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Aufbruch zur modernen Großstadt

Aufbruch zur modernen Großstadt

Kampf gegen »Reichsfeinde«: Kulturkampf und Sozialistengesetz

Groß war die Begeisterung der Rheinländer und Kölner beim Ausbruch des deutsch-französischen Krieges, mindestens ebenso groß der Jubel über die Gründung des neuen Kaiserreichs. Jetzt verschwanden die letzten Napoleon-Bilder aus den guten Stuben Kölns. Aber der Überschwang nationalen Hochgefühls wich bei vielen bald bitterer Wirklichkeit. Denn das neue Deutschland unter der Führung des reaktionären Preußen zeigte sich rasch von seiner autoritären Seite. Als »Reichsfeinde« bekämpfte dieser Staat vor allem Katholiken und Sozialdemokraten. Kurz nach der Reichsgründung begann der entscheidende Konflikt zwischen protestantischem Staat und katholischer Kirche: der Kulturkampf.

Der politische Katholizismus formierte sich seit Dezember 1870 in einer eigenen Partei, dem Zentrum. Den Anstoß dazu gab ein Aufruf von Peter Reichensperger vom 11. Juni 1870 in der »Kölnischen lkszeitung«. Das Zentrum verstand sich in erster Linie als eine konfessionelle Partei, die schichten- und klassenübergreifend ausgerichtet war. Bereits bei der ersten Reichstagswahl 1871 wurde das Zentrum reichsweit hinter den Nationalliberalen zweitstärkste Partei. Bedeutend war der Einfluß von Kölnern im Zentrum: Peter Reichensperger, rsitzender der Fraktion im Preußischen Landtag und im Reichstag, und sein Bruder August zählten neben Ludwig Windt-horst zu den wichtigsten Zentrumsführern im Reich. Köln wurde ein Zentralpunkt des Zentrums: Wichtige katholische Vereine, die nun ins Leben gerufen wurden, hatten hier ihren Sitz.




Bismarck sah im Zentrum eine ernsthafte Gefahr, eine Partei von »Reichsfeinden«, die großdeutsch und katholisch geprägt von vornherein im Gegensatz zum evangelischen Kaiserreich stehe und national nicht zuverlässig sei, da sie »ultramontan« (d. h. streng päpstlich) gesinnt sei. Entschieden abgelehnt wurde von ihm das im Juli 1870 verkündete Dogma von der Unfehlbarkeit des Papstes. Gegen dieses Dogma bildete sich auch innerhalb der Kirche eine Opposition, die schließlich zur Glaubensspaltung und zur Gründung der altkatholischen Kirche führte, die in Köln vor allem von der Oberschicht unterstützt wurde.

Der Staat versuchte seit 1871, in den verschiedensten Bereichen den Einfluß der katholischen Kirche zu beschneiden und das Zentrum zu bekämpfen: die kirchliche Schulaufsicht wurde abgeschafft; derjesuitenorden und alle anderen Orden mit Ausnahme reiner Krankenpflegeorden verboten; der »Kanzelparagraph« untersagte es Geistlichen, sich in Ausübung ihres Amtes politisch zu äußern; die Kirchen wurden der staatlichen Aufsicht unterworfen und ein staatliches Vetorecht bei der Anstellung von Geistlichen eingeführt; die Zivilehe wurde zur allein gültigen Ehe erklärt. Diese Gesetze wurden zunächst mit aller Härte umgesetzt. Wie viele Bischöfe und Priester hatte sich auch der Kölner Erzbischof Paulus Mel-chers geweigert, Geldstrafen, zu denen er verurteilt wurde, zu bezahlen. Daraufhin wurde er am 31. März 1874 in seinem Palais verhaftet und, von einer großen Menschenmenge begleitet, in den Klingelpütz gebracht, wo er 28 Wochen in Haft blieb. Ende 1875 entzog er sich einer erneuten Verhaftung durch Flucht nach Holland, von wo aus er das Erzbistum noch zehn Jahre weiter leitete. Ohne den Erzbischof und überschattet vom Kulturkampf fand 1880 das große Fest zur llendung des Doms statt, bei dem auch Kaiser Wilhelm I. anwesend war. Das Fest wurde als ein Nationalfest inszeniert. Bismarcks Kampf gegen die katholische Kirche, den er im Bündnis mit den Liberalen betrieb, scheiterte grundlegend. Der Kulturkampf führte vielmehr zu einem engeren Zusammenhalt der Katholiken, zur Wiederbelebung des katholischen Glaubens und Lebens, zur Gründung zahlreicher karitativer und religiöser katholischer Vereine sowie Presseorgane, wodurch überhaupt erst die organisatorische Basis für das Zentrum geschaffen wurde. 1874 konnte das Zentrum seine Stimmenzahl bei der Reichstagswahl verdoppeln. In Köln war es seit der ersten Wahl unangefochten über vier Jahrzehnte die dominierende politische Kraft. Ein Großteil der Maßnahmen gegen die Kirche wurde schließlich wieder aufgehoben (bis auf den Kanzelparagraph, die Zivilehe, die staatliche Schulaufsicht und das Jesuitengesetz), aber das Verhältnis zwischen Katholiken und dem Staat blieb noch lange Zeit belastet. Genausowenig erfolgreich verlief Bismarcks Kampf gegen einen weiteren »Reichsfeind«: gegen die größer werdende Arbeiterbewegung. In Köln allerdings gestaltete sich der Aufstieg der Arbeiterbewegung besonders mühselig. Es war gar nicht daran zu denken, an die Glanzzeit der Kölner Arbeiterbewegung in den Jahren 1843 bis 1852 anknüpfen zu wollen. Der von Ferdinand Lassalle gegründete »Allgemeine Deutsche Arbeiterverein« zählte in Köln im Mai 1864 - ein Jahr nach seiner Gründung - erst 105 Mitglieder, obwohl das Rheinland eine seiner Hochburgen war. Zur Erinnerung: der Kölner Arbeiterverein hatte 1848 rund 8.000 Mitglieder. Die Konkurrenzpartei, August Bebeis und Wilhelm Liebknechts »Sozialdemokratische Arbeiterpartei«, spielte eine noch geringere Rolle. Interne Zwistigkeiten und der Streit zwischen beiden Parteien hemmten die Entwicklung zusätzlich. Die 1875 in Gotha vollzogene Vereinigung der beiden zerstrittenen Arbeiterparteien zur »Sozialistischen Arbeiterpartei« erfolgte in Köln erst zwei Jahre später. Bei den Reichstagswahlen in den siebziger Jahren konnte sich die Partei nur mühselig von fünf auf zehn Prozent steigern. Auch die Kölner Gewerkschaften hatten von Anfang an einen schweren Stand. Die ersten kleineren Gewerkschaften, etwa der Metallarbeiter, wurden Anfang der siebziger Jahre gegründet, aber bereits wenige Jahre später in der Wirtschaftskrise wieder zerschlagen. Erst Ende der siebziger Jahre verbesserte sich die Lage, und eine Reihe kleinerer fachspezifischer Gewerkschaftsgruppen entstanden in Köln wieder. Die Metallarbeiter-Gewerkschaft zählte damals in Köln und in den rorten zusammen 655 Mitglieder.

Stadterweiterungen und Eingemeindungen

Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts vollzog Köln einen tiefgreifenden Strukturwandel hin zur modernen, urbanen Großstadt. Bevölkerungswachstum, Industrialisierung und gesellschaftliche Veränderungen waren die wesentlichen Kennzeichen dieser Entwicklung. Die Einwohnerzahl Kölns stieg von rund 120.000 im Jahre 1861 auf über 144.000 imjahr 1880 und über 156.000 imjahr 1890. 1910 - nach den Eingemeindungen - war die Zahl bereits auf über eine halbe Million gestiegen, und damit hatte sich die Einwohnerzahl in nicht ganz hundert Jahren verzehnfacht. Dabei war Köln verglichen mit anderen Großstädten noch relativ langsam gewachsen. Jedoch in Köln mußten die Menschen besonders eng zusammenrük-ken, da es deutlich länger als die meisten anderen Großstädte noch von den mittelalterlichen Stadtmauern eingeengt blieb. Mit 770 ha innerhalb der 4,5 km langen alten Mauern verfugte es bis 1881 nach Altona über die kleinste Gemarkung einer deutschen Großstadt. Die Bevölkerungsdichte nahm bis 1880 auf 188 pro Hektar (35.000 pro km2) zu. Damit war sie ähnlich hoch wie in Berlin und zehnmal so hoch wie in Frankfurt am Main oder Düsseldorf. In der Altstadt herrschten seit langem miserable Wohnverhältnisse, die nur durch eine Stadterweiterung grundsätzlich verbessert werden konnten. Erst recht bot das alte Köln nicht den notwendigen Platz für Industrieansiedlungen. Die Vororte und Vorstädte blühten hingegen auf; hier wurden die neuen Industrien angesiedelt und war eine verstärkte Zuwanderung zu verzeichnen. Das Problem der Erweiterung der Stadt wurde zu einer Lebensfrage. Aber der Charakter Kölns als Festungsstadt verhinderte lange die notwendige Ausdehnung. Doch seit den sechziger Jahren waren die Festungsanlagen militärisch überholt, da Geschütze mit größerer Reichweite entwickelt worden waren.

Das Problem der Stadterweiterung beschäftigte den Kölner Stadtrat über mehrere Jahrzehnte. Bereits 1861 war eine erste Kommission eingerichtet worden, 1877 scheiterten Verhandlungen zwischen dem preußischen Kriegsministerium und Köln, die erst 1881 zum Erfolg führten: Köln erwarb für 11,794 Millionen Mark die Festungsanlagen. Der vor den Mauern liegende Rayon wurde ins Stadtgebiet einbezogen und für die Bebauung freigegeben. Zum ersten Mal seit 1179 vergrößerte sich damit das Stadtgebiet und zwar um mehr als das Doppelte: Die neue Fläche war mit 448 ha größer als die Altstadt mit knapp 400 ha. Das preußische Militär verstärkte aber daraufhin den Festungsgürtel mit seinen Forts und Lünetten, neue Wallanlagen in der Höhe der heutigen Straßen vom Bonner Wall über den Zülpicher Wall bis zum Neusser Wall wurden gebaut. Auch dies behinderte wieder die Stadtentwicklung und erwies sich bald als militärisch nutzlos. Um die Jahrhundertwende wurde der Festungsgürtel schließlich vor die Stadt und ihre Vororte entlang der Militärringstraße verlegt.

Von einem Volksfest begleitet wurde am 11. Juni 1881 die erste Bresche in die Stadtmauer in der Nähe des Gereonstorcs geschlagen. Oberbürgermeister Hermann Becker erklärte dabei: »Neues Leben blüht aus den Ruinen!« Beim Abtragen der Stadtmauer leistete man ganze Arbeit. Erhalten blieben lediglich zwei Türme (Bottmühle und Ulrepforte), drei Tore (Seve-rins-, Hahnen- und Eigelsteintor) und drei Teilstücke der Mauer (An der Bottmühle, am Sachsenring und am Hansaring) - und dies nur nach Intervention des preußischen Kultusministers. Denn Denkmalschutz stand seinerzeit in Köln ebensowenig auf der Tagesordnung wie ein Vorschlag, die Erweiterung der Stadt ohne Abriß der Mauern zu ermöglichen. Das Schleifen der 700 Jahre alten Stadtmauern war aber das auffälligste äußere Kennzeichen des Wandels der Stadt. Ihm kam große symbolische Bedeutung zu: War die Stadt bis dahin von einer Ummauerung definiert, so wurde jetzt nicht die Geschlossenheit, sondern die Offenheit zum Prinzip, die revolutionäre Hinwendung zur »offenen Bürgerstadt«.

Nach Plänen von Stadtbaumeister Josef Stubben und des Aachener Architekturprofessors Karl Henrici wurde die Neustadt umgestaltet. Als Vorbild dienten der Pariser Boulevard und die Ringstraßen von Wien und Antwerpen. Die gesamte Planung der Neustadt mit ihren Straßen, Plätzen, Grünanlagen und öffentlichen Bauten wurde an dem Kernstück, der prachtvoll gestalteten Ringstraße, ausgerichtet. Innerhalb weniger Jahre entstanden die Ringe mit ihren breiten Boulevards mit Baumreihen, ihren sternförmigen Plätzen und Garten- und Brunnenanlagen, Denkmälern, Fahr- und Reitwegen sowie Bürgersteigen, umgeben von einer Kette von repräsentativen Wohnhäusern, von denen einige Palästen glichen. Bereits 1886 war die Ringstraße in voller Länge fertiggestellt. Neben den privaten Wohnhäusern entstanden an den Ringen öffentliche Bauten - zum Teil großzügig gestaltet: die Oper, das Hohenstau-fenbad, Museen wie das Kunstgewerbemuseum, das Schnüt-gen-Museum, das Museum für ostasiatische Kunst, das Rau-tenstrauch-Joest-Museum für Völkerkunde sowie Schulen wie die Ingenieurschule und die Baugewerkschule und Kirchen. Allerdings waren die Häuser in der Neustadt jenseits der Ringe keineswegs alle so hochherrschaftlich. Hier wurden zum Teil große Etagenhäuser gebaut; hinter mancher schönen Fassade verbargen sich luft- und lichtlose Hinterhöfe. Das rheinische Dreifensterhaus war nach wie vor die gängige Wohnform in geschlossener Bebauung. Zumeist vergeblich hatte Stadtbaumeister Stubben gegenüber den Haus- und Grundbesitzern, die eine größtmögliche Ausnutzung ihrer Grundstücke anstrebten, um Freiflächen gekämpft, um sie für öffentliche Anlagen oder für private Vorgärten und Hofflächen nutzen zu können. Bauordnungen ließen Spekulanten so gut wie freien Lauf; zeitweilig waren sieben Geschosse und eine 85°/oige Bodenausnutzung zugelassen. Dort, wo Gärten vorgesehen waren, wurden Hinterhäuser für Wohn- und Gewerbeflächen gebaut. »Außen fix, innen nix«, so lautete bald das Kölner Sprichwort zu den Häusern, wo im Vorderhaus im Hochparterre und in der ersten Etage die Wohlhabenden wohnten, im Souterrain und unter dem Dach, in den Zwischen- und Hinterhäusern ohne ausreichend Licht und Luft die ärmere Bevölkerung. Von Anfang an bildeten sich in der Neustadt Viertel für die unterschiedlichen sozialen Schichten heraus.

1888 folgte der zweite Schritt der Stadterweiterung: die Eingemeindung der Vororte. Köln war wirtschaftlich eng mit den Vororten verflochten. Hier hatten sich zunehmend Fabriken und Industriebetriebe angesiedelt. Die Vororte bildeten den eigentlichen Motor des Wachstums. Arbeirer und Bürgertum siedelten sich vor den Toren der Stadt an. Das Bevölkerungswachstum war in den Vororten deutlich größer als in der Stadt: von rund 21.000 Einwohnern im Jahr 1861 stieg die Zahl auf fast 45.000 1871 und über 70.000 1880 und über 107.000 im Jahr 1890. Kölner Geschäftsleute besaßen über die Hälfte des Eigentums in den Vororten. Die meisten städtischen Betriebe lagen dort: das Wasserwerk in Bayenthal, die Heilanstalt in
Lindenthal, das Gaswerk in Ehrenfeld, die Flora und der Zoo in Riehl. Andererseits waren die Vororte kaum in der Lage, eine eigene Gas- und Wasserversorgung und Kanalisation zu finanzieren. Der Verkehr zwischen der Stadt und ihren Vororten war denn auch entsprechend stark.

Insgesamt wurden 26 neue Stadtteile eingegliedert: mit der Eingemeindung von Deutz und Poll dehnte sich Köln auf das rechte Rheinufer aus, linksrheinisch kamen hinzu die Orte Riehl, Niehl, Longerich und Merheim (heute: Weidenpesch), Volkhoven, Ossendorf, Bocklemünd, Ehrenfeld, Bickendorf und Melaten, Braunsfeld, Müngersdorf und Mengenich, Kriel und Lindenthal, Sülz und Klettenberg, Zollstock, Raderberg, Raderthal, Rondorf, Bayenthal, Marienburg und Nippes. Durch die Eingemeindungen vergrößerte sich Köln um das Zehnfache auf über 11.000 ha und wurde damit zur flächenmäßig größten Stadt des Deutschen Reiches. Die Einwohnerzahl wuchs auf 260.000. 1910 kamen Kalk und Vingst hinzu, wodurch Köln nach Einwohnern die zweitgrößte Stadt Preußens wurde. 1914 wurde zudem noch Mülheim eingemeindet.

Hochindustrialisierung und soziale Gegensätze

Köln entwickelte sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zu einem bedeutenden Industriestandort. Kölns Rolle als Verkehrsknotenpunkt des Westens förderte die Industrialisierung entscheidend: Der Rhein war lange das wichtigste Transportmittel, der Bau des Rheinauhafens und die Erweiterung der Hafenanlagen hatten dem Rechnung getragen. Aber auch das neue Verkehrsmittel Eisenbahn entwickelte sich in Köln zu einer großen Bedeutung: Bereits in den 1840er Jahren waren die Strecken nach Belgien und Berlin fertiggestellt und in den 1860er Jahren die Verbindung nach Holland und in die nähere Umgebung geschaffen, 1894 war ein neuer Hauptbahnhof unmittelbar neben dem Dom errichtet worden, seit 1859 bestand eine Eisenbahnbrücke über den Rhein, seit 1888 die Mülheimer Schiffsbrücke. Die Verbindung zwischen der Stadt und ihren Vororten übernahmen seit 1877 zunächst Pferdebahnen und ab 1901 elektrische Straßenbahnen. Auch sie verbesserten die Produktionsbedingungen in Köln, da Arbeiter dadurch mobiler wurden. Dieses herausragende Verkehrssystem, insbesondere die rasch wachsende Erschließung durch die Eisenbahn, wurde zum Motor der Industrialisierung in Köln. Der Industrialisierungsprozeß wurde weiter begünstigt durch die Rolle Kölns als nach wie vor führender Bankplatz, aber auch durch eine qualifizierte Arbeiterschaft.

Die hochindustrielle Phase war in Köln vor allem durch den rasanten Ausbau der bereits ortsansässigen Firmen, weniger durch die Ansiedlung neuer Industrien geprägt. Aber innerhalb der Kölner Wirtschaft verschoben sich deutlich die Gewichte: Die Metall- und Chemieindustrie verdrängte die Textilindustrie und Zuckersiederei von ihren Spitzenplätzen. Die metallverarbeitende Industrie war seit der Reichsgründung auf dem Vormarsch und hatte bald die zentrale Stellung in der Kölner Wirtschaft inne. Die Maschinenbauanstalt Humboldt AG in Kalk, die 1856 mit zehn Arbeitern begann, wurde mit etwa 5.000 Beschäftigten vor dem Ersten Weltkrieg eines der größten Werke in Köln. Die Wagen- und Waggonbaufirma van der Zypen & Charlier produzierte mit über 3.500 Beschäftigten vor 1914 jährlich 600 Personenwagen und 6.000 Güterwagen. Die Gasmotorenfabrik Deutz zählte 1914 ungefähr 3.500 Mitarbeiter und stellte Otto-Motoren und Eisenbahnwagen her. Dies produzierten auch mit jeweils mehreren Hundert Beschäftigten die Kölnische Maschinenbau-Aktiengesellschaft in Bayenthal (1.700 Beschäftigte) und die Fabrik P. Herbrand & Cie. in Ehrenfeld. Die Gummiwarenfabrik von Franz Clouth in Nippes stellte wichtige Materialien für die Maschinenbauindustrie, die Schiffahrt und für das Verkehrswesen her. Allesamt waren es Firmen mit überregionaler Bedeutung, die rund um die ganze Welt exportierten. Zudem gab es eine Fülle von mittleren und kleineren metallverarbeitenden Betrieben: Nach der Jahrhundertwende bestanden rund 100 Firmen, die mehr als 50 Personen beschäftigten. 1914 zählte Köln fast 2.000 metallverarbeitende Betriebe. Die Vielfalt der metallverarbeitenden Produktion bildete die Stärke der Kölner Wirtschaft: Dampfmaschinen, Lokomotiven, Motoren, Kraftfahrzeuge, Eisenkonstruktionen, Automaten, Kabel und vieles mehr. Diese breite Streuung in der Produktion machte die Kölner Metallindustrie sehr anpassungsfähig in Krisen und bei Produktions- und Absatzveränderungen. Eine wachsende Bedeutung erlangte die Farben- und Chemieindustrie, auch wenn bis zum Ersten Weltkrieg nur in wenigen Betrieben der Durchbruch zur großindustriellen Produktion gelang. Die Chemische Fabrik Kalk begann 1859 mit zehn Arbeitern und beschäftigte 1908 bereits etwa 1.200 Arbeiter. Firmen wie W. A. Hospelt in Ehrenfeld, Lingens & Söhne in Mülheim und W. Leyendecker & Cie. in Köln jeweils mehrere Hundert. Das Baugewerbe florierte dank der sprunghaft angestiegenen Bautätigkeit: Ab 1882 wurden jährlich in der Neustadt etwa 1.000 Wohnungen gebaut, hinzu kamen zahlreiche öffentliche Bauten wie Schulen, Museen, Oper, Gas- und Wasserwerke, die das Bild der Großstadt im Aufbruch so nachhaltig prägten.

Aber selbst in der Textilindustrie, deren Bedeutung stark zurückgegangen war, arbeiteten vor dem Ersten Weltkrieg noch über zwanzig Prozent der in Industrie und Handwerk Beschäftigten. Der wirtschaftliche Einfluß des Nahrungs- und Genußmittelgewerbes sank beständig, aber eine Reihe von Schokoladenfabriken, unter ihnen Stollwerck, Brauereien und Mühlen spielten eine wichtige Rolle. Als neuer Industriezweig kam in den letzten Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg die Elektroindustrie und Kabelproduktion hinzu. Bestimmend in der Kabelproduktion in Köln wurde die Firma Feiten & Guilleaume, die mit mehr als 6.000 Beschäftigten zum größten Arbeitgeber im Kölner Raum wurde. Auch die 1862 gegründete Gummiwarenfabrik Franz Clouth produzierte Kabel. Die Firma Helios stellte elektrotechnische Ausrüstungen her. Die Industrialisierung verdrängte aber keineswegs das Handwerk, das immerhin noch ungefähr ein Viertel der Beschäftigten stellte. Auch der Dienstleistungsbereich gewann stark an Bedeutung: der Handel, das Bankwesen, die Versicherungen machten Köln zur Handelsmetropole. Die Zahl der öffentlichen Bediensteten bei der Eisenbahn, der Post und in den übrigen Verwaltungen war recht hoch.

Kölns Wirtschaft läßt sich auch in der Phase der Hochindustrialisierung als eine gemischte Wirtschaftsstruktur kennzeichnen: Neben der Industrie waren Handel und Gewerbe noch stark vertreten. Köln wurde nie eine reine Industriestadt, selbst nachdem es sich gerade in den Jahrzehnten nach der Reichsgründung zu einem wichtigen Industriestandort entwickelte. Während des industriellen Wachstums verschob sich zwischen 1871 und 1914 der Anteil der Beschäftigten lediglich um gut drei Prozent vom tertiären Sektor (Industrie) zugunsten des sekundären Sektors (Dienstleistungen). 1914 gehörten 57 Prozent der Beschäftigten zu Industrie und Handwerk und 41,2 Prozent zum Dienstleistungsbereich. Vielfalt und nicht Monostruktur prägte die Kölner Wirtschaft. 1907 beispielsweise beschäftigten über 32.000 Betriebe im Durchschnitt 4,6 Arbeitnehmer, während etwa Essen über 11 Beschäftigte pro Betrieb zählte, weil mit den Krupp-Stahlwerken ein einzelnes Unternehmen dominierte. Der differenzierten Wirtschaftsstruktur entsprach eine differenzierte Sozial- und Beschäftigungsstruktur: Köln besaß kein einheitliches Industrieproletariat, der Mittelstand war verhältnismäßig groß. Das erhebliche wirtschaftliche Wachstum in den Jahren 1871 bis 1914 kam allerdings nur einer Minderheit zugute: Dem Reichtum weniger stand die bittere Not des größten Teils der Bevölkerung gegenüber. Die soziale Frage entwickelte sich infolge der Industrialisierung zum drängendsten Problem. Die Arbeiterschaft war zur stärksten Gruppe angewachsen. Das alltägliche Leben der Arbeiter gestaltete sich äußerst karg: ein zehn- bis zwölfstündiger Arbeitstag bei einer 6-Tage-Woche, lange Fußmärsche zur und von der Arbeitsstätte, schlechte und häufig gesundheitsgefährdende Arbeitsbedingungen, Löhne, die nur knapp über dem Existenzminimum lagen, häufig unzumutbare Wohnverhältnisse und nicht zuletzt die ständige Furcht vor Arbeitslosigkeit. Da Arbeitsschutz und Tarifverträge fehlten, konnten die Arbeiter in wirtschaftlichen Krisenzeiten, bei strukturellen Veränderungen oder in den Wintermonaten ohne viel Federlesen entlassen werden. Besonders hart von Arbeitslosigkeit betroffen waren Tagelöhner und ältere Arbeiter. Bei Krankheit und im Alter folgte die Verarmung zwangsläufig, da die in den 80er Jahren beschlossenen Sozialgesetze keinen ausreichenden Schutz boten. Die Lohnsituation war vielfach miserabel. In Krisenzeiten wurden die Löhne in der Regel gesenkt. Die Lebenshaltungskosten einer Arbeiterfamilie lagen zumeist höher als die Löhne, so daß häufig Schulden gemacht werden mußten. Einen Notgroschen anzulegen, gelang den wenigsten; aber selbst die Hälfte der Sparer erreichte nicht einmal 150 Mark. Sogar Facharbeiter lebten am Rande des Existenzminimums. 1891 betrug der Tagesverdienst eines Arbeiters in der Baumwollspinnerei und -weberei 1,96 Mark und sank ein Jahr später wegen Arbeitszeitverkürzung von einer Stunde auf 1,90 Mark. Ein Kassierer bei der Kölner Pferdebahngesellschaft verdiente 720 Mark im Jahr, was weit unter den Lebenshaltungskosten lag. Ohne Trinkgelder konnte er nicht davon leben. Mehr als zwei Drittel aller Erwerbstätigen verdienten weniger als 900 Mark im Jahr. Häufig mußten Frauen und Kinder mitarbeiten, um den Lebensunterhalt der Familie zu sichern. Frauen erhielten nach wie vor für die gleiche Arbeit etwa 40 Prozent niedrigere Löhne. Kinderarbeit war selbst um die Jahrhundertwende nicht ungewöhnlich.

Dennoch war seit den 90erjahren eine deutliche Verbesserung der Einkommen und eine leichte Anhebung des Lebensstandards unverkennbar - bei langsam sinkenden Arbeitszeiten. Hatten 1880/81 über zwei Drittel der in Köln wohnenden Erwerbstätigen weniger als 900 Mark verdient, sank der Anteil 1910 auf rund 45 Prozent. Von rund zehn auf dreißig Prozent stieg der Anteil der Erwerbstätigen mit einem Jahreseinkommen zwischen 900 und 1.500 Mark. Das Jahreseinkommen der Angestellten lag zwischen 1.500 und 3.000 Mark, das von höheren Angestellten häufig über 5.000 Mark. Mehr Lohn bedeutete aber für viele noch kein erträglicheres Leben, da Preissteigerungen vieles von den Lohnzuwächsen wieder wegfraßen. Köln zählte zu den teuersten Städten im Deutschen Reich. Es blieb bis weit ins 20. Jahrhundert hinein, daß das Erlebnis der Knappheit, die Erfahrung tatsächlicher und drohender Armut zu den zentralen Bestandteilen der Lohnarbeiterexistenz gehörten.

Besonders in den Wohnverhältnissen spiegelten sich die krassen sozialen Gegensätze wider. Während das Großbürgertum in prunkvollen Stadtvillen oder an der Ringstraße wohnte, das mittlere Bürgertum in Vororten wie Lindenthal oder Klettenberg, war die Wohnungslage der Arbeiter und ihrer Familien elend. Große Familien mit oft mehr als acht Personen lebten in sehr kleinen Wohnungen von einem beheizbaren Raum und einer oder zwei Kammern, oft sogar nur in einem Zimmer. Die sanitären Verhältnisse waren erschreckend schlecht: Ein Bad fehlte in aller Regel, mehrere Familien im Haus mußten sich einen Abort teilen. Die Wohnbebauung wurde erheblich verdichtet: Das kleine »rheinische Dreifensterhaus« wurde aufgestockt und angebaut und damit bald jede Freifläche genutzt. In der Neustadt errichtete man von vornherein Wohnhäuser mit mindestens vier Stockwerken. Um die stark steigenden Mieten aufbringen zu können, mußte häufig untervermietet werden oder man nahm ».Schlafgänger« auf; so nannte man die zumeist ledigen jungen Arbeiter und Arbeiterinnen, denen lediglich ein Bett oder sogar nur ein Teil des Bettes vermietet wurde. Gegen die grassierende Wohnungsnot unternahm die Stadt zunächst nichts. Der gemeinnützige Wohnungsbau blieb bis zum Ersten Weltkrieg ziemlich unbedeutend. Verschiedene Firmen wie Feiten & Guilleaume oder Stollwerck ließen Werkswohnungen erbauen und auf Privatinitiative einzelner wurden Arbeiterwohnungen und -Siedlungen geschaffen. Aber auch die Bemühungen einer Reihe von Wohnungsbaugenossenschaften konnten die Wohnungsnot nicht wesentlich lindern, denn bis 1915 stellten sie lediglich zwei Prozent aller Neubauten her.

Durch die Industrialisierung wuchsen der Stadt neue Aufgaben zu. Sie entwickelte sich zu einem Gemeinwesen modernen Gepräges, bei dem die aktive Daseinsvorsorge für die Bürgerinnen und Bürger der Stadt im Mittelpunkt stand. Noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts stagnierten die städtischen Aktivitäten, weil ein Großteil der städtischen Einrichtungen der Initiative einzelner Persönlichkeiten der bürgerlichen Oberschicht zu verdanken war. Die ehrenamtliche Honoratiorentätigkeit für das Wohl der Gemeinde wurde aber zurückgedrängt, da bald die neuen Aufgaben der Stadt private Möglichkeiten überstiegen. Die Stadt trat - nach strittigen Debatten im Rat - zunehmend als Unternehmerin auf Gebieten der Bevölkerungsversorgung auf. Es kam zur Kommunalisierung von Aufgaben: 1872 wurde das Wasserwerk an der Alteburg vollendet, 1873 das Gaswerk und 1890 die Müllabfuhr in städtische Regie übernommen, 1890 das Elektrizitätswerk am Zugweg gebaut und die Schwemmkanalisation ausgebaut, 1895 der Schlachthof und 1886 sowie 1904 neue Markthallen errichtet (zunächst in der Severinstraße, dann in der Altstadt), 1900 die Pferdebahn angekauft; weiter zählten dazu Kläranlage und Hauptfeuerwache. Nur allmählich hatte sich der Gedanke durchgesetzt, daß diese großen Aufgaben der Stadtentwicklung nur zu bewältigen waren, wenn auch Schulden gemacht wurden. Die städtische Finanzwirtschaft wuchs innerhalb weniger Jahre gewaltig an. Die Ausgaben der Stadt stiegen von 2,5 Millionen Mark 1871 auf 62,8 Millionen Mark 1913, wobei ein erheblicher Teil durch Schulden aufgebracht wurde. Auf der Einnahmenseite des städtischen Haushalts wurden zum zweirwichtigsten Posten die Einnahmen aus Schuldaufnahme und auf der Ausgabenseite der wichtigste Posten der Schuldendienst. Das wachsende Engagement der Stadt wirkte sich positiv auf die wirtschaftliche Entwicklung aus. Die zahlreichen Infrastrukturvorleistungen beflügelten wiederum den Industrialisierungsprozeß: die Entwicklung der Bauplanung, der Bau von Schulen, Kanalisation, Vieh- und Schlachthöfen, Feuerwehr und Krankenhäusern. Zudem wurde eine professionelle, leistungsfähige Verwaltung aufgebaut, die die stark vermehrten Verwaltungstätigkeiten - nach Dezernaten gegliedert - zu bewältigen hatte. Professionalisierung und Dezentralisierung waren Kennzeichen der neuen Verwaltungsstruktur. Das neue Selbstverständnis der Stadt, aktive Daseinsvorsorge zu betreiben, wurde auch im grundlegenden Wandel des öffentlichen Gesundheitssystems deutlich. 1894 gingen die gesundheitspolizeilichen Zuständigkeiten auf die Stadt über. Anstelle der Polizeiverwaltung, die lediglich überwachte und verbot, trat eine aktiv handelnde städtische Gesundheitspolitik. Angesichts der stark gewachsenen Bevölkerung war die Verbesserung der öffentlichen Hygiene besonders wichtig. Erst 1872 wurde eine moderne Wasserleitung in Betrieb genommen und in den folgenden Jahren die Kanalisation angelegt und der zwangsweise Anschluß von Neubauten an die Kanalisation und Wasserleitung angeordnet und 1905 mit dem Bau eines städtischen Klärwerks begonnen. Drei Viertel der öffentlichen Brunnen legte die Stadtverwaltung 1892 still, um der wiederholt drohenden Choleraepidemie zu begegnen. Die städtischen Bäder, wie das große Hohenstaufenbad, waren aus hygienischer Sicht dringend erforderlich, denn 1883 hatten lediglich drei Prozent aller Kölner Wohnungen ein Bad; noch 1910 wurde selbst bei Neubauten in lediglich etwa einem Viertel der Wohnungen ein Bad eingerichtet. Von weitreichender Bedeutung war es, daß die Stadtverordnetenversammlung 1905 nach langen Debatten mit Peter Krautwig zum ersten Mal einen Arzt zum Dezernenten für das Gesundheitswesen berief. Zu den Aufgaben der Gesundheitsverwaltung zählte vor allem der Kampf gegen die hohe Säuglingssterblichkeit, die in Arbeitervororten bis zu 28 Prozent betrug, und Maßnahmen gegen die Lungentuberkulose als häufigste Todesursache gerade bei Arbeitern. Es wurde eine Trinkerfürsorgestelle geschaffen und ein Rettungssystem aufgebaut. Der allmähliche Ausbau der öffentlichen Krankeneinrichtungen begann durch den Ankauf der Lindenburg 1871, wo nach der Jahrhundertwende eine neue große Krankenanstalt gebaut wurde; daneben bestanden noch weitere Krankenhäuser wie das Bürgerhospital und das Augustahospital.
Köln war auch eine sozialpolitisch aufgeschlossene Stadt: Mit der 1894 gegründeten »Arbeitsnachweis-Anstalt für Arbeitsuchende« trat sie als sozialpolitische Pionierin hervor. In die von ihr finanzierte Einrichtung bezog sie paritätisch Arbeitgeber und Arbeitnehmer mit ein. Der Anstalt angegliedert und mit erheblichen städtischen Mitteln gefördert war seit 1896 eine Versicherungskasse gegen Arbeitslosigkeit, die sich zunächst auf Winterarbeitslosigkeit beschränkte und 1911 in eine allgemeine Arbeitslosenversicherung umgewandelt wurde. Der Arbeitsanstalt wurde 1898 ein Wohnungsnachweis angegliedert, der gemeinnützig und unentgeltlich Wohnungen vermittelte.


Politische Kräfteverhältnisse im Kaiserreich

Die politischen Kräfteverhältnisse in Köln im Kaiserreich waren lange zweigeteilt: Während das Zentrum fast durchgängig die Abgeordneten zum Reichstag (von 1871 bis 1912) und zum Preußischen Landtag (von 1871 bis nach 1918) stellte, konnten die Liberalen nur dank des Dreiklassenwahlrechts ihre Mehrheit im Stadtrat lange behaupten. Die tatsächlichen Mehrheitsverhältnisse wurden dadurch auf den Kopf gestellt, denn bei allgemeinen Reichstagswahlen verlor der Liberalismus ständig an Gewicht. Der politische Liberalismus war im Niedergang begriffen: Seit den 1860er Jahren gespalten in Nationalliberale und Fortschrittspartei, konnten die Honoratiorenparteien keine Massenbasis gewinnen, hatten durch die Anpassung an die Politik Bismarcks viele ihrer liberalen Prinzipien preisgegeben und waren durch Widersprüchlichkeit und Zerrissenheit gekennzeichnet. Köln bildete dabei noch ein Zentrum des Liberalismus. Ludolf Camphausen (1803-1890) und Gustav von Mevissen (1815-1899) von den Nationalliberalen oder Johann Classen-Kappelmann (1816-1879) von der Fortschrittspartei waren über Köln hinaus bekannte liberale Persönlichkeiten. Die Nationalliberalen waren als stärkste liberale Partei vom Großbürgertum geprägt, während in der Fortschrittspartei das mittlere Unternehmertum und Kauf-lcute den Ton angaben. Die liberale Mehrheit im Stadtrat unterstützte tatkräftig den Kulturkampf, schlug einen streng antiklerikalen Kurs ein und verlieh zudem ßismarck und Moltke die Ehrenbürgerschaft. Oberbürgermeister und Oberbeamte der Verwaltung mußten Liberale sein, selbst Anhänger des Zentrums hatten keine Chance. Dem Juristen Friedrich Wilhelm Bachern (1863-1875) folgte als Oberbürgermeister Hermann Becker, der »rote Becker«, der als 48er Revolutionär im Kommunistenprozeß zu jahrelanger Haft verurteilt worden war, sich aber zum Nationalliberalen wandelte und Bürgermeister von Dortmund gewesen war; »rot« war Becker bald nur noch wegen seiner Haarfarbe. Ihm folgte der »schwarze Bek-ker«, Friedrich Wilhelm Becker (1886-1907), der wohl tatkräftigste und erfolgreichste Oberbürgermeister des 19. Jahrhunderts, der die Entwicklung Kölns zur modernen Großstadt nachhaltig beeinflußt hat.

Auch nach dem Bruch mit Bismarck konnten die Liberalen im Stadtrat ihre Mehrheit noch lange behaupten. Erst 1908 war es dem Zentrum nach langem, mühseligen Kampf gelungen, dauerhaft die Mehrheit im Stadtrat zu erobern. Jetzt begünstigte das Dreiklassenwahlrecht zum Landtag und zur Stadtverordnetenversammlung eindeutig das Zentrum, das nun auf' einmal von Wahlrechtsänderungen nichts mehr wissen wollte. Die dominierende Stellung des Zentrums erklärt sich aus seiner Einbettung in das katholische Milieu der Stadt. Katholische Kirche und politischer Katholizismus beherrschten das politisch-gesellschaftliche Klima in der Stadt. Köln wurde nicht umsonst das »deutsche Rom« genannt. Köln war eine Hochburg des sozialen Katholizismus, zu dem bereits Adolf Kolping mit seinem Wirken und den zahlreichen Sozialwerken den Grund gelegt hatte. Ein Netz von beruflich aufgefächerten Vereinen, Arbeitervereinen, der »Volksverein für das katholische Deutschland« bildeten die Basisorganisationen für das Zentrum; die christliche Gewerkschaft konnte innerhalb weniger Jahre den Abstand zur sozialdemokratischen Freien Gewerkschaft von 1:6 auf 1:3 reduzieren; die christliche Konsumgenossenschaft »Eintracht« wurde eine der größten ihrer Art, und nicht zuletzt besaß das Zentrum in der »Kölnischen Volkszeitung« eine publizistische Unterstützung. Entscheidend war, daß das ganze Organisationsgefüge auf das engste mit der katholischen Kirche verflochten war: Bis 1918 bildeten die Pfarreien die einzige Organisationseinheit des Zentrums. Pfarrer oder Kaplan betrieben nicht allein ihre Agitation von der Kanzel herunter, sondern waren oft zugleich auch die geistlichen Oberhäupter im Arbeiterverein und im Volksverein. Das Zentrum war sozial sehr heterogen zusammengesetzt und politisch ambivalent. Die konfessionelle Ausrichtung trat zunehmend zurück, mit der Folge, daß verstärkt Flügelkämpfe entstanden. Die Bindekraft der gemeinsamen Konfession nahm seit den 1880er Jahren durch die Säkularisation und vor allem bei der industriellen Arbeiterschaft ständig ab. Massiv kämpften das Zentrum und die zahlreichen katholischen Vereine gegen die Sozialdemokratie als »gottlose Umsturzpartei«. In der SPD war dem Zentrum ein starker Gegner erwachsen. Doch erst kurz vor dem Ersten Weltkrieg gelang es der SPD, den »Zentrumsturm« Köln zu erobern. Angesichts des übermächtig erscheinenden Zentrums hatte die Kölner Sozialdemokratie einen schweren Stand. Nach dem Ende des Sozialistengesetzes kam es zunächst sogar zu einem Rückgang bei den Reichstagswahlen und der Mitgliederzahl. Die Sozialdemokratie blieb aber bei Reichstagswahlen die zweite Kraft, da der Liberalismus kaum mehr eine Rolle spielte. An Mitgliedern zählte die Partei 1893 334, ein Jahr später sogar nur noch 161. Jedenfalls schien für die Kölner Sozialdemokratie der Kampf gegen das Zentrum lange Zeit völlig aussichtslos zu sein. Die Arbeiterpartei erweckte über viele Jahre den Eindruck einer Partei ohne Selbstbewußtsein. Sie war von innerparteilichen Auseinandersetzungen gekennzeichnet und steuerte ohne erkennbares Profil einen undramatischen Mittelkurs, war in der Gesamtpartei weder als sonderlich links noch sonderlich rechts aufgefallen. Dennoch gelang in den neunziger Jahren der Ausbau der Parteiorganisation: Seit 1892 erschien als Parteiblatt die »Rheinische Zeitung«, die dank großzügiger finanzieller Unterstützung der Berliner Zentrale wenig später als Tageszeitung herauskam, die Mitgliederzahlen stiegen stark, zahlreiche Arbeitersport- und Arbeiterkulturvereine entstanden, die sozialdemokratische Konsumgenossenschaft »Hoffnung« wuchs kräftig, die Mitgliederzahl der Kölner Freien Gewerkschaften stieg im letzten Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg sprunghaft von 1.000 auf 31.000 an. Partei und Gewerkschaften gründeten 1901 das »Arbeitersekretariat«, eine Rechtsberatungsstelle, die unentgeltlich arbeitete und stark in Anspruch genommen wurde. Ein Symbol für die gewachsene Macht der Arbeiterbewegung stellte das 1906 eingeweihte Volkshaus dar, das gemeinsame Domizil von Partei und Gewerkschaft an der Severinstraße. Nach der Jahrhundertwende organisierte die Kölner SPD große Wahlrechtskundgebungen gegen das preußische Dreiklassenwahlrecht. 1912 errang die SPD ihren größten Triumph: sie gewann zum ersten Mal das Kölner Reichstagsmandat. Adolf Hofrichter, seit Jahrzehnten ein angesehener Führer der Kölner Sozialdemokratie und der Gewerkschaft, wurde der erste sozialdemokratische Kölner Reichstagsabgeordnete. Jetzt schien die Zen trumsfestung Köln endlich von der Sozialdemokratie eingenommen worden zu sein. Aber nicht von langer Dauer: Nach dem Weltkrieg und der Spaltung der Arbeiterbewegung konnte das Zentrum die 1912 verloren gegangene Führungsposition wieder zurückerobern und nach 1919 Köln erneut zu seiner Hochburg ausbauen.
Die Katholiken stellten auch nach der Jahrhundertwende die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung, doch der katholische Anteil sank von 84,1 /oimjahre 1871 auf 78,1 % im Jahre 1910, der evangelische Anteil stieg im gleichen Zeitraum von 13,4 °/o auf 18,6 %. Die evangelischen Christen vermochten ihre Stellung jedoch zu festigen: Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts entstanden im Linksrheinischen neben der Gemeinde Alt-Köln vier Tochtergemeinden, das Netz von eigenen Schulen und Vereinen konnte ausgebaut werden und über ihre traditionell wichtige Rolle in der Kölner Wirtschaft vermochten die Protestanten ihren Einfluß in der Stadt zu sichern. Ein innerkirchlicher Streit in der evangelischen Kirche Kölns erregte in ganz Deutschland großes Aufsehen: Pfarrer Carl Jatho wurde nach seiner sehr beachteten Kritik an der Kirchenleitung nach jahrelangem Streit 1911 seines Amtes enthoben.

Der prozentuale Anteil der jüdischen Kölner Bevölkerung blieb zwar zwischen 1871 und 1910 mit 2,4 % gleich, doch vervierfachte sich ihre Anzahl von rund 3.000 auf rund 12.000. Der Großteil der jüdischen Bevölkerung Kölns war »assimiliert«, d. h. sie hatten sich in ihrem Alltagsleben an die christliche Umgebung angepaßt. Dennoch stieg die Zahl der jüdischen karitativen Vereine und Stiftungen, der jüdischen Schulen und Sportvereine. Bereits in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts beginnend, bildeten sich in der jüdischen Gemeinde unterschiedliche Richtungen heraus: Neben der religiös-liberal orientierten, weitgehend »assimilierten« Gruppe wuchs die religiös-orthodoxe Gruppe, die nach der Jahrhundertwende durch die Zuwanderung von Juden aus Osteuropa, den sogenannten »Ostjuden«, erstarkte. 1884 wurde für die orthodoxen Mitglieder eine eigene Synagoge in der St.-Apern-Straße eingeweiht. 1899 entstand mit der Synagoge Roon-straße als dritte große Kölner Synagoge das religiöse Zentrum für das liberale Judentum. Die wachsenden Spannungen führten 1911 zur Abspaltung der orthodoxen Gemeinde Adass-Jeschurun von der Hauptgemeinde. Von Köln gingen wichtige Impulse für die Entwicklung des Zionismus aus. Theodor Herzl hat Köln als »Hauptstadt des Zionismus« bezeichnet. Dies war vornehmlich das Verdienst des Anwalts Max Isidor Bodenheimer und des Kaufmanns David Wolffsohn, die 1894 eine »National-jüdische Vereinigung« (später »Zionistische Vereinigung«) in Köln gründeten. Thesen dieser Vereinigung sind als »Kölner Thesen« in die Geschichte des Zionismus eingegangen und haben den Kern des »Baseler Programms« auf dem ersten zionistischen Kongreß gebildet, dessen Verwirklichung ein halbes Jahrhundert später zur Gründung des Staates Israel führte. Köln wurde für einige Jahre zum Mittelpunkt des Zionismus, da Wolffsohn nach dem Tod von Herzl 1904 zum Präsidenten der Zionistischen Welt-Organisation gewählt wurde.

Um diejahrhundertwende entstand eine neue politisch-gesellschaftliche Kraft: 1895 begann die organisierte Frauenbewegung in Köln. Das Referat der bekannten Frauenrechtlerin Helene Otto im Gürzenich im Dezember 1894 veranlaßten Mathilde von Mevissen und zwei Freundinnen, im Januar 1895 den »Kölner Frauenfortbildungsverein« zu gründen. In den folgenden Jahren entstanden eine Reihe von weiteren Frauenvereinen unterschiedlicher politischer und sozialer Ausrichtung - bis 1933 waren fast 100 Vereine gegründet worden. Sie kämpften vor allem für eine bessere Bildung und Ausbildung und größere Berufsmöglichkeiten für Frauen. Sie forderten das aktive und passive Wahlrecht, bald auch die Abschaffung des § 218. Dabei wurde die Frauenbewegung durch den Staat behindert und bekämpft - nicht zuletzt in Köln. Denn es galt nach wie vor das reaktionäre preußische Vereinsgesetz von 1850, dessen Bestimmungen in Köln besonders rigide angewendet wurden. Noch 1902 kam es in Köln zu einem aufsehenerregenden Fall: Die Kölner Polizei verbot der Frauenrechtlerin Helene Simon ihr Referat auf einer Veranstaltung vorzutragen und verbannte - streng nach Gesetz - die Frauen auf die hinteren Bänke, wo sie dazu verdonnert waren, zu schweigen, denn allein Männer durften über Politik debattieren. Proteste dagegen halfen nichts. Zwar wurde 1908 das Vereinsgesetz geändert, aber erst die Revolution von 1918 bescherte den Frauen das Wahlrecht und die formale staatsbürgerliche Gleichberechtigung.

Köln bot während des Kaiserreichs auch den nationalen Verbänden einen fruchtbaren Boden. Die anfängliche Antipathie gegen Preußen war nach der Reichseinigung auch in Teilen der Kölner Bevölkerung in Nationalismus umgeschlagen. Vor allem seit der Jahrhundertwende wirkten im gesamten Reich nationalistische Organisationen wie der »Alldeutsche Verband«, Flottenvereine und Kolonialvereine, die die militaristische und und imperialistische Politik des Deutschen Kaiserreichs massiv unterstützten. In Köln gingen die Anfänge der Kolonialbewegung auf den Beginn der achtziger Jahre zurück. Eine wichtige Rolle spielte die 1888 gegründete »Deutsche Kolonialgesellschaft« in Köln, von der entscheidende Impulse für die Kolonialgesellschaft für das gesamte Reich ausgingen. Die Kolonialgesellschaft beherrschte das nationalistische Lager in Köln, aber es entstanden auch Kölner Lokalvereine des »Alldeutschen Verbandes«, des »Deutschen Ostmarkvereins«, der antipolnisch orientiert war, und des »Deutschen Wehrvereins«. 1906/07 erreichte die Kolonialgesellschaft mit 600 Mitgliedern ihren Höchststand. Ihre Mitglieder kamen aus der gehobenen Mittelschicht und aus der Oberschicht. Der Erwerb von Kolonien und der imperialistische Kurs des Deutschen Reiches wurden in Köln von großen Teilen der Wirtschaftselite unterstützt, etwa von Eugen Langen, Franz Carl Guil-leaume, Louis Hagen, Karl Stollwerck, Familie von Oppenheim, Leonhard Tietz, Eugen Pfeiffer und Eugen van der Zypen .Die Vorsitzenden der Kolonialgesellschaft waren lange die jeweiligen Präsidenten des Oberlandesgerichts. Die »Kölnische Zeitung« und die Verlegerfamilie DuMont forderten über Jahrzehnte hinweg den Erwerb von Kolonien. Aber auch die katholische Presse griff Kolonialthemen auf, zum Beispiel, wenn es sich um Fragen der deutschen Mission handelte. Oberbürgermeister Friedrich Wilhelm Becker stand lange Jahre dem geschäftsführenden Ausschuß des Flottenvereins vor, dessen Büro sich damit im Rathaus befand. Der Boden für nationalistisches Gedankengut war jedenfalls auch in der Kölner Öffentlichkeit vorbereitet.







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