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Im Banne des Thüringer Waldes

Im Banne des Thüringer Waldes

Wer den Thüringer Wald zur Erholung nach langer Arbeit, zum Genüsse in der schönen freien Waldluft, zur Belehrung in einem Gebiete der Natur oder einem Zweige des Gewerbswesens, oder überhaupt um mit den Eigentümlichkeiten seiner Gegend wie seiner Bewohner Bekanntschaft zu machen, besuchen will, dem rate ich, wenn er gesund und rüstig ist, mit seiner Zeit nicht zu geizen hat und seine Wanderungen bequem, nützlich und wohlfeil einrichten will, seinen Reisesack zu schnüren, den Stock in die Hand zu nehmen und mir zu Fuße durch die schönen tiefen Täler, die herrlichen, wasserreichen Wald-gründc, die schattigen Hochforste, auf die Felskämme und aussichtsreichen Bergspitzen und in die freundlichen Städte und Dörfer zu folgen.

Nur wer zu Fuße diese Gebirgs- und Waldgegenden durchwandert, ist imstande, all' das Sehenswerte auf die genußreichste Weise zu mustern; er kann aus dem tiefen Tale die steile Felswand erklimmen, die schattigsten Waldpfade einschlagen, jeden Aussichtspunkt ersteigen, nach Belieben auf dem moosigen Tannen- oder Buchengrund rasten, die zerstörten Burgen besuchen, und unter ihren Trümmern sich dem Gedanken an die Vergangenheit hingeben, in dem klaren Gewässer des einsamen Waldbaches ein stärkendes Bad nehmen, zur Erquickung einkehren, wo es ihm gefällt, das Schöne und Interessante jeder Stadt und jedes Dorfes nach Muße und Gefallen betrachten, kurz es hängt, wenn der Himmel seiner Wanderung günstig ist und ihn mit schlechter Witterung verschont, nur n seinem Willen, seiner eigenen Kraft ab. Kein schwerer Wagen, kein zerbrochenes Rad, kein lahmes Pferd, kein mürrischer Kutscher, kein schlechter Weg hemmt sein Ziel.




Wehmütig oder nachsichtig lächelnd wird man diese Ratschläge aus einem Wanderführer n 1832 lesen. Noch immer ist ja der Thüringer Wald ein beliebtes Wander- und Erholungsgebiet, mehr noch als r eineinhalb Jahrhunderten, aber gerade deshalb ist es vielfach auch mit Idylle und Ruhe rbei, die hier so gepriesen werden. Schon in der DDR-Zeit wuchs die Zahl der Erholungsstätten, und sie dürfte sich bald noch steigern, wenn auch die Touristen aus den westlichen Bundesländern den Reiz dieser Landschaft entdecken werden. Es ist ja ein im wahrsten Sinne des Wortes überschaubares und erwanderbares Gebirge. Rund hundert Kilometer zieht es sich m Werratal bei Eisenach im Nordwesten bis zum Frankenwald im Südosten, anfangs nur etwa zehn, später bis zu dreißig Kilometer breit, ein Kammgebirge, wie man es nennt, n durchschnittlich etwa 450 m Höhe. Auf seinem Untergrund aus Sandstein und Rotücgcndem bildeten sich r 250 Millionen Jahren Kuppen aus vulkanischem Gestein, die bis über 900 m emporragen, so etwa der Große Beerberg (982 m), der Große Inselberg (916 m) oder der Kickelhahn (861 m). Romantische Täler schneiden tief in das Gebirgsland ein, in dessen Südostteil die neuangelegten großen Talsperren reizlle landschaftliche Kontraste bilden. Noch dominiert hier überall der Wald, und ein im allgemeinen rauhes Klima bedingt regenreiche kurze Sommer und lange schneereiche Winter.
Mit dem Auto läßt sich heute jeder Ort im Thüringer Wald rasch und bequem, zu bequem fast, erreichen, und m richtigen und falschen Wandern am Rennsteig wird noch die Rede sein. Aber ob mit dem Auto oder zu Fuß, zu sehen und zu genießen gibt es überall im Gebirge selbst und in den Städten und Dörfern an seinen Rändern noch genug.

Eigentlich sollte unsere Reise durch den Thüringer Wald in Eisenach beginnen, doch die Stadt am Rande des Gebirges haben wir schon als Station an "des Reiches Straße kennengelernt. Deshalb wählen wir Ruhla als Ausgangspunkt, das seinen Namen dem gleichnamigen Bach verdankt, der das ehemalige Dorf gleichzeitig zu einem Ku-riosum und einem Musterbeispiel für das Elend der thüringischen Kleinstaaterei machte. Denn 1640 wurde er durch eine Landesteilung zu einem "Erbstrom, einer viel zu hochtrabenden Bezeichnung für einen Bach, der fortan den Ort in zwei Hälften teilte, deren eine zu Sachsen-Golha und die andere zu Sachsen-Eisenach gehörte. Zwar war das kein "Eiserner Vorhang, doch trotzdem schlimm genug in einer Zeit dynastischer Eigenbrötelei. Beide Ortsteile wuchsen jahrhundertelang selbständig und wurden erst 1921 zu einer Stadt zusammengeschlossen. Die beiden Kirchengemeinden brauchten sogar noch sechs Jahre länger, um sich zu einigen! Aber es ist nicht dieses Kuriosum, das den Namen Ruhla berühmt gemacht hat, sondern ein Handwerker, der "Schmied n Ruhla, wie ihn die Sage nennt. Auf der Wartburg stellte sie Moritz n Schwind in einem Wandgemälde dar, und Ludwig Bechstein hat sie in seinem "Deutschen Sagenbuch nacherzählt:
"Graf Ludwig strafte nicht gern und hörte nicht gern klagen, hatte zu allen Menschen das beste Vertrauen und wußte nicht, daß die Edeln seine Untertanen schmählich bedrückten, und daß Bürger und Bauern n ihnen viel böse Gewalt erleiden mußten, zumal die, so um ihn waren, zu verhindern wußten, daß Beschwerden an den Herrn gelangten.

Da geschah es, daß der junge Landgraf eines Abends auf einem Jagdritt sich im Forste verirrte und in die Nähe des Ortes Ruhla kam, da sah er das helle Feuer einer Waffenschmiede durch die Nacht leuchten, ging darauf zu und bat den Schmied um Herberge. Der Schmied kannte ihn nicht und fragte ihn, wer er sei. - Ich bin eures Herrn, des Landgrafen, Jäger einer. - Pfui des Landgrafen! rief der Schmied und spuckte aus und wischte sich. Wer ihn nennt, muß sein Maul wischen, daß er es nicht verunreinigt mit dem Namen, pfui des übelbarmherzigen Kunzenherrn! Um deines Herrn willen beherberge ich dich wahrhaftig nicht! Der Landgraf, ganz verwundert ob dieser groben Rede, schwieg ganz still, ging und brachte sein Pferd unter Dach und kam wieder in die Schmiede. Der Schmied kümmerte sich so viel als gar nicht um ihn, schürte sein Feuer, zog den Blasebalg, hitzte und hetzte, glühte sein Eisen, hämmerte und rief bei den Schlägen fort und fort: Landgraf Ludwig, werde hart, werde hart! Und schlug mit dem gewichtigen Hammer, daß die Funken stoben, und erzählte alles nach der Schnur her, worüber die Untertanen klagten, und schob alle Schuld und alles Unrecht, was im Lande geschah, auf den Landgrafen und verwünschte und verfluchte ihn in die unterste Hölle Dem Landgrafen erschrak das Herz im Leibe, als er aus dieser harten Stimme des Schmiedes des Volkes Stimmung gegen sich vernahm, und er nahm sich r, dem Unfug, den seine Edeln verübten, ein Ende mit Schrecken zu machen. Ganz hart geschmiedet verließ er, nachdem er kein Auge zugetan, die Ruhlaer Waldschmiede, und sein milder Sinn war in einen eisernen verkehrt. Er nahm die Zügel der Regierung in die eigene Hand und zog sie so straff, daß die edeln Rosse schäumten und knirschten und sich bäumten, aber das Volk atmete freier auf, und ward ihm wohler, denn die ritterlichen Vasallen durften es nicht mehr placken und schinden.

Der Reisende oder Wanderer wird wahrscheinlich n Ruhla aus den 916 m hohen Großen Inselberg besuchen, glücklicherweise ist ja die Auffahrt zum Gipfel gesperrt, und so bleibt selbst für den Wandermuffel noch ein Aufstieg n 1,5 Kilometern, will er m Gipfel aus den herrlichen Rundblick über den Thüringer Wald genießen, wie ihn schon r hundertfünfzig Jahren Ludwig Bechstein in seinen "Wanderungen durch Thüringen ausführlich beschrieben hat. Der Aufstieg war damals zwar noch länger, lohnte sich aber nicht nur wegen des Rundblicks, sondern auch wegen der Vesper, denn seit 1810 stand dort oben ein Gasthaus, das damals fein säuberlich in eine sächsisch-coburgische und eine preußische Hälfte geteilt war, weil die Grenze zwischen den beiden Ländern genau über den Gipfel verlief. Kenner wußten solche wirtschaftliche Zweiteilung, die Genuß aus beiden Ländern versprach, wohl zu schätzen.

Der Leser aber, der ja nicht auf Straße oder Wanderungen angewiesen ist, sollte n Ruhla aus erst einmal im Geiste auf die östliche Seite des Waldes hinüberspringen und Waltershausen besuchen. Zum ersten Male begegnen uns hier die Puppen, die wir im Thüringer Wald noch mehrfach treffen werden. Wer die Geschichte der Puppenherstellung kennenlernen möchte, sollte deshalb das Heimatmuseum im Schloß Tenneberg besuchen, aber eigentlich ist es nicht das Spielzeug, das uns hierher gelockt hat, sondern eine Schule im Ortsteil Schnepfenthal. Sie trägt als "Salzmann-Oberschule heute noch den Namen ihres Begründers. Christian Gotthilf Salzmann (1744-l811), der aus dem nördlich n Erfurt gelegenen Sömmerda stammte, hatte hier 1784 seine rasch berühmt gewordene Erziehungsanstalt gegründet. Ein neuer Geist ging n ihr aus, durch den die Pädagogik in ganz Deutschland Anregungen empfing, das spürt man auch beim Lesen der Werke Salzmanns. In dem für junge Menschen gedachten Buch "Die Reisen der Salzmannschen Zöglinge, das die Erlebnisse und Erfahrungen einer Gruppe seiner Schüler hier in Schnepfenthal und der Umgebung schildert, findet sich beispielsweise folgendes Zwiegespräch über die Juden:
"Aber die Juden sind doch sehr sonderbare Leute, essen kein Schweinefleisch, keinen Hasenbraten, wer kann denn mit solchen Leuten umgehen?

Das ist freilich wahr. Und ich muß euch noch mehr sagen; sie essen und trinken fast gar nichts mit uns. Ich habe oft meine jüdischen Freunde, wenn sie zu mir kamen, gebeten, daß sie an meiner Mahlzeit teilnehmen, oder wenigstens ein Glas Wein mit mir trinken sollten. Sie haben mich aber alle Zeit gebeten, daß ich sie mit solchen Zumutungen verschonen sollte, weil ich wohl wüßte, daß ihnen ihr Gesetz dies untersage. Das war mir freilich nicht lieb, aber böse konnte ich deswegen doch nicht auf sie sein. Sie taten ja weiter nichts, als was sie n ihren lieben Eltern gesehen und gehört hatten. Warum essen wir denn nicht auch Pferdefleisch, wie die Tataren tun? Ist's nicht wahr, deswegen, weil unsere Eltern Abscheu gegen dasselbe bezeigt haben. Handeln wir also nicht ebenso wie die Juden? Und wenn der Jude nicht mitessen und trinken will, darf ich denn deswegen nicht mit ihm essen und trinken?
Aber sie sind doch Betrüger?
Nein, meine Lieben, das gebe ich euch durchaus nicht zu. Ich habe so manchen braven Juden kennengelernt, den ich nie auf einer schlechten Tat antraf, der mir viele Beweise n Ehrlichkeit und Dienstwilligkeit gegeben hat. Und solche Leute sollten Betrüger sein? Das kann ich schlechterdings nicht zugeben. Daß es unter ihnen Betrüger gibt, leugne ich nicht. Ich selbst bin einige Male betrogen worden. Gibt es aber nicht auch Betrüger unter den Christen? Seid ihr nicht selbst bisweilen n ihnen betrogen worden? Wäre es mir nun wohl recht, wenn ein Jude geradezu sagen wollte: die Christen sind Betrüger?

Das wäre nun freilich nicht recht. Man hat ja aber gar viele Exempel, daß die Juden gegen die Christen sehr tückisch und boshaft sind. Sie haben ja bisweilen die Brunnen vergiftet, Christenkinder ermordet, und ihr Blut getrunken.
Das ist alles erlogen, meine Lieben! Das haben alles boshafte Christen erdacht. Und wenn nun Christen solche boshaften Verleumdungen den Juden nachsagen, wäre es da wohl Wunder, wenn mancher Jude tückisch und boshaft würde?3
Das wurde 1784 geschrieben, zu einer Zeit, als in Deutschland zögernd und nur unter den Gebildeten ein allmähliches Verständnis für die Juden und ihre Probleme aufkeimte.
Aber noch andere Spuren n Salzmanns pädagogischen Ideen und seinem Schulbctrieb lassen sich in Schnepfenthal verfolgen; denn noch existiert der Turnplatz mit den rekonstruierten Geräten, den er 1785 anlegen ließ und den sein Mitarbeiter GutsMuths zur ersten modernen Sportanlage umwandelte, ein weiterer Beweis für den fortschrittlichen Geist, der n Schnepfenthal ausging-
Nur wenige Kilometer südlich n Waltershausen liegt Friedrichroda, die "Waschküche Thüringens, wie es einmal genannt wurde, nicht etwa wegen seines neblig-trüben Wetters, das ist dort im Gegenteil so gut, daß die Stadt zu den ältesten und beliebtesten Sommerfrischen Thüringens zählte, sondern wegen der Garnbleichereien. Sie bildeten seit dem 17. Jahrhundert zusammen mit dem Bergbau einen wichtigen Erwerbszweig, heute sind es die zahlreichen Gäste, die alljährlich nach Friedrichsroda kommen und Erholung suchen. Für sie bietet die Umgebung genug Attraktionen, allen ran die Marienglashöhle. Die seltenen durchscheinenden Gipskristalle, die wir hier bewundern, wurden im 19. Jahrhundert gern zum Schmuck n Marienbildern verwendet, und so erhielt die Höhle ihren Namen. Und natürlich gehört auch das Schloß Reinhardsbrunn dazu, ein neogotischer Bau, den sich die Gothaer Herzöge 1827-35 als Jagdschloß erbauen ließen und der heute ein Hotel beherbergt. Der Gast kann dort dan träumen, daß sich unter dem gleichen Dach schon die junge Queen Victoria mit dem Prinzen Albert n Coburg-Gotha, ihrem späteren Gemahl, traf und sich eine Romanze anbahnte, die heute der Regenbogenpresse ausreichend Stoff für aufregende Berichte bieten würde.

Aber weit wichtiger als königliche Liebesgeschichten ist in Reinhardsbrunn die Erinnerung an ein Kloster, das wichtigste einst in Thüringen. Ludwig der Springer hatte es schon 1085 hier in der Nähe der Schauenburg, des Stammsitzes des ludowingischen Geschlechts, gegründet. Benediktinermönche aus Hirsau im Schwarzwald übernahmen es und förderten seinen Aufstieg. Das wiederum ließ die den Ludowingern benachbarten Grafen n Schwarzburg-Käfernburg nicht ruhen, die in dem nur sieben Kilometer entfernten Georgenthal ihrerseits ein Zisterzienserkloster gründeten. Die beiden Klostergemeinschaften rivalisierten miteinander - durchaus zum Vorteil der Bevölkerung. Ihre große Zeit aber endete mit der Reformation, im Bauernkrieg wurden sie beide n den Mönchen verlassen und verfielen allmählich. Die wenigen erhaltenen Grabsteine der Lu-dowinger wurden 1952 nach Eisenach in die Georgenkirche überführt, und auch in Georgenthal erinnern nur noch ein paar Ruinen und das gotische Kornhaus an seine einstige Größe.
Südlich Friedrichroda liegt Finsterbergen. Wer n den zahlreichen Touristen, die auch diesen Ferienort alljährlich bevölkern, denkt schon daran, daß er jahrhundertelang zu den bekanntesten Fuhrmannsdörfern im Thüringer Wald gehörte und daß hier später wie in Waltershausen die Pup-penmacherei für kärglichen Verdienst sorgte? Der dänische Schriftsteller Martin Andersen-Nexö, der Finsterbergen 1911 als Kurgast besucht hatte, wählte den Ort zum Schauplatz seiner Erzählung "Die Puppe, in der er die soziale Not seiner Bewohner beschrieb:
"In der Gegend um Finsterbergen werden hauptsächlich Puppen hergestellt. Es bedarf großer Fingerfertigkeit, mit dieser Arbeit einigermaßen Brot ins Haus zu schaffen; deshalb ist der Mann die am wenigsten wichtige Person des Haushalts. Die Frau bedeutet etwas mehr, aber die Kinder sind die eigentlichen Versorger, hier bedeuten viele Kinder ausnahmsweise einmal gutes Auskommen. Das Ehepaar Gässert hatte nur ein einziges Kind, obendrein einen Spätling Sie wohnten hoch oben im Leinatal, an der ersten Berglehne, über welche die Leina hinweg muß; die Hütte war auf allen Seiten n dichtem Tannenwald umgeben. Durch die beiden kleinen Fenster der Stube hatte man anfänglich weit das Tal hinuntersehen können und - durch einen Einschnitt in den entfernteren Waldbergen - noch weiter hinaus bis in die Ebene mit dem Erfurter Dom in der Ferne. Aber die Tannen säten sich selber r der Hütte aus, und Gässert ließ sie wachsen. Wenn die Frau sie beseitigen wollte, schalt er. ,Was sollen wir mit der Aussicht?' fragte er. ,Wir bringen es ja doch nie zu was. Mag nur der schwarze Wald uns einschließen!'

Und der Wald schloß sich um sie. Wenn der kleine Junge einen Schimmer der Welt erhaschen wollte, mußte er sich weiter und weiter n der Hütte entfernen. Auf diese Weise machte er sich frühzeitig mit dem Gedanken vertraut, daß es zu Glück und Freude ein weiter Weg ist. Er hatte immer seltener Zeit, bis zu der Lichtung zu laufen und in die offene, freie Welt hinauszuspähen, denn schon n seinem vierten Jahr an mußte er für sein Brot arbeiten. Er mußte die halben Pup-penlcibcr wenden, die eben aus den Steinformen herausgenommen worden waren und zum Trocknen auf den Felsplatten hinter der Hütte lagen; und bald mußte er mit seinen kleinen Fingern die aufgeweichte Pappmasse in die Formen pressen, während die Mutter die Ränder sauber beschnitt und die Masse wieder rsichtig aus der Form nahm. Dies war eine Arbeit, die ihm noch nicht anvertraut werden durfte, und darüber war er froh.

Die Arbeil hatte seinen kindlichen Ehrgeiz bereits aufgezehrt; er sah mit Grauen jener Erklärung entgegen, daß er nun zu diesem oder jenem groß genug sei.
Es ist nicht gut, einziges Kind zu sein, wenn das Auskommen n einer großen Kinderschar abhängt; und wenn sich der kleine Heinz durch den Hunger verführen ließ, Roggenmehlkleister zu naschen, bekam er m Vater Prügel.4
Um n hier nach Oberhof im Herzen des Thüringer Waldes zu gelangen, wählen wir den Weg über Georgenthal nach Ohrdruf. Hier hatte 732 Bonifatius, der "Apostel der Deutschen, seine Missionsarbeit in Thüringen aufgenommen und eine Kirche gegründet, die vielleicht an der Stelle des heutigen Schlosses Ehrenstein stand. Auf der Weiterfahrt nach Oberhof wird kein an Technikgeschichte interessierter Tourist versäumen, r der Stadt den Tobiashammer zu besichtigen, der n 1482-l977 als Hammerwerk in Betrieb war und heute zu einem sehenswerten Technikmuseum umgebaut ist. Noch funktionieren die beiden n vier Wasserrädern angetriebenen Hammerstellen wie seit fünf Jahrhunderten. Über Luiscnthal und rbei an der landschaftlich reizll gelegenen Ohra-Talsperre geht es nach Oberhof auf der Paßhöhe der Straße, die Erfurt mit Meiningen und dem Fränkischen Grabfeld verbindet. Hier lag schon im ausgehenden Mittelalter der Obere Hof, eine Herberge, wo Fuhrleute ausspannen und rasten konnten. Noch zu Beginn des 18. Jahrhunderts lebten in der kleinen Gemeinde erst 150 Einwohner, aber schon Ende des 19. Jahrhunderts entwickelte sich Oberhof rasch zu einem Luftkurort und seit den zwanziger Jahren zu einem Win-tcrsportplalz. Sein Wahrzeichen sind moderne Hotels, allen ran die Pyramide des Interhotels.
Aber für die rund eine Million Tagestouristen, die im Laufe eines Jahres hierher kommen, gibt es immer noch genug Wandermöglichkeiten; denn gleich hinter dem Ort quert der Rennsteig die Autostraße. In rund 168 Kilometer Länge verläuft dieser alte Verkehrs- und moderne Wanderweg über die Höhen des Thüringer Waldes. Seinen Namen als "Rynslig hat er n der "Rynne, der Grenze zwischen den zahlreichen kleinen Fürstentümern, die hier am Kamm entlang lief. Viktor n Scheffel, der Thüringen mehrfach besuchte, hat ihm in seinem "Biterolf ein literarisches Denkmal gesetzt:

"Ein deutscher Bergpfad ist's! Die Städte flieht er Und keucht zum Kamm des Waldgebirgs hinauf, Durch Laubgehölz und Tannendunkel zieht er Und birgt im Dickicht seinen scheuen Lauf. Das Eichhorn kann n Ast zu Ast sich
schwingen. So weit er reicht, und nicht zum Boden springen. Der Rennstieg ist's: die alte Landesscheidc, Die n der Werra bis zur Saale rennt Und Recht und Sitte, Wildbann und Gejaide Der Thüringer n dem der Franken trennt. Du sprichst mit Fug, steigst du auf jenem Raine: Hie rechts, hie links! Hie Deutschlands Süd,
dort Nord Wenn hie der Schnee schmilzt, strömt sein
Gruß zum Maine, Was dort zu Tal träuft, rinnt zur Elbe fort; Doch auch das Leben weiß den Pfad zu finden, Was Menschen trennt, das muß sie auch verbinden. Verschollner Völker dunkle Wanderungen, Kampf um den Landhag Überfall und
Flucht Kriegswiese Mordfleck Richtstatt:
Manch verklungen Geheimnis schwebt um Höhensaum und
Schlucht. Und wer zu hören weiß in frommem Lausche», Wie herrlicher als Lied und Kunstgedicht, In stundenlangem leisen Wipfelrauschen Des Waldes Seele mit sich selber spricht. Der muß, wenn sommerliche Lüfte wehen, Auf diesem Stieg als Wandrer sich ergehen.

Heute ist der Rennsteig n Hörschel bei Eisenach bis Blankenstein an der Saale überall deutlich durch sein R markiert. Alljährlich wandern hier zahllose Touristen, und es schadet gar nichts, wenn sie dabei gelegentlich einmal n der Route abweichen und die Orte am Rande des Gebirges aufsuchen, wie es jeder Kenner empfiehlt. Ob allerdings der "GutsMuths Rcnnsteiglauf so empfehlenswert und sinnll ist, der seit 1973 hier n Amateuren durchgeführt wird und längst in eine Massenveranstaltung auszuarten droht, muß jeder selbst je nach Einstellung zu solchen Konditionsübungen entscheiden.
Von Oberhof aus bieten sich zwei Möglichkeiten zur Weiterfahrt; entweder westwärts nach Suhl oder auf die Ostseite des Waldes nach Ilmenau.

Wer Suhl nennt, denkt auch heute noch an Waffen, so sehr hat sich der alle Begriff n der "Thüringischen Gewehrschmiede seit Jahrhunderten im Bewußtsein festgesetzt. Schon im ausgehenden Mittelalter hatte im Tal der Lauter und der Hasel die Eisengewinnung einen hohen Stand erreicht. Nürnberger und Augsburger Büchsenschmiede nutzten seit der Mitte des 16. Jahrhunderts die sich bietenden Möglichkeiten und begannen mit der Waffenerzeugung. Schon zu Beginn des 17. Jahrhunderts arbeiteten etwa zweihundert Waffenschmiede in der Stadt und lieferten Gewehre und Pistolen nach ganz Europa, wo immer sich nur gute Absatzmöglichkeiten boten, und da diese in den unruhigen Kriegszeiten überall gleichermaßen gut waren, florierte das Geschäft, bis 1634 kaiserliche Truppen unter Graf Isolani Suhl niederbrannten. Für die Stadt war es ein schwerer Rückschlag, n dem sie sich zwar erholte, aber im Zuge des Wiederaufbaus stellten sich die Waffenschmiede zunehmend auf die Erzeugung n Jagdwaffen um, als deren Herstellungsort Suhl auch heute noch Weltgeltung hat.
Ilmenau, das zweite Ziel n Oberhof aus, liegt am nordöstlichen Hang des Thüringer Waldes im Tal der Um. Es gibt wohl nach Weimar keine Stadt in Thüringen, die so eng mit Goethe verbunden ist wie diese alte Bergbausiedlung. Fachleute haben ausgerechnet, daß der Dichter achtundzwanzigmal und insgesamt 220 Tage hier weilte. In seiner Eigenschaft als Staatsminister, dem auch der Bergbaubetrieb unterstellt war, suchte er die wirtschaftlichen Zustände der Gemeinde zu verbessern, und wenn auch seine Pläne, den Bergbau zu erneuern, scheiterten, so half er doch, wo er konnte, schätzte das Städtchen zeitlebens und widmete ihm auch ein berühmtes Gedicht:

"Anmutig Tal! du immergrüner Hain! Mein Herz begrüßt euch wieder auf das beste. Entfaltet mir die schwerbehangnen Aste, Nehmt freundlich mich in eure Schatten ein. Erquickt n euren Höhn, am Tag der Lieb'
und Lust, Mit frischer Luft und Balsam meine Brust!
Wie kehrt ich oft mit wechselndem Geschicke, Erhabner Berg, an deinen Fuß zurücke! O laß mich heut an deinen sachten Höhn Ein jugendlich, ein neues Eden sehn!

Ich hab' es wohl auch mit um euch verdienet: Ich sorge still, indes ihr ruhig grünet.
Laßt mich vergessen, daß auch hier die Welt So manch Geschöpf in Erdefesseln hält, Der Landmann leichtem Sand den Samen anvertraut Und seinen Kohl dem frechen Wilde baut. Der Knappe karges Brot in Klüften sucht, Der Köhler zittert, wenn der Jäger flucht. Verjüngt euch mir, wie ihr es oft getan. Als fing' ich heut ein neues Leben an.
Ihr seid mir hold, ihr gönnt mir diese Träume, Sie schmeicheln mir und locken alte Reime. Mir wieder selbst, n allen Menschen fern. Wie bad ich mich in euren Düften gern!

Selten wird Goethes Verbindung mit der Natur so deutlich wie gerade in Ilmenau und seiner Umgebung, und wenn wir die Gedenkstätte in dem 1616 erbauten Amtshaus am Marktplatz besucht und einen Augenblick r dem Gasthaus "Zum Löwen verweilt haben, wo der Zweiundachtzigjährige den letzten Geburtstag seines Lebens feierte, sollten wir den romantischen Spuren des Goethe-Wanderweges nachgehen - zumindest die Strecke n Ma-nebach oder n Stützerbach auf den Kickelhahn hinauf. Überall ist hier immer noch Goethe gegenwärtig. In Manebach weilte er verschiedentlich im Hause des dortigen Kantors. Vom Ortsrand aus führt der Weg rbei an der Marienquelle und der "Helenenruh zum Großen Hermannstein und weiter hinauf auf den 861 m hohen Kickelhahn. Das Goethe-Häuschen dort oben ist zwar nicht mehr das alte, sondern nach einem Brand 1874 in der ursprünglichen Form neu errichtet, aber es erinnert daran, daß Goethe hier am Abend des 6. September 1788 die in ihrer einfachen klaren Sprache so eindrucksllen Zeilen n "Ein Gleiches schrieb. Nicht weniger beeindruckend ist auch ein Bericht, den der Rentamtmann J. Chr. Mahr m letzten Besuch Goethes am 27. August 1831 auf dem Kickelhahn gibt:

"Wir fuhren bei ganz heiterem Wetter über Ga-bclbach nach der Bergspitze zu Auf dem Gigel-hahn angelangt, stiegen wir aus, Goethe ging ziemlich rüstig bis an die nach Ilmenau zu gelegene Aussichtsstelle und rief mehrmals: ,Herrlich! Herrlich!' Dann sagte er zu mir gewendet: ,Ach hätte doch das Schöne mein guter Durchlauchtigster Großherzog Carl August noch einmal sehen können!' Hierauf sagte er: ,Das kleine Waldhaus muß hier in der Nähe sein? Ich kann zu Fuß dahin gehen, und die Chaise soll hier so lange warten, bis wir zurückkommen.' Goethe schritt trotz seines hohen Alters ziemlich rüstig über den mit Hei-delbeersträuchern bewachsenen Platz nach dem kleinen, aus nur zwei übereinanderliegenden Stuben n sehr geringer Dimension bestehenden Forstschutz-Häuschen, welches nach drei Seiten mit Fenstern versehen, in früherer Zeit, als die nahestehenden Tannen es noch nicht teilweise überwachsen hatten, eine sehr schöne Aussicht gehabt haben mag. Die zur oberen Stube führende Treppe ist weit außen angebaut, überdeckt, etwas steiler als gewöhnlich. Die untere Stube besah er nicht, sondern ging gleich nach oben. In Anbetracht seines hohen Alters glaubte ich ihm beim Aufgang meine Hilfe anbieten zu müssen, er wies dieselbe freundlich dankend mit den Worten zurück: ,Das Aufsteigen geht noch recht gut.' Beim Eintritt in das obere Zimmer sagte Goethe: ,lch habe in früherer Zeit einmal hier im Sommer mit meinem Bedienten acht Tage gewohnt und damals einen kleinen Vers an die Wand geschrieben. Wohl möcht ich diesen Vers nochmals sehen, und wenn der Tag darunter bemerkt ist, an welchem es geschrieben, so haben sie die Güte, mir solchen aufzuzeichnen.' Sogleich führte ich ihn an das nach Süden zu gehende Fenster; da stand an der linken hölzernen Fensterbekleidung mit Bleistift

Über allen Gipfeln ist Ruh,
In allen Wipfeln spürest du
Kaum einen Hauch;
Die Vögel schweigen im Walde,
Warte nur, balde
Ruhest du auch.
den 7. September 1783.

Goethe

Goethe las die Verse und schien tief bewegt. Ganz langsam zog er sein weißes Taschentuch aus seinem dunkelbraunen langen Tuchrock, trocknete sich die Tränen und wiederholte langsam und wehmütig: Ja, warte nur, balde ruhest du auch.' Dann schwieg er eine kleine Weile, überflog mit den Augen nochmals durch das südliche Fenster die schöne Waldaussichl nach Stützerbach zu und wandte sich mit den Worten nach mir: ,Nun wollen wir gehen!'

Der etwas längere Abstieg wieder ins Tal hinunter führt am Jagdhaus Gabelbach rbei nach Stützerbach. Das Jagdhaus war 1783 für den Weimarer Hof errichtet worden. Wer sich über Goethes naturwissenschaftliche Studien im Thüringer Wald informieren möchte, wird in der hier eingerichteten Gedenkstätte eine kleine Ausstellung mit seltenem Material finden. Gegen Ende des rigen Jahrhunderts hatte hier die "Gabclbachge-meinde ihren Sitz, eine heute kaum noch bekannte llmcnauer Honoratiorenvercinigung, der unter anderem Viktor n Scheffel und Rudolf Baumbach angehörten. An letzteren erinnert heute noch ein Denkmal gegenüber dem Jagdhaus. Er stammte aus der Nähe n Weimar, wo er 1840 in Kranichfeld geboren wurde, und ist der Schöpfer zahlreicher, auch heute noch beliebter lkstümlicher Lieder wie die "Lindenwirtin oder "Hoch auf dem gelben Wagen. Er starb 1905 in Meiningen.
Stützerbach im Tal war ähnlich wie Ruhla ein Opfer der thüringischen Kleinstaaterei; denn auch hier trennte der Dorfbach jahrhundertelang in eine kurfürstlich-sächsische und eine weimarische Hälfte. In letzterer lag das Haus des Glashüttenbesitzers Gundelach, in dem Goethe rund ein dutzendmal zu Gast weilte. Aber bei einem Besuch hier im Ort sollte man nicht nur an ihn denken, sondern auch an die geschickten Glasbläser, die zum ersten Male in Deutschland Fieberthermometer und Glühbirnen herstellten.

Wenn wir auf dem Rückweg n Stützerbach nach Ilmenau noch einmal über Manebach kommen, sollten wir das "Schöffenhaus aufsuchen. Hier weilte der Bildhauer, Metallforscher und Dichter Kurt Kluge zu Gast und wählte den Wirt und Erbauer des Gasthofes Alexander Wörmer zum Vorbild jenes "Herrn Kortüm, der heute zu den großen kauzigen Romanuren der deutschen Literatur zählt. Jenen Kortüm, den das Schicksal n der Waterkant auf eine Paßhöhe des Thüringer Waldes geführt hatte, wo er als Wirt des "Schottenhauses seßhaft wurde. In einer an Jean Paul und Wilhelm Raabc erinnernden Sprache erzählt Kluge n Größe und Tragik Kortüms, dieses Genies und Weltverbesserers, der selbst zu einem Stück Thüringer Waldes wird und dem längst hier ein Denkmal gebühren würde, nicht zuletzt auch als ein Stück der n alters her berühmt-ge-rühmten Thüringer Gastlichkeit. Nur wer erwartete, daß dieser erzene Herr Kortüm dann gestatten würde, daß man an Sommertagen r seinem Denkmal an einem Stand die nicht weniger berühmten Thüringer Bratwürste verkaufte, der sähe sich getäuscht, legte Kortüm doch stets größten Wert auf gepflegten Umgang mit Speisen und Gästen! Neben ihm sind es die Tagelöhner, Besenbinder, Maskenmacher, arme Lehrer, denen Kluges Sympathien gehörten und die er in seinem Roman beschreibt:

"Das Gebirge lag tief im Schnee. Es war kalt, aber die Mittagssonne brachte die dicken Schnee-bchänge auf den Zweigen zum Tropfen. Bilmes stieg den Heidpfad herauf. Er trug sorgsam ein Päckchen mit Eiern, Speck und einem Pfund Schmalz unter dem Arme. Als er nahe r seiner Waldhüterstclle am Heidstein war, wandte er sich um und sah unzufrieden hinter sich: die Wege hier oben gehörten ihm und dem Wild. Jetzt zogen Skibahnen durch den Schnee. Seit das Theater im Schottenhaus spielte, war der verborgenste Jägerpfad nicht sicher r den Festgästen. Am Abend guckten sich die Sladtleute die Komödianten an, und am Tag rutschten sie wie Besessene die Schneebahnen im Wald hinunter. Diese Spuren der wilden Männer und Weiber kränkten Bilmes -trotzdem sah er sie noch einmal an. Seit dem Kriege mußte er immer zurückblicken. Er fühlte etwas hinter sich tappen. Was es war, konnte er nie feststellen. Als ob ihm jemand nachging. Er blickte kopfschüttelnd auf seinen kurzen Mittagsschatten im Schnee. Der Schatten war es nicht: Nein, der tappte nicht.
Vielleicht war es sein Freund Mämpel. Ungeduldig tappte Mämpel in der Heidhütte herum und wartete auf die Eier und den Speck. Er hatte Heu in die Wildraufen gebracht und war hungrig. Die Vorarbeit zum Mittagessen war längst besorgt. Mämpel hatte Holz gespalten, Feuer in dem kleinen Herd gemacht, den Kaffeetopf aufgestellt, die Pfanne mit einer Speckschwarte ausgewischt -jetzt klappte er die obere Hälfte der Tür auf und lugte ins Freie: da stand dieser Evangeliste am Meilerschlag, den Speck unterm Arm, murmelte r sich hin und fuchtelte mit den Armen.

,He! Nu komm doch und pred'ge nich!'
Bilmes sah zu ihm hin, besann sich und stapfte durch den Schnee heran. An der Holzstufe schlug er die Schneeklumpen n den Hacken und gab Mämpel die Eier: ,Sachtchen. Zerbrich se nich.'
Er band sein Wolltuch ab, das er dreimal um den Hals geschlungen hatte, hing die Fellmütze an den Nagel und zog die Handschuhe aus: ,Schöne warm hier.'
,Wo warste denn so lange?' fragte Mämpel und schnitt die gekochten Kartoffeln in Scheiben.
,Im Schottenhaus.'
,Hä, Kortüm-Geld?'
,Kortüm-Geld' war ein neues Wort im oberen llmtale. Früher verbanden die Leute mit dem Wort Kortüm die Vorstellung Ohnegeld. Jetzt gab es plötzlich Kortüm-Geld im Land. Vom Schottenhaus rieselten nach allen Seilen schmale Geldrinnsale in die Täler hinunter und verschwanden in den Taschen der Einwohner. Der Volksmund sprach wahr: Herr Kortüm hatte dieses Geld gezeugt. Nun der Herr Kortüm - der sah es bloß n hinten: es lief n ihm weg.
,Wie viel Fuhren Tannzweige hast'n du eigentlich gemacht, Bilmes?'
,Fünfe nach Esperstedt und dreie nach Besenrode nunter.'
,Das sin achte. Ich habe bloß sechse.'
,Du hast dafür de Fahnen aufgezogen.'
Mämpel nickte: ,Wciste, Herr Kortüm hat's doch in sich, verdammig nochämal. Der-wjrd schöne verdient haben. Die schippen doch's Geld bloß so. Als ich meins holte, hatte er lauter so kleine Rollen aufm Tisch stehn, immer eine neben der andern. Und da knipst er so einem Ding ein-fach'n Kopp ab, dreht's rum, un nu hähähä liefen de Taler raus. Wie wenn's gar nischt wäre. Du, un wenn er einen dann so auszahlt: Peng peng peng schmeißt er de Taler auf'n Tisch, ganz weit n oben runler.'8
Zwanzig Kilometer sind es nur ilmabwärts in die Vorberge des Thüringer Waldes bis nach Arnstadt, das wir längst schon n Gotha oder n den Drei Gleichen aus hätten aufsuchen können. Immerhin zählt es zu den ältesten Städten Thüringens, sein Name taucht schon 704 in einer Urkunde des fränkischen Herzogs Hedens auf, im 10. Jahrhundert war es schon so angesehen, daß König Otto I. hier einen Reichstag abhielt. Später nahmen es die Grafen n Schwarzburg-Kafern-burg in ihren Besitz, und als diese Ende des 17. Jahrhunderts in den Fürstenstand aufstiegen, erhielt Arnstadt mit ihnen den Rang einer fürstlichen Residenz. Damals wirkte auch die Musiker-familie Bach in der Stadt, und n 1703-05 war der junge Johann Sebastian Organist an der Neuen Kirche, die heute nach ihm benannt ist. Sein Sohn Carl Philipp Emmanuel erzählte später, welche Rolle die Stadt im Leben der Familie gespielt hat:
"Da sie unmöglich alle an einem einzigen Ort beysammen leben konnten, so wollten sie sich doch wenigstens einmal im Jahre sehen, und bestimmten einen gewissen Tag, an dem sie sich sämtlich an einem dazu gewählten Orte einfinden mußten. Der Versammlungsort war gewöhnlich Erfurt, Eisenach oder Arnstadt. Die Art und Weise, wie sie die Zeit während dieser Zusammenkünfte hinbrachten, war ganz musikalisch.
Da die Gesellschaft aus lauter Cantoren, Organisten und Stadtmusikanten bestand, die sämtlich mit der Kirche zu thun hatten, und es überhaupt damals noch eine Gewohnheit war, alle Dinge mit Religion anzufangen, so wurde, wenn sie versammelt waren, zuerst ein Choral angestimmt. Von diesem andächtigen Anfang gingen sie zu Scherzen über, die häu sehr gegen denselben abstachen. Sie sangen nämlich nun Volkslieder, teils n possierlichem, teils auch n schlüpfrigem Inhalt zugleich miteinander aus dem Stegreif so, daß zwar die verschiedenen extemporierten Stimmen eine Art n Harmonie ausmachten, die Texte aber in jeder Stimme anderen Inhalts waren. Sie nannten die Art n extemporierter Zusammenstimmung Quodlibet, und konnten nicht nur selbst recht n ganzem Herzen dabei lachen, sondern erregten auch ein ebenso herzliches und unwiderstehliches Lachen bey jedem, der sie hörte.

Auf die Glanzzeit der kleinen Residenz geht auch das Neue Palais zurück und in ihm die berühmte Puppensammlung "Mon Plaisir. Fast vier Jahrzehnte wurde an ihr gearbeitet, und die sammelwütige, verschwenderische Fürstin Auguste Dorothea spannte ihren ganzen Hofstaat für das Basteln ein, so mußte beispielsweise der Hofprediger, ein Franziskanerpater, die Köpfe der Puppen fertigen. Was dabei herauskam, kann sich bis heute sehen lassen, entstanden doch zweiundachtzig Zimmer mit über vierhundert Puppen, die bis in alle Einzelheiten das Alltagsleben bei Hofe und in den Bürgerhäusern im 18. Jahrhundert spiegeln, eine kulturgeschichtliche Fundgrube ohnegleichen!
Arnstadt erinnert auch an zwei bekannte Erfolgsschriftsteller des 19. Jahrhunderts. So lebte n 1852 bis zu seinem Tode 1871 der aus Breslau stammende G. W. H. Häring hier, der unter dem Pseudonym Willibald Alexis eine Reihe bekannter Romane mit Stoffen aus der brandenburgisch-preußischen Geschichte geschrieben hatte, darunter als den wohl bekanntesten "Die Hosen des Herrn n Bredow. Auf dem Alten Friedhof liegt er begraben, und ein Gedenkstein in den Gera-Anlagen erinnert an ihn wie auch eine kleine Ausstellung im Schloß. Und 1825 wurde in Arnstadt Eugenie John geboren, die n 1863 an in ihrer Heimatstadt lebte und als Eugenie Marlitt zu einer der populärsten Schriftstellerinnen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde. Ihre Unterhaltungsromane erschienen alle in der Familienzeitschrift "Die Gartenlaube und finden auch heute noch in Neuausgaben ihr Schmökerpublikum. Arnstadt ist unschwer als Schauplatz ihres wohl bekanntesten Romans "Das Geheimnis der alten Mamsell wiederzuerkennen, und in der "Reichsgräfin Gisela schildert sie das Winterende im Thüringer Wald:

"So war der Winter verflossen, ein so strenger und weißer Winter, wie er den Thüringer Wald seit langen Jahren nicht heimgesucht hatte. Das erste lustige Flockengewimmel, das die Pfarrerin n Neuenfels so freudig begrüßt hatte, war der Vorläufer eines ungeheuren Schneefalls gewesen. Vorzüglich droben in den höchsten Gebirgsregio-nen hatte es monatelang so unermüdlich und fortgesetzt geschneit, daß die Häuser Tag für Tag tiefer einsanken in ihr weißes Grab, bis schließlich nur noch hier und da der schornsteingekrönte Holzfirsl wie eine graue Linie auf dem flimmernden Weiß lag; niedrigere Hütten aber ließen nicht einmal diese Spur ihres Daseins auf der Oberfläche zurück. Die Bewohner stiegen durch den Rauchfang aus und ein, und es kam r, daß Wanderer, die in der unkenntlich gewordenen Gegend den Weg verloren hatten, zu ihrem Entsetzen urplötzlich versanken und mit Blitzesschnelle in einen engen Schacht einfuhren, um sich drunten auf der Herdplatte, inmitten sehr erschrockener Gesichter, wieder zu finden. Warm war's da unten in der tiefen Finsternis, die der knisternde Kienspan oder das qualmende Öllämpchen matt durchleuchteten - an Feuerung fehlte es nicht; aber der Topf, der im Ofen brodelte, enthielt kaum die Hälfte der gewohnten täglichen Mahlzeiten, ja, öfter noch stand er feiernd auf dem Kuchenbrett, und die eingesargten Leute gingen hungrig zu Bette. Der im vergangenen Herbst so kärglich eingeheimste Kartoffelrrat ging rasch zu Ende, und wehe dem armen Waldbewohner, wenn ihm diese Quelle versiegt! Die Kartoffel vertritt bei ihm Fleisch und Brot; er ißt sie gebraten oder in der Pfanne gebak-ken zu seinem dünnen, elenden Kaffee, mit dem die erquickende Mokkabohne gewöhnlich nur noch den Namen gemein hat. Damit sättigt er sich oft monatelang, und eine einzige Mißernte läßt sofort das Gespenst der Hungersnot auftauchen.
Nun klangen die Osterglocken durch die weißen Täler, und als ob er nur auf diese ersten Frühlingsstimmen gewartet hätte, flog ein warmer Tauwind auf und streifte hin über die hochgetürmten Schneezinnen der Berggipfel, über die Tausende zackcngeschmücktcn Eispyramiden, die der Fichtenwald hoch hinauf nach den Wolken reckte. Das ist bei hohem Schneefall stets eine verhängnislle Zeit für einzelne Täler des Thüringer Waldes Es tropft leise, leise n den glitzernden Eisnadeln herab auf die Schneedecke, die außen wie ein blanker Schild noch trotzig und scheinbar siegreich die Strahlen der heiteren Märzsonne zurückwirft, während unter ihr bereits kleine Wasseradern pulsieren. Das geräuschlose Durchsickern verwandelt sich allmählich zu Rinnen und Rieseln, zu tausendfältigen schmalen Bächlcin, die gnomenhaft wühlend laleinwärts streben. Die häuserhohe Schneeschichl sinkt ein, ihre marmorglatte, zu körnigem Eis erhärtete Oberfläche zerbirst, und aus den Spalten steigen gurgelnd und brodelnd die unterirdischen, schmutziggelben Wasser Nun dringt auch das Tageslicht wieder durch die Hütten fenster, aber mit bange klopfendem Herzen sehen die Bewohner den schäumenden Wasserschwall n den Bergen stürzen. Wohl mündet er anfänglich in den kleinen Fluß, der über die Talsohle hinrauscht und friedlich die Mühlen treibt -eine kurze Zeit wälzen sich die trüben, losgerissenen Felsstücke und entwurzelten Bäume mit schleppenden Wogen in dem schmalen Bett, allein sie schwellen und steigen beharrlich.

Die beiden letzten Stationen unseres Ausflugs in den Thüringer Wald liegen im Südosten, dort, wo das Gebirge in den Frankenwald übergeht. Lauscha ist eine Glashüttensiedlung, die schon 1597 n einem böhmischen und einem schwäbischen Glasmacher begründet wurde, die beide wegen ihres Glaubens ihre Heimat hatten verlassen müssen. Die Glaserzeugung bestimmte das stetig karge Leben hier am Hang des Gebirges, viele wanderten aus, nahmen ihre Kunst mit in andere Länder bis nach Amerika. Im 18. Jahrhundert begannen die Glasmacher mit der Erzeugung n Flaschen, später stellten sie sich auf die Herstellung n Glasperlen um, und 1825 gelang einem Lauschaer Glasmacher die Herstellung lebensge-treuer künstlicher Augen, kleine Meisterwerke. die zwar bald in alle Welt gingen, an denen aber trotzdem nicht viel verdient war, und schließlich kam seit Ende des 19. Jahrhunderts noch die Erzeugung n Christbaumschmuck dazu, der heute längst maschinell hergestellt wird.
In Sonneberg am Südrand des Thüringer Waldes begrüßen uns zum Abschied noch einmal Puppen, die dort seit dem ausgehenden Mittelalter das Wirtschaftsleben des Ortes prägen. Die ältesten waren aus Holz und wurden bemalt. Nürnberger Kaufleute sorgten für ihren Absatz. Nach dem Dreißigjährigen Krieg mußten sich die Sonncber-ger Händler mehr und mehr selbst um den Vertrieb kümmern. Das Geschäft verbesserte sich, als um die Mitte des 18. Jahrhunderts die Puppen n den sogenannten Bossierern aus einer Mischung aus Schwarzbrotteig, Leim und Wasser hergestellt wurden. Gegen Ende des Jahrhunderts gingen die Hersteller auf Pappmache über und statteten die Puppen mit beweglichen Gliedmaßen aus. An die Stelle der Heimarbeit trat die fabrikmäßige Herstellung, die der Heimarbeit in den kleinen Orten des Thüringer Waldes überlegen war und das Ansehen Sonnebergs als Spielzcugstadt in aller Welt festigte. Wer die Entwicklung einmal genauer verfolgen möchte, muß nur das berühmte Spielzeug-museum in der Stadt besuchen. Dort gesellen sich zu den Sonneberger Produkten n den "Reiterlein bis zum modernen Spielzeug auch alte und neue Puppen aus aller Welt, und alles gipfelt in dem köstlichen, schon auf der Weltausstellung n 1910 gezeigten Puppendiorama "Thüringer Kirmes. Und mit diesem vergnüglichen Bild r Augen verabschieden wir uns m Thüringer Wald.







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