REFERAT-MenüArchaologieBiographienDeutschEnglischFranzosischGeographie
 GeschichteInformatikKunst und KulturLiteraturMarketingMedizin
 MusikPhysikPolitikTechnik

Im Anfang war die Obrigkeit - Luther, Weimar und die Ehe von Thron und Altar

Im Anfang war die Obrigkeit - Luther, Weimar und die Ehe von Thron und Altar

In Stiefel und Sporn, sagt die Fama, hat der Pfarrherr auf der Kanzel gestanden. Das war zu Weimars lustiger Zeit, als mit dem jungen Frankfurter Advokaten Goethe Sturm und Drang in die abgelegene, idyllische Residenz einbrach und höfische Etikette plötzlich nichts mehr zu gelten schien. Da überbot man sich an Tollheiten, ritt die wildesten Jagden über Stock und Stein, zechte, gabundierte und tanzte mit den Mägden auf den Dörfern, Selbst der Pastor Primarius, Kirchenrat und Oberhofprediger Johann Gottfried Herder soll gelegentlich mit von der Partie gewesen sein. Als Superintendent der höchste Beamte des geistlichen Standes, war er eine Art Landesbischof von Sachsen-Weimar und damit Herr über ein Juwel der Reformation: die Stadtkirche St. Peter und Paul, in der schon Martin Luther mehrfach gepredigt hatte. Zwei mächtige Bronzeplatten unter dem Triumphbogen in der Mittelachse künden davon, daß hier, neben seiner Frau Sybille, Johann Friedrich begraben liegt, der die Protestanten gegen Karl V. führte und unterlag. Cranach der Altere hat ihn auf einem Seitenflügel seines berühmten Triptychons für St. Peter und Paul festgehalten, auf jenem Altarbild, das Goethe, kaum in Weimar eingetroffen, bewundert und davon Herder berichtet hat, der damals noch in Bückeburg tätig war.




Da kniet Johann Friedrich, den man den Großmütigen nennt, die Hände zum Gebet gefaltet; ungemein breitgesichtig schaut er aus, hat dunkle, kurzgeschorenc Haare, dunkelbraune Augen, den gekräuselten Bart trägt er lang, aber wohlgeschnitten, mit einem Schnauzer darüber, ein Typ von unverkennbar slawischem Finschlag. Ein wenig aufgeschwemmt hat ihn der treue Cranach festgehalten, sichtlich scheint sein Herzog mit der Trunksucht, dem Laster der Deutschen, geschlagen, das freilich auch seinem theologischen und politischen Berater Luther nicht fremd gewesen. Sagt der doch einmal von sich, er fresse wie der Böhm und saufe wie ein Deutscher. Ein Politiker klugen Kalküls ist dieser Johann Friedrich nicht, auch fehlt ihm zum Feldherrn die nötige Fortune. Ein Jahr nach Luthers Tod vom Kaiser 1547 vernichtend bei Mühlberg an der Elbe geschlagen und gefangengenommen, geht er der Kurwürde samt der Hälfte seines Landes verlustig. Wohl oder übel macht er Weimar mit dem wenigen Land, das ihm bleibt, zur alleinigen Residenz des ernestinischen Herzogtums, das nun Sachsen-Weimar heißt.
Cranach der Altere entwirft diese Altarbilder als Achtzigjähriger in Weimar, nachdem er zwei Jahre die Gefangenschaft mit seinem Herrn geteilt hat, ja selbst die Kutsche, die ihn nach dessen Freilassung von Innsbruck Ende September 1552 in die Residenz an der Um bringen sollte. Der Einzug des Fürsten und seines Malers nach den Jahren kaiserlicher Haft kommt der Triumphfahrt eines engelischen Märtyrers gleich. Ganz Weimar ist auf den Beinen und des Jubeins kein Ende, vermeldet ein Zeitgenosse.

Aber die Begeisterung der Untertanen gilt nicht nur dem Schutzherrn und Sachwalter der Reformation, als deren Kernland Thüringen gelten muß, auch handfeste materielle Erwartungen schwingen mit. Mit dem Hof kommen fürstliche Verwalter und Angehörige des umfangreichen Hofstaats in die Stadt, zahlungskräftige neue Bürger, welche die Geschäfte beleben und dem Ort wachsende Bedeutung verleihen. Um 1500 noch zählte Weimar tausendachthundert Einwohner in dreihundert Häusern, meist mit leicht brennbaren Schindeln statt mit Ziegeln gedeckt. Gute fünfzig Jahre später leben hier knapp dreitausend Menschen, aber die Stadt hat noch immer ländlichen Charakter, die Einwohner sind Handwerker und Ackerbürger, deren Schweine und Gänse zum Kummer der Ratsherren die ungepflaster-ten Gassen bevölkern.
Auch der Hof kann die Nachteile der geographischen Lage nicht ausgleichen. Weimar liegt abseits der großen Handelsstraßen, sein Markt ist unbedeutend, Geschäfte, die in diesem toten Winkel an der Um abgewickelt werden, reichen nicht über die weitere Umgebung hinaus. Eine wohlhabende Kaufmannschaft oder ein Patriziat, das anderswo zu Trägern stadtrepublikanischer Ideen wird, kann sich unter solchen Bedingungen nicht heranbilden. Die Stadt entwickelt kein Eigengewicht, ihre Bürgerschaft wird nicht zum Gegenpol des Luther nicht fremd gewesen. Sagt der doch einmal von sich, er fresse wie der Böhm und saufe wie ein Deutscher. Ein Politiker klugen Kalküls ist dieser Johann Friedrich nicht, auch fehlt ihm zum Feldherrn die nötige Fortune. Ein Jahr nach Luthers Tod vom Kaiser 1547 vernichtend bei Mühlberg an der Elbe geschlagen und gefangengenommen, geht er der Kurwürde samt der Hälfte seines Landes verlustig. Wohl oder übel macht er Weimar mit dem wenigen Land, das ihm bleibt, zur alleinigen Residenz des ernestinischen Herzogtums, das nun Sachsen-Weimar heißt.
Cranach der Altere entwirft diese Altarbilder als Achtzigjähriger in Weimar, nachdem er zwei Jahre die Gefangenschaft mit seinem Herrn geteilt hat, ja selbst die Kutsche, die ihn nach dessen Freilassung von Innsbruck Ende September 1552 in die Residenz an der Um bringen sollte. Der Einzug des Fürsten und seines Malers nach den Jahren kaiserlicher Haft kommt der Triumphfahrt eines engelischen Märtyrers gleich. Ganz Weimar ist auf den Beinen und des Jubeins kein Ende, vermeldet ein Zeitgenosse.

Aber die Begeisterung der Untertanen gilt nicht nur dem Schutzherrn und Sachwalter der Reformation, als deren Kernland Thüringen gelten muß, auch handfeste materielle Erwartungen schwingen mit. Mit dem Hof kommen fürstliche Verwalter und Angehörige des umfangreichen Hofstaats in die Stadt, zahlungskräftige neue Bürger, welche die Geschäfte beleben und dem Ort wachsende Bedeutung verleihen. Um 1500 noch zählte Weimar tausendachthundert Einwohner in dreihundert Häusern, meist mit leicht brennbaren Schindeln statt mit Ziegeln gedeckt. Gute fünfzig Jahre später leben hier knapp dreitausend Menschen, aber die Stadt hat noch immer ländlichen Charakter, die Einwohner sind Handwerker und Ackerbürger, deren Schweine und Gänse zum Kummer der Ratsherren die ungepflaster-ten Gassen bevölkern.
Auch der Hof kann die Nachteile der geographischen Lage nicht ausgleichen. Weimar liegt abseits der großen Handelsstraßen, sein Markt ist unbedeutend, Geschäfte, die in diesem toten Winkel an der Um abgewickelt werden, reichen nicht über die weitere Umgebung hinaus. Eine wohlhabende Kaufmannschaft oder ein Patriziat, das anderswo zu Trägern stadtrepublikanischer Ideen wird, kann sich unter solchen Bedingungen nicht heranbilden. Die Stadt entwickelt kein Eigengewicht, ihre Bürgerschaft wird nicht zum Gegenpol des Hofs, sondern bleibt abhängig und geprägt von der feudalen Macht, die über ihr Wohl und Wehe entscheidet, auch über Zeiten des Glanzes und des Niedergangs. Diese politisch-soziale Struktur verändert sich bis zur Zeit Goethes und Schillers, Wielands und Herders nicht und wird von nicht zu unterschätzendem Einfluß auf die deutsche Klassik sein.
Lucas Cranach der Altere, der mit dem Fürsten gekommen ist, wohnt bei seiner Tochter Barbara, der Ehefrau des herzoglichen Kanzlers Christian Brück, in jenem stattlichen Renaissancehaus am Markt, das heute seinen Namen trägt. Weimar ist ihm nicht unbekannt, er hat hier schon 1521 die Orgel in der Schloßkirche bemalt. Jetzt richtet er sich eine kleine Werkstatt ein und bekommt Hilfe von seinem Sohn Lucas, der des Vaters große Malmanufaktur weiter betreibt, aber vor der Pest, die in Wittenberg ausgebrochen ist, für einige Monate Zuflucht in Weimar sucht. Das Triptychon für St. Peter und Paul gilt als des älteren Cranach letztes, eindrucksvollstes und berühmtestes Werk, als Epitaph und Glaubenszeugnis des nach Dürer bedeutendsten deutschen Malers seiner Zeit, auch wenn es von ihm nur begonnen wird und nach seinem Tod 1553 von dem Jüngeren vollendet werden muß.
Sein Weimarer Altar ist ein Symbol für den Erfolg der neuen Lehre, der ohne die reformatorische Dreieinigkeit von Luther, dem Theologen und Prediger, Cranach, dem Illustrator und Agitator, und den ernestinischen Territorialherren, die sie politisch durchsetzen und schützen, nicht denkbar gewesen wäre. Geradezu demonstrativ und voller Stolz steht er als eine der wichtigsten Mitväter dieser reformatorischen Erfolgsgeschichte im Mittclbild des Klappaltars neben Martin Luther, sein Gesicht strahlt Aufrichtigkeit, Festigkeit, ja Glaubensgewißheit aus. Blut aus Christi Seitenwunde spritzt auf Cranachs Kopf und wird von allen Sünden reinigen. So in winzigen Lettern nachzulesen in der aufgeschlagenen Bibel, welche der Reformator in der Linken hält, indes er mit der Rechten auf die Heilige Schrift weist -das Engelium soll lauter und rein, ohne Zusatz menschlicher Lehre oder Interpretationen der verderbten römischen Kurie gepredigt werden.

Auf dem linken Seitenbild der Fürst und Schutzherr der Reformation, rechts dessen Söhne, die sein Werk einmal fortsetzen sollen. Aber näher dem Herrn Christus und dem Reformator eben er selbst, der große Agitpropkünstler der Reformation, der Hofmaler, Drucker und Unternehmer, der in Wittenberg eine große Werkstatt mit Malern, Holzschneidern, Vergoldern und Tischlern unterhielt. Cranach entwarf die Titelbilder für die Brandschriften und Traktate, die der Reformator unter das Volk schleuderte, er illustrierte sie mit Holzschnitten und druckte sie auf mehreren Pressen, die er eigens dafür angeschafft hatte; der große Maler war zugleich Chef der ersten engelischen Werbeagentur. Wenn bald nach dem Thesenanschlag allerorten in Deutschland das Feldgeschrei »Luther« und »Tod dem römischen Hof« erschallt, ist dies nicht nur lutherischer, dem Maul des Volks abgeschauter Wortgewalt, sondern auch Luthers eifrigstem Proandisten zu danken, der für die werbewirksame Aufmachung der Flugschriften gesorgt hat. Übrigens wurde aus der zunächst eher geschäftlichen Beziehung zwischen dem Reformator und seinem Verleger bald eine echte Freundschaft. Luther nannte ihn seinen lieben Getter Lucas und stand Pate bei der Taufe von Cranachs Tochter Anna, Cranach wiederum war Luthers Brautwerber und Pate seines Sohnes Hans.

Die kulturhistorische Bedeutung Weimars beginnt wahrlich nicht erst mit dem Musenhof der Regentin Anna Amalia, ihrem Prinzenerzieher Wieland und dessen »Teutschem Merkur«. Für die Ernestiner, Vorkämpfer des deutschen Protestantismus, ist die Stadt nach Wittenberg, später Torgau, ihre wichtigste Residenz. Weimar spielt eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung eines neuen engelischen Lehrgebäudes und dem Aufbau einer neuen kirchlichen Hierarchie, die alsbald in ein modernes Landeskirchentum mündet und sich für die Geschichte der Deutschen als äußerst problematisch erweisen wird. Die Reformation entwickelt sich um eine Achse Wittenberg-Weimar, wobei Thüringen mit dem Bilderstürmer Karlstadt in Orla-münde und dem Schwärmer Müntzer in Allstedt (später Mühlhausen) zum Schnittpunkt der verschiedensten reformatorischen Bewegungen wird, und zwar solcher »von unten« wie auch derjenigen, welche die Obrigkeit zusammen mit Luther schließlich als gültige Norm beschließt.
Jener Johann Friedrich der Großmütige, der auf dem Altarbild Cranachs so fromm und andächtig darniederkniet, wächst bei seinem Vater Herzog Johann im Weimarer Schloß auf und schmuggelt schon als Sechzehnjähriger lutherische Schriften ins Franziskaner-Kloster, das damals als Hochburg der Anhänger des alten Glaubens in Weimar gilt. Gedacht sind die Traktate für jene Dissidenten, die sich ernsthaft mit den Thesen des früheren Augustinerbruders Martin auseinandersetzen wollen und bald engelische Geistliche werden: Bruder Friedrich Myconius aus Annaberg, später erster Superintendent von Gotha, und Johann Voit, dann erster engelischer Pfarrer in Ronneburg. In einem Winkel versteckt, lesen beide als junge Franziskanermönche die Gedanken Luthers, stimmen ihnen innerlich jubelnd zu und haben schwer dafür zu büßen: Als verdächtige Ketzer, berichtet Myconius, müssen sie während des Essens am Boden liegen, die Brocken auflesen, die von den Tischen fallen, und den anderen Mönchen die Füße küssen.

In Weimar nimmt man früher und offener für die engelische Sache Partei als Kurfürst Friedrich der Weise in Wittenberg. Friedrich ist von Natur aus ein eher zögerlicher Herr, als Territorialfürst in das Reichsrecht eingebunden und dem Kaiser zu Loyalität verpflichtet, er scheut die offene Konfrontation. Ihm geht es vor allem darum, Luther Recht und Gehör zu verschaffen, ihm ein faires Verfahren auf einem »Konzil deutscher Nation« zu gewinnen, das nicht von vornherein von den Päpstlichen beherrscht sein würde - eine Versammlung übrigens, die nie zustande kommt.
Der weise Friedrich, wie man ihn nennt, das heißt vor allem: der vorsichtige. Politische Klugheit gebietet ihm, jede Parteinahme für Luther geheimzuhalten. Er taktiert und manövriert, weicht jedem offenen Konflikt mit dem Kaiser aus und kommt damit bis an sein Lebensende auch durch, weil Karl V die Hilfe der Fürsten entweder gegen Türken oder Franzosen oder gegen beide braucht. Nach Luthers »Ich kann nicht anders« von Worms hat der Kaiser zwar die Reichsacht gegen den Mönch aus Wittenberg verhängt und die Vernichtung seiner Schriften angeordnet. Aber zur Exekution seines Edikts ist er vorerst zu schwach, weil an anderen Fronten gebunden. Sorgsam vermeidet Friedrich jede direkte Begegnung mit dem Reformator. » ich hab meyn leben lang mit dem selben Fürsten«, schreibt Luther und meint den Fürsten, der ihn schützt, »nie keyn wort geredt noch hören reden, dazu auch seyn angesicht nie gesehen denn eynmal zu Worms für dem Keyser.« Luther hat auch nie vor Friedrich gepredigt.

Ganz anders das Verhältnis zu Johann und dessen Sohn Johann Friedrich, wenn der Reformator nach Weimar kommt: Da spricht man unter Vertrauten und Freunden von Angesicht zu Angesicht. Er sei gewiß, »Gott wirds nicht leiden«, hatte Johann schon vor dem Reichstag von Worms über Versuche gesagt, die lutherische Lehre zu unterdrücken. Mit seinem Sohn hört er Luthers Predigten in der St. Martin geweihten Schloßkirche, wo übrigens schon 1520 der protestantische Wolfgang Stein aus Zwickau Hofprediger wird. Gemeinsam erleben sie den Reformator auch in St. Peter und Paul. Als Mitregent Friedrichs des Weisen, mit eigener Kanzlei, eigenen Räten und separater Finanzverwaltung in dem Anfang des Jahrhunderts im Renaissancestil umgebauten Schloß Hornstein zu Weimar ist Herzog Johann seit 1513 für die ernestinischen Lande in Franken, dem Vogtland und Thüringen verantwortlich - damit auch für den Schutz, den Luther auf der Wartburg genießt.
Um unbequemen Fragen des Kaisers vorzubeugen, hat Friedrich der Weise ja eine Entführung durch Strauchdiebe vorgetäuscht, als sein Wittenberger Theologieprofessor vom Reichstag zu Worms zurück nach Wittenberg reiste, und ihn im ursprünglichen Sinne des Wortes in Schutzhaft genommen. Den »Weimar-Wartburg-Lebensbegriff« wird Friedrich Lienhard am Anfang unseres Jahrhunderts einmal schwärmerisch-rückwärtsgewandt und betont deutschvölkisch proieren. Richtig daran ist bestenfalls, daß die drei Orte Wartburg, Weimar und Jena kulturhistorisch als eine Trias zu betrachten sind, die für Protestantismus, deutsche Philosophie und den Gipfel der deutschen Literatur steht, einer Literatur, die historisch mit Luthers Bibelübersetzung auf der Wartburg beginnt. Cranach der Altere, Freund und Getter, ist einer der wenigen, die ihn dort besuchen dürfen. Er schneidet jenes berühmte Bild in Holz, das Luther mit vollem Haar und dem damals modischen Kinn- und Backenbart der Ritter zeigt -eben als Junker Jörg, ein Motiv, das der Herold der Reformation im Druck von Wittenberg aus verbreitet und das in den meisten deutschen Landen reißend Absatz findet. An den Junker Jörg auf der Wartburg wendet sich auch der Weimarer Herzog mit der Bitte um Rat, wie er mit den aufsässigsten Altgläubigen in seiner Residenz, den Franziskanermönchen in Weimar, umgehen solle, und erhält ihn prompt.

In Weimar nämlich stehen einige Jahre lang sowohl Altgläubige als auch Anhänger der Reformation auf der Kanzel, von der später einmal Herder predigen wird. Die herzogliche Obrigkeit ist um ein geordnetes Nebeneinander besorgt, das indes nicht als Zeichen konfessionellen Desinteresses, sondern als Versuch einer, wenn auch befristeten, Toleranz zu werten ist. Luther, der die Gewissen nicht vergewaltigen will, warnt davor, den noch nicht für die Reformation gewonnenen Teil der Bevölkerung zum neuen Glauben zu zwingen. So trachten die protestantisch eingestellten Weimarer Herzöge, radikale Pfaffen- oder Klosterstürme zu vermeiden, und suchen erst einmal die Städte und Landstände für die Abstützung der reformatorischen Sache zu gewinnen.
Zunächst also gibt es in Weimar, was man heute einen Wettbewerb der Systeme nennen würde. Über wenige Jahre tritt dann schließlich ein, was die engelischen Fürsten und Luther sich von solch offener Konkurrenz von Anfang an versprochen haben: Die alte kirchliche Ordnung löst sich auf, sie implodiert, weil mehr und mehr Gläubige die Teilnahme an den alten Formen des Gottesdienstes verweigern. Deutliches Zeichen dafür in Weimar ist, daß hier seit 1523 keine Prozessionen mehr stattfinden. Die innerstädtischc Partei der Altgläubigen bröckelt, weder die Franziskaner noch die Nonnen des Beginen-Ordens erfreuen sich wegen ihres losen Lebenswandels eines guten Rufs.

Als die Parteinahme der großen Bevölkerungsmehrheit für die Protestantischen nicht mehr zu bezweifeln ist, gibt Herzog Johann seine formelle Neutralität auf und erläßt 1525 ein Predigtverbot für die Altgläubigen. Zugleich stellt er die Weichen für eine neue, rein protestantische Landeskirche, die sich bald zu einer Staatsanstalt entwickeln wird. Das beginnt damit, daß er den von Luther empfohlenen Prediger an der Stadtkirche, Johannes Grau, zum Oberpfarrer ernennt und mit der Aufsicht über achtzig benachbarte Landgemeinden rund um Weimar betraut. Geistlichen, denen die Gabe der Keuschheit nicht gegeben sei, empfiehlt Grau, umgehend eine Ehe einzugehen. Auf das Schloß beordert, wird den versammelten Pfarrern befohlen, ab sofort das Engelium lauter, rein und klar zu predigen - »on [= ohn] alle menschliche zusatzunge und einmischung«. Wer die engelische Lehre im Sinne Luthers nicht beherrsche, solle umgehend von denen lernen, die in Weimar oder Erfurt das geistliche Amt richtig ausübten.
Als Nachfolger Friedrichs ist Johann auf dem Sprung, seinen Hof nach Torgau zu verlegen. Demjenigen aber, der glauben sollte, nach seinem Weggang wieder Gottesdienst auf altgläubige, also katholische Weise halten zu können, droht der Fürst mit schweren Strafen - »nit allein mit entsetzung und beraubnüß seins lehns oder pfarr, sunder auch villeicht an der narung oder sunst auf andere weyse und wege, wie sich des ire fürstlichen gnaden des besten noch bedenken werden Unterricht der Visitatoren an die Pfarrherren im Kurfürstentum Sachsem 1528 vollzogen«. Die lutherische Reformation hatte mit einer großen Befreiungstat begonnen: mit der Lossagung von der theologischen Bevormundung durch die päpstliche Hierarchie, mit der These, daß jedermann sein eigener Priester sei und es keiner Mittler brauche, um mit Gott Zwiesprache zu halten und seine Gnade zu erfahren. Am Ende mündet sie in eine hierarchische Kirchenstruktur, in der Fürst und Geistlichkeit, Kirche und Staat miteinander verschmelzen und der Altar zur Stütze des Thrones, der Pastor zum Proandisten der Herrschaft wird.

Den Grundstein zu dieser Entwicklung hat kein anderer als Luther selbst mit vier Predigten gelegt, die er am 24. bis 26. Oktober 1522 in der Schloß- und in der Stadtkirche von Weimar hielt und die vom geistlichen und weltlichen Regiment handelten - dem Reich Gottes und dem Reich der Welt. Auf Wunsch Herzog Johanns, der geradezu begierig erfahren will, wie Christ- und Fürstsein sich miteinander vereinbaren ließen und wie er die weltliche Schwertgewalt handhaben dürfe, faßt er die Predigten dann in der Schrift »Von weltlicher Obrigkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei« zusammen und widmet sie dem Weimarer Herzog. Es ist hier nicht der Ort, ausführlich darzulegen, wie Luther die beiden Reiche trennt, zumal es an Widersprüchen in seinen Darlegungen nicht mangelt. Sie sind von Luther als Ratgeber an Fürsten und Gläubige gedacht und stellen keine klare Doktrin und schon gar kein Dogma dar. Im Gegensatz zu Calvin, dem Savonarola von Genf, einem eher ordnend und lehrend veranlagten Geist, ist der eruptive, vulkanische Luther eben kein Systematiker, dem Wittenberger fehlt jene clarte, die dem Genfer angeboren ist. Entscheidend kommt es auf die historische Wirkung an, die von Luthers erstmals in Weimar dargele gter Auffassung von Obrigkeit, ihren Rechten und Pflichten ausgegangen ist, auf ihre Deutung und Handhabung durch Geistliche wie Mächtige.
So nimmt Uwe Siemon-Netto den Reformator und dessen Obrigkeitsschriften ausdrücklich gegen den Vorwurf in Schutz, widerspruchslosen Gehorsam gepredigt zu haben. Schon gar nicht sei er gewesen, was Thomas Mann, der freilich Luther als Berserker, Wüterich und riesenhafte Inkarnation deutschen Wesens innerlich ablehnte, in dem Reformator gesehen habe - den »Erzieher seines Volkes zur Untertänigkeit«. Mit ihrem »Wer schweigt, macht sich mitschuldig« hätten die norwegischen Pfarrer, Lutheraner auch sie, die deutsche Besatzungsherrschaft kritisiert und sich dabei ausdrücklich auf den deutschen Reformator berufen: Gott verlange von jedem Christen, dies habe Luther gelehrt, sein Gewissen zu erforschen und für Gerechtigkeit, Wahrheit und Überzeugungen mutig einzutreten. Daran stimmt, daß Luther die Fürsten keineswegs kritiklos sieht: Er nennt sie einmal »die wuetigen, rasenden, unsinnigen tyrannen, die auch nach der schlacht nicht muegen bluts sat werden «, ein andermal »rares Wildbret im Himmel«; ohnehin hält er die Welt für ein trunken Wirtshaus und die Mächtigen auf den Fürstenthronen meist für Toren und Schurken.

Es ergeht Luther eben nicht anders als Goethe, Nietzsche oder der Bibel: Wer suchet, der wird finden und zitieren, was er braucht. Aber entscheidend ist, was über die Jahrhunderte prägend wurde - und das ist dann doch der Luther des »jedermann sei Untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat«, der Luther also der nationalprotestantischen Tradition. Besonders greifbar wird diese lutherische Obrigkeitsfrömmigkeit in der »Heerpredigt wider die Türken« aus dem Jahr 1529. In ihr versichert Luther einerseits, daß die Türken Gottes Feind und Christi Lästerer seien, wer wider sie streite, kämpfe also »wider den Teufel selbst«. Andererseits sollte ein mannhafter christlicher Krieger, der bei den Gotteslästerern und teuflischen Feinden Christi in Gefangenschaft geraten sei, sein Los willig annehmen, denn es sei von Gott gewollt. »Und beileibe laufe nicht weg«, predigt Luther dem lieben Bruder. Sei er beim Türken einmal in Knechtschaft gefallen, könne er sich ohne Sünde und Ungehorsam nicht befreien. Wenn er fliehe, begründet Luther, dann raube und stehle er seinem Herrn damit seinen »Leib, welchen er [der türkische Herr] gekauft hat oder sonst zu sich gebracht, daß er forthin nicht dein, sondern sein Gut ist, wie ein Vieh oder ander sein Habe«. Selbst gegenüber einer verbrecherischen Obrigkeit, so Alexander Rüstow, kennt Luther nur Leiden und Gehorsam, es gibt für ihn eben nichts »giftigeres, schädlicheres, teuflischeres« als einen aufrührerischen Menschen, den man wie »einen tollen Hund totschlagen muß«.

Auf der Höh e von Hitlers Erfolgen, im Dezember 1939, schreibt der Theologe Karl Barth in einem Brief nach Frankreich, das deutsche Volk leide »an der Erbschaft des größten christlichen Deutschen: an dem Irrtum Martin Luthers hinsichtlich des Verhältnisses von Gesetz und Engelium, von weltlicher und geistlicher Macht«, durch welchen der Deutschen natürliches Heidentum nicht begrenzt und beschränkt werde, sondern »ideologisch verklärt, bestätigt und bestärkt worden ist«. Franz Borkenau, Helmut Plessner wie auch Alexander Rüstow haben, ganz unabhängig voneinander, aber alle von den Ansätzen Ernst Troeltschs und Max Webers ausgehend, auf jene entscheidende Trennlinie verwiesen, die Lutheraner zu frommen Untertanen, Calvinisten jedoch zu aufbegehrenden Demokraten werden ließ. Luther unterwirft seine Kirche der irdischen Gewalt, sie wird vom Staat abhängig, Calvin und jene, die nach ihm den eigentlichen Calvinismus schufen - also die Puritaner, die holländischen Reformierten und auch die Hugenotten -, stellen ihre Gemeinden über den Staat, wahren Distanz, betonen den Gegensatz und kämpfen um Unabhängigkeit. Was dem Protestantismus letztlich gemäß ist, die Förderung eines freien Spiels religiöser Kräfte, wird durch die Staatskirche blok-kiert. Sie verweigert dem Gemeindeglied die Rolle, die es in der Freikirche spielen kann, und schwächt das Bewußtsein für Opposition und Mitverantwortung. Das freie Eigenleben der einzelnen Gemeinde, ursprünglich wahrscheinlich Luthers Ideal, ehe er den unauflöslichen Bund mit seinen Schirmherren schloß, hat sich im Calvinismus erhalten und für dessen militant-demokratischen Charakter gesorgt. Für einen Lutheraner dagegen ist es geradezu ein »paralleles Anliegen« (Rüstow), einen gnädigen Gott und einen gnädigen Fürsten zu haben. Hier das »Pathos der Freiheit« (Ernst Troeltsch), von der reformiert-calvinistischen Spielart des Protestantismus hochgehalten, dort das »Pathos des Gehorsams«, dem deutschen Bürger gepredigt vom Luthertum.

In einer Schrift, Herzog Johann von Weimar gewidmet, erteilt Luther jenen guten Werken eine absolute Absage, an deren Früchten der Calvinist gerade göttliche Auserwähltheit erkennen will. Der deutsche Reformator lehrt Rechtfertigung allein aus dem Glauben und liefert den einzelnen damit der göttlichen Gnade aus, deren Erweis dieser nicht aktiv beeinflussen, sondern ausschließlich passiv erfahren kann. Borkenau geht soweit, hierin Züge des Ostkirchentums zu erkennen: Es handele sich bei der »Freiheit eines Christenmenschen«, von Luther wie auch von Dostojewski gepredigt, ausschließlich um innere Freiheit, wesensfremd dem Calvinismus des Westens, der nach der »Einheit von Freiheit und Gebundenheit in der Disziplin der freien Korporation« strebt. In der Tat vertieft Luthers Trennung von Geistlichem und Weltlichem den Bruch zwischen Innerlichkeit und Öffentlichkeit, der sich schließlich zu der für Deutschland so typischen Kluft zwischen Macht und Geist weiten wird. Der Künstler und der Machtmensch, sagt Borkenau, sind die beiden Persönlichkeitsideale, die der deutschen protestantischen Kultur voranleuchten. Plessner ergänzt: Selbstvervollkommnung nur in ästhetischer Hinsicht, der Kult der Persönlichkeit, ja das besondere Pathos des Wortes Kultur sind das Ergebnis lutherischer, über die Jahrhunderte entkonfessionalisierter Weltfrömmigkeit. Und doch wagt keiner der genannten Kritiker, das Luthertum in toto zu verwerfen, auch wenn es partiell für die historische Misere der Deutschen verantwortlich sein mag. In einer calvi-nistisch bestimmten Kultur, so Borkenau, hätten weder die deutsche Musik noch die deutsche Metaphysik eine Chance gehabt: »Der deutsche Geist konnte seine Schwingen entfalten, indem er praktische Erwägungen hinter sich ließ, die dort niemals beiseite gesetzt werden können, wo jede Leistung sich innerhalb der Welt rechtfertigen muß.« Nicht nur als Stadt, die engstens mit Luthers Reformation verbunden ist, sondern als historischer Begriff steht Weimar mit seiner Klassik für eine typisch protestantisch geprägte deutsche Kultur.

Freilich geht es nicht an, von Weimar, der Reformation und Luther zu sprechen, ohne ein wahrlich fatales Erbe zu erwähnen, das der Reformator hinterlassen hat und das treffend mit einem Adjektiv aus dem Wörterbuch des Unmenschen umschrieben ist: Weimar blieb, wie das ganze Großherzogtum Sachsen zur Zeit Luthers und lange nach ihm, »judenrein«. Das hat mit einer seiner Schriften zu tun, die sein Mitstreiter Melanchthon, als er sie dem Landgrafen von Hessen übersandte, uns heute völlig unverständlich im Begleitbrief auch noch ein Büchlein nannte, »das wahrlich viel nützlich Lehr hat«. »Von den Juden und ihren Lügen« überschrieb Luther 1543 sein maßloses, ja mordbrennerisches Traktat gegen das Gottesvolk. Man solle ihre Synagogen mit Feuer anstecken, empfiehlt der wütende Antijudaist, Schwefel und Pech dazu werfen, und was nicht brennen wolle, mit Erde überschütten, »damit kein Stein mehr zu sehen sei ewiglich«. Er schafft dafür den Begriff »scharfe Barmherzigkeit«, der uns heute wie Hohn vorkommt, denn was er anrät, entspricht eher der Unbarmher-zigkeit des Scharfrichters. Und doch trennen ihn Welten vom späteren Rasseantisemitismus. Theologen deuten seine Haltung gern als Symptom einer enttäuschten Liebe, weil er zwanzig Jahre vor seinem Aufruf zu einer reformatorischen Kristallnacht in seiner Missionsschrift »Daß Jesus Christus ein geborener Jude sei« die Juden noch als ideale Zielgruppe für den eigenen Bekehrungseifer ausgemacht hatte. Für ihre hartnäckige Verweigerung der Taufe zeigte er sogar Verständnis, weil papistische »Tölpel und Knebel« den Christenglauben regiert hätten. Um so empörter reagiert er, als sie sich auch nicht durch ihn, der das Christentum von papistischer Abgötterei gereinigt hat, gewinnen lassen.

Nicht zufällig gelten Sachsen und die thüringischen Kleinstaaten »bis 1806 und wieder nach 1813 als Zentren antijüdischer Haltung«, schreibt Werner Grossert in seiner Studie zur Judenemanzipation im Thüringischen. Ein Mandat Johann Friedrichs führt 1536 zur rigorosen Verfolgung und Austreibung der Juden; nicht nur Aufenthalt und Ausübung eines Gewerbes, selbst den Durchzug verbietet der Kurfürst und untersagt ausdrücklich, Juden »Geleit oder Sicherung« zu geben. Zwar ist Luthers direkte Mitwirkung bei diesem ersten »Judenbefehl« nicht eindeutig bewiesen, aber er traf wenige Tage vor seiner Verkündung den Kurfürsten und scheint das Mandat wegen der »Unbußfcr-tigkeit« und des Wuchers der Juden gebilligt zu haben. Als der Kurfürst es nach vorübergehender Milderung, die wenigstens den Durchzug wieder gestattete, im Mai 1543 erneut in vollem Umfang in Kraft setzt, beruft er sich ausdrücklich auf Luther, seinen ehrwürdigen, hochgelehrten, andächtigen und lieben Doktor der Heiligen Schrift, der mit guten Gründen gegen das verstockte Judentum zu Feld gezogen sei. Ein nebeneinander von Christen und Juden ist für den späten Reformator nicht denkbar, er zielt auf ihre Vertreibung, nicht auf ihre Vernichtung, und will ihre Habe konfiszieren, um sie getauften Juden zur Verfügung zu stellen. Auch wenn mit den Jahrzehnten das Feuer des Zorns bei Luther wächst, bleibt seine Judenfeindschaft stets theologisch bedingt. Für die neue Landeskirche indes wird sie zum Dogma, das direkte politische Auswirkungen hat. Erst ab Mitte des 18. Jahrhunderts, unter der Regentschaft der Herzogin Anna Amalia, werden in Weimar einige wenige jüdische Familien ansässig. Bis 1807 müssen Juden aus anderen deutschen Staaten im Großherzogtum Weimar Leibzoll entrichten, eine Praxis, die sie nach Grossert »moralisch dem Vieh gleichstellt«. In dem Weimar benachbarten Jena, wohin die Ernestiner nach dem Verlust Wittenbergs ihre Universitätsbibliothek überführten und damit den Grundstein für eine neue Hochschule legten, in dieser aufgeklärten Saalestadt, in der um 1800 Fichte und Schiller als Professoren lehren, bleibt jegliche jüdische Ansied-lung bis 1848 scharf angefeindet.
Auf den Reformator der Deutschen beruft sich, dieser historische Vorgriff sei gewagt, auch die thüringische Landeskirche, als sie mit sechs anderen engelischen Kirchen am 17. Dezember 1941 die Einführung des Judensterns durch die Nationalsozialisten begrüßt: Schon Dr. Martin Luther habe nach bitteren Erfahrungen die Forderung erhoben, »schärfste Maßnahmen gegen die Juden zu ergreifen und sie aus deutschen Landen auszuweisen«. Weimar steht eben nicht nur für den Gipfel deutscher Kultur, nicht nur für Glanz und Größe, sondern auch für Niedergang. Weimar ist voll der Ambilenz und des Zwiespalts - ein echter deutscher Schicksalsort.







Haupt | Fügen Sie Referat | Kontakt | Impressum | Nutzungsbedingungen