist Bach in Mühlhausen tätig, ehe er als Hoforganist nach Weimar wechselt. Tn dem Entlassungsgesuch, das er an die Mühlhäuser Stadträte richtet, beschreibt er sein tiefreligiöses Verständnis n Musik: »Endzweck« seines Wirkens sei eine »regulirte kirchenmusic zu Gottes Ehren«. Bach schätzt das musikalische Kirchenritual, wie es bei den Lutherischen mit Orgelspiel und Chorälen, Kantaten und Chorgesang entstanden ist. Als »Laquey«, also als fürstlich Bediensteter, hatte er schon 1703 ein kurzes Zwischenspiel in Weimar bei Herzog Johann Ernst III. gegeben, ehe er nach sechs Monaten als Organist nach Arnstadt ging. Für einen musikalischen Genius wie Bach mutet diese Tätigkeitsbeschreibung befremdlich an, in Wahrheit hat er ja auch in Johann Ernsts privater Kapelle in Heiduckenuniform als Violinist gespielt. Aber die bescheidenen Mittel des kleinen Herzogtums zwingen dazu, daß viele Musici bei Hofe zugleich andere Tätigkeiten verrichten, einige tauchen aus Haushaltsgründen in den Rechnungen der Gesamtkammer, also des Budgets des Herzogtums, nicht als Cembalisten, Harfespieler oder Trompetenbläser auf, sondern als Kammerherren, Jagdbedienstete und Küchenmeister.
Streng geht es zu am Hof Wilhelm Ernsts, bei dem Bach im September 1708 gegen ein Gehalt n jährlich 150 Gulden als Hoforganist antritt. Zusätzlich zu diesem Einkommen erhält der neue Musikus ein Deputat n vier Klafter Floßholz im Wert n sechs Gulden und fünfzehn Groschen sowie jährlich zwei Gulden aus einer Stiftung. Der Herzog hält täglich mehrere Betstunden und wacht persönlich über Zucht und Sitte an seinem Hofe, der im Rufe steht, einer der frömmsten in Deutschland zu sein. Diener, die in Wilhelm Ernsts Gemach aufwarten, so berichtet Carl Eduard Vehse, müssen ihm laut aus der Bibel rlesen, nach dem gemeinsamen Besuch des Gottes-diensts examiniert der Herzog sie höchstpersönlich auf den Inhalt der Predigten. Feste und weltliche Vergnügungen gibt es kaum, früh gehen die Lichter aus. Im Sommer schließen Küche und Keller bei Hofe abends um neun, im Winter bereits um acht Uhr. Zwar ging die christliche Zucht unter Wilhelm Ernst nicht ganz soweit wie bei seinem Oheim, dem »Beternst« n Coburg, der in seinem lutherischen Orwell-Staat über die gebotene Frömmigkeit seiner Untertanenseelen Buch führen ließ, doch sind Parallelen im Charakter beider durchaus zu erkennen. Durch das Verbot, sonntags die Stadt r dem Mittagsgottesdienst zu verlassen, sucht Wilhelm Ernst seine Untertanen zum Kirchgang zu nötigen.

Nicht minder autoritär ist sein Verhalten gegenüber dem Rat der Stadt. Gleich zweimal zwingt er den Ratsherren herzogliche Domestiken als Bürgermeister auf: 1683 seinen Kammerdiener und Leibschneider Johann Tietz, 1688 seinen Kammerdiener Johann Caspar Eichelmann, den er wohl wegbefördert, weil er mit dessen Frau ein Verhältnis hat. Sein Stil wird Schule machen. Am 3. Februar 1730 läßt Wilhelm Ernsts Nachfolger Ernst August die Ratsherren wissen, »daß wir aus besonderer Gnade bewogen worden, Unseren Fürstlichen Kammerdiener, Gottlieb Dehnen, r seine Uns treugeleisteten Dienste zum Bürgermeister unserer Fürstlichen Residenzstadt zu ernennen«.

Die kulturellen Meriten, die sich der absolut herrschende Wilhelm Ernst erwarb, sind indes unumstritten. Durch Ankauf der Bücher des Wittenberger Professors Schurzflcisch und Friedrich Logaus, des durch seine Epigramme berühmten schlesischen Dichters und Regierungsrats, wird der herzogliche Buchbestand erheblich erweitert und so der Grundstock zur späteren Anna-Amalien-Bibliothek gelegt. Wilhelm Ernst begründet die Weimarer Kunst- und Münzsammlungen und läßt Schloß Ettersburg erbauen, das Herzogin Anna Amalia viele Jahre als Sommersitz nutzt. Daß er ausschließlich Kirchenmusik liebt, ist für die musikalische Entwicklung in Weimar allerdings hinderlich. Ein Opernhaus, das 1669 im Schloß eröffnet wird, bringt zu des Herzogs Geburtstag »die erste Opera, n der, denen lasterhaften Begierden entgegengesetzten tugendlichen Liebe gespielet«. Wahrscheinlich handelte es sich um ein einfaches Singspiel, dessen Titel die Vermutung nahelegt, daß es sehr frommen Inhalts war und den religiösen Neigungen des Herzogs entgegenkam. Doch den Herrscher in Weimar dünkt selbst die frömmste Unterhaltung noch zu weltlich. Um 1700 werden die Opernaufführungen eingestellt, so daß Weimar bis zu Liszts Zeit nie eine ernsthafte Konkurrenz zu den Opernbühnen anderer Duodezresidenzen werden kann, ganz zu schweigen n Dresden oder Braunschweig-Wolfenbüttel.
Himmelsburg nennen die Weimaraner damals ihre Schloßkapelle, weil sie mit drei Stockwerken in einer Höhe n jeweils sieben, siebeneinhalb und fünf Metern nach oben strebt. Durch Öffnung der Decke ist eine Kuppel als zusätzlicher Raum für die Unterbringung der Orgel gewonnen worden. Der Hoforganist Johann Sebastian Bach ist also den Himmlischen näher als der Prediger oder gar der Fürst. Ob solch himmlische Höhe einem optimalen Wohlklang für die Gläubigen weiter unten dienlich gewesen ist, bleibt zu bezweifeln, überprüfen läßt es sich nicht. Das Schloß samt Himmelsburg brannte 1774 ab, ein Jahr r dem Eintreffen Goethes in Weimar. Sonntags, an Feiertagen, aber auch werktags zu Proben spielte Bach droben in seiner Kuppel. Im Winter hält ein Ofen mit glühenden Kohlen die Finger des Organisten gelenkig. Sein Herzog findet zunehmend Gefallen an dem strenggläubigen Musicus, denn er spürt: Die Frömmigkeit, die Bachs Kunst beseelt, ist nicht erzwungen, sondern Herzensbedürfnis (Luc-Andre Marcel). Bach gilt schon damals als umwälzender Neuerer, denn wo rdem nur mit den vier Fingern einer jeden Hand gespielt wurde, hat er durch Gebrauch der Daumen das Zehnfingerspiel eingeführt. Auch weiß er durch seine Pedaltechnik zu beeindrucken. »Seine Füße flogen über die Pedale, als ob sie Schwingen hätten«, so der Bericht des Mindener Rektors Constantin Bcllermann über das Spiel Bachs r dem Kasseler Hof; geradezu donnergleich seien die mächtigen Klänge durch die Kirche gerauscht. Sein Ruf als Orgelspezialist reicht inzwischen weit über Weimar hinaus, oft wird er als Gutachter für neu installierte Orgeln in fremde Städte gerufen, etwa nach Halle oder Erfurt, und er prüft ebenso scharf und unerbittlich wie sachverständig. Doch spielt er in Weimar n Anfang an auch andere Instrumente: Mit Fellmütze und in Uniform, die der Herzog seinen Musici verpaßt hat, streicht er in der Hofkapelle die Violine oder Bratsche und sitzt gelegentlich r dem Cembalo - für einen Organisten damals nicht ungewöhnlich, denn noch gibt es keine Trennung n Orgel- und Klavierwerken bei Tasteninstrumenten, die Bach übrigens alle beherrscht: neben dem Cembalo das Spinett ebenso wie das Klavichord. Die fürstliche Hofkapelle besteht aus vierzehn Mann, den Kapellmeister Dresen und den Hoforganisten Bach eingerechnet. Bei wichtigen Anlässen wie herzoglichen Geburtstagen oder dem Empfang wichtiger Gäste wird sie durch Pauker und Trompeter verstärkt, die nicht bei Hofe angestellt sind, sondern im Auftrag n Rat und Bürgerschaft aufspielen.

Weimar stellt die erste wichtige Etappe in Bachs Karriere dar, und alles deutet darauf hin, daß er sich in der Residenz an der Um wohlfühlt. Mit seiner ihm angetrauten Base Maria Barbara wohnt er im Haus des Ealsettistcn und enhofmeisters Adam Immanuel Weidig am Markt. Sechs Kinder aus dieser ersten Ehe Bachs erblicken in neun Jahren Weimar das Licht der Welt, vier dan überleben, zwei bringen es zu Ruhm: Wilhelm Eriedemann und Carl Philipp Emanuel. Natürlich ist Bachs Schaffen in dieser Zeit n der streng lutherischen Atmosphäre des Hofes unter Wilhelm Ernst nicht zu trennen, der Schwerpunkt liegt eindeutig auf religiöser Musik, wie schon die Titel vieler Kantaten beweisen: »Himmelskönig, sei willkommen«, »Alles was n Gott geboren«, »Nun komm der Heiden Heiland« oder »Widerstehe doch der Sünde« mögen als Beispiele für viele stehen. Choräle und Kantaten machen die Mehrzahl seiner Kompositionen aus, und sie sind rnehmlich für die Orgel, einige auch für das Klavier gedacht. Wenn er in Weimar eine Vorliebe für die dreiteilige Fuge zeigt, dann nicht nur, weil er Freude an Methodik und Logik hat, sondern weil dies den tiefreligiöscn Überzeugungen des Hofmusikus entspricht: Er sieht »in dieser dreigeteilten, aus einem einzelnen Thema abgeleiteten Welt offenbar ein Abbild der Dreieinigkeit, die die Welt beherrscht«, so Luc-Andre Marcel, der n den Orgelwerken des jungen Bach der Weimarer Zeit meint, sie dürften nicht methodischstreng, sondern müßten fesselnd und mitreißend gespielt werden, weil der Bach n Weimar eben noch nicht der strenge Kantor ist und »der Drang nach beinahe aggressiver Demonstration speziell für die Jugend [Bachs| charakteristisch sind. Bachs Kräfte schäumten über in diesen Jahren.«
Die Mehrzahl der Textrlagen für die zahllosen Kantaten und Choräle steuert Salomo Franck bei, ein Weimarer Konsistorialrat und Dichter Hunderter n Kirchenliedern, n denen Bach etliche vertont - teils aus eigener Initiative, teils auf Befehl des Herzogs, der Franck ob seiner Gelehrsamkeit und Frömmigkeit besonders schätzt. Mindestens einmal, für die Osterkantate »Christ ist erstanden«, greift er auf Luther zurück. Andere Texte stammen n Georg Neumark, dem Dichter, herzoglichen Bibliothekar und »Erzschreinhalter« der Fruchtbringenden Gesellschaft im Weimar des rausgegangenen Jahrhunderts, darunter jener Choral, der zum Paradebeispiel der vielzitierten lutherisch-christlichen Fröhlichkeit werden soll: »Wer nur den lieben Gott läßt walten «

Nicht zuletzt dank eines Abwerbungsversuchs aus Halle gelingt es Bach, sein Gehalt in den Weimarer Jahren zu verdoppeln. Als Treueprämie stockt Wilhelm Ernst die Bezüge seines Hoforganisten 1714 noch einmal auf und erhebt ihn zum Konzertmeister »mit angezeigtem Range nach dem Vizckapellmeister«. Bach wird verpflichtet, einmal monatlich eine neue Kantate aufzuführen, und erhält genügend Zeit, sich künftig mehr der Instrumentalmusik zu widmen. Besonders enge Beziehungen zu Ernst August, dem Neffen des regierenden Fürsten Ernst Wilhelm, sollen ihm freilich bald zum Verhängnis werden. Der Neffe ist ein begabter Klavierspieler und Musikliebhaber, der im reifen Alter noch das Trompetenblasen erlernt. Musizierend oder im Gespräch sitzen beide so oft im Roten Schloß zusammen, dem Sitz Ernst Augusts, daß den Oheim die Eifersucht packt. Wilhelm Ernst übergeht Bach, als die Stelle des Hofkapellmeisters frei wird. Und weil er nicht wünscht, daß die Hofmusici zur Privatkapelle Ernst Augusts werden, verbietet er ihnen bei einer Strafe n zehn Talern, r seinem Neffen im Roten Schloß zu spielen.

Nun hat Bach, der als Vater einer großen Familie stets in Geldnöten ist, sich berechtigte Hoffnungen gemacht, auf die erste Stelle der Hofkapelle aufzurücken und einige Taler mehr zu bekommen. Auch ist er sich inzwischen seiner Bedeutung gewiß. Zwar steht er noch im Schatten Philipp Telemanns, des meistgeschätzten Musikers seiner Zeit, doch ist sein Ruf weit über Weimar hinaus beständig gewachsen. Stolz und seiner enormen Begabung bewußt, übergeht er das Verbot und schaut sich an anderen Höfen nach neuer Beschäftigung um. Durch Vermittlung Ernst Augusts, der mit einer Schwester des Fürsten Leopold n Anhalt-Köthen verheiratet ist, kann er mit dem Hof in Köthen schließlich einen Vertrag aushandeln. Mit einem Jahresgehalt n vierhundert Reichstalern bringt der Wechsel nicht nur erfreulich höhere Bezüge, die neue Position eines Kapellmeisters kommt der eines Ersten Musicus bei Hofe gleich und genießt höheres Ansehen als die eines Konzertmeisters in Weimar. Allerdings schließt Bach diesen Vertrag ohne Wissen seines Weimarer Herrn, der im Verhalten seines unbotmäßigen Konzertmeisters denn auch einen Verstoß gegen Treu und Glauben sieht. Denn trotz des Torts, den er Bach angetan, schätzt Wilhelm Ernst seinen Hofmusicus über die Maßen und will ihn unbedingt in Weimar halten. Absoluter Herr, der er nun einmal ist, befiehlt er, Bach zu verhaften. Um ihn gefügig zu machen, wird am 6. November 1717 der »bisherige Concertmeister u(nd) HofOrganist Bach wegen seiner halßstarrigen Bezeugung u(nd) zu erzwingender Demission auf der Landrichterstube arretiret«, wie der Hofsekretär Theodor Benedikt Bormann in seinen »Nachrichten Bey dem Fürstl(ich) Sächß(ischen) Hoff-Marschall-Amt Weimar zur Wilhelmsburg de anno 1697. bis 1728.« notiert. Knapp einen Monat muß der Meister im Gefängnis sitzen, doch er denkt nicht daran zu kapitulieren. Weder Einschüchterungen noch Drohungen können ihn beugen: Er besteht auf seiner Entlassung, die ihm schließlich am 2. Dezember gewährt wird - »mit angezeigter Ungnade« zwar, aber immerhin. Weimar habe Bach diese Affäre niemals verziehen, urteilt Marcel: »Die meisten seiner Freunde wandten ihm den Rücken, selbst sein intimster Freund [Johann Gottfried] Walther, der später, als er ein Musiklexikon herausgab, Bach seltsam flüchtig behandelte und es nicht einmal der Mühe wert hielt, die Partituren anzuführen, die er n ihm erhalten hatte.« Dies entspricht dem Stil der Zeit, der eben auch in Weimar gilt: Künstler und Gelehrte, auch solche n Rang, leben in der Furcht ihrer absoluten Herren. Walther, der in Weimar seßhaft ist und es auch bleiben will, kann die Gunst Wilhelm Ernsts nicht aufs Spiel setzen.
Bedeutet sein Weggang für Weimar einen schweren Verlust, ist der Wechsel zum Hof in Köthen für Bach persönlich ein unermeßlicher Gewinn. Wer will, mag hier erneut die Vorzüge jener Vielfalt entdek-ken, welche die mitteldeutsche Kleinstaaterei zu bieten hat. Aus der Wärme lutherischer Kirchenmusik, wie sie Weimar pflegt, taucht Bach in die Kühle und Strenge eines calvinistischen Hofes, wo religiöse Musik, ausgenommen einfache Choräle, im Gottesdienst keine Rolle spielt. Leopold n Anhalt liebt die Instrumentalmusik, und so versteht sich, daß in Bachs Köthener Zeit seine »Brandenburgischen Konzerte« entstehen. Der neue Fürst spielt Gambe, Klavier und Violine. Darin gleicht er den Herren n Weimar, doch nimmt er, anders als diese, in religiösen Fragen eine liberale Haltung ein. Obschon als Summo episcopus selbst Oberhaupt seiner calvinistischen Landeskirche, läßt er Gewissensfreiheit zu und die lutherische Minderheit gewähren. So muß der lutherische »Hochfürstlich-Anhalt-Cöthe-nische Capellmeister« Bach seine Überzeugungen nicht ändern, sondern nimmt regelmäßig mit seiner Familie am lutherischen Gottesdienst teil.

Anders als im liberalen Köthen, wird das stockkonservative Weimar seine despotischste Phase ausgerechnet unter Bachs Schüler, Freund und Beschützer Ernst August erleben, als dieser 1728 als Alleinherrscher an die Regierung kommt. Als einen kleinen, ungemein hageren und reizbaren, heftigen und wunderlichen Herrn charakterisiert ihn Carl Eduard Vehse. Regelmäßig r dem Schlafengehen spielt der Fürst die Violine, nach dem Zeugnis der Dienerschaft bisweilen selbst im Bett, auch wenn dies nur schwer rstellbar scheint. Liebe zur Musik schließt eben weder Macht- noch Größenwahn, noch Brutalitäten aus. Kaum kann er allein regieren, da legt Ernst August sich erst einmal ein kleines Heer zu, das die finanziellen Möglichkeiten seines Winzigstaates gewaltig übersteigt. Potsdam hat es dem Herrn n Weimar angetan, dem Soldatenkönig Friedrich Wilhelm I. will er partout gleichen, auch wenn er als Oberkommandierender nur über ein Bataillon Infanterie, zwei Reiterschwadronen und eine Kompanie Garde verfügt, welche aus jungen Edelleuten zu Pferde besteht. Höchstpersönlich nimmt diese kuriose Durchlaucht morgens die Wachparade ab, läßt die 33 Mann starke Einheit paradieren, kommandiert sie beim Exerzieren und korrigiert unnachsichtig ihre Fehler. Auch die Stadt und ihre Bürger bleiben n seiner Militärwut nicht verschont: Die Befestigungen werden verstärkt, der Stadtrat hat ein neues Schießhaus zu bauen und die Bürgerkompanie mit modischen Monturcn zu versehen. Bürger, die daran Anstoß nehmen, müssen ihren Arger verbergen, denn »das vielfältige Räsonnieren der Untertanen wird hiermit bei halbjähriger Zuchthausstrafe verboten«, wie es in einer Verordnung m 3. November 1736 heißt. Diebstahl n Wäsche oder Obst werden nach dem Willen des Landesherrn mit Tod durch den Strang geahndet. Wer die allerhöchsten Kundmachungen aus dieser absolutistischen Zeit in Weimar liest, versteht sehr gut, warum Hofchronist Vehse schrieb, daß es mit Ernst August »nicht ganz richtig im Kopfe stand«. Anno 1743 befiehlt er als »untrügliches Mittel zum Löschen der Feuerbrände« allen Städten und Dörfern, »hölzerne Teller mit einem Feuerpfeile, nach beigesetzter Zeichnung versehen, anzuschaffen und diese Teller freitags bei abnehmendem Monde zwischen 11 und 12 Uhr nachts mit frischer dinte und neuer Feder und mit den Worten beschrieben: >An Gottes Allmacht liegt's. Consummatum est [Es ist llbracht]







Haupt | Fügen Sie Referat | Kontakt | Impressum | Nutzungsbedingungen