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DEMOKRATISCHE TRADITIONEN IN DEUTSCHLAND

DEMOKRATISCHE TRADITIONEN IN DEUTSCHLAND

Vergangenheit ist offen zur Gegenwart, sie rändert sich mit den Erfahrungen späterer Generationen. In der deutschen Geschichte wird dies deutlicher sichtbar als in der Geschichte anderer Staaten und Gesellschaften, zwingt doch die nationalsozialistische Diktatur, die Zeit davor mit anderen Augen zu sehen, als es die Menschen vor 1933 getan haben. Warum entstand in Deutschland, und nur in Deutschland, ein Unrechtsregime, das sich die historische Mission zuschrieb, mit der Autorität und den Machtmitteln des Staates Bevölkerungsgruppen kollektiv zu entrechten und schließlich zu ermorden? Wer sich mit der jüngeren deutschen Geschichte beschäftigen will, muß sich diese Frage nach der Vorgeschichte des Nationalsoziaiismus stellen. Die Antworten, die darauf gegeben werden, fallen bis heute höchst unterschiedlich aus.
In den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg herrschten zwei Erklärungsrsuche vor: die nationalsozialistische Diktatur als der Einbruch des fremdartig Bösen in die deutsche Geschichte, oder: der Nationalsozialismus als das notwendige Ergebnis einer langen Fehlentwicklung, die manche bis zu Luther zurückrfolgen wollten. Beide Deutungen wurden bald als wissenschaftlich unhaltbar aufgegeben. Der Nationalsozialismus läßt sich nicht als Fremdkörper isolieren, aber es gab auch keine unheilvolle Entwicklungslinie, die unrmeidlich auf Hitler zulief. Die deutsche Geschichte hat die nationalsozialistische Diktatur ermöglicht, doch in dessen Vorgeschichte geht sie nicht auf.




Diese Ambivalenz macht den andauernden Streit über die langfristigen Ursachen des Nationalsozialismus rständlich, und sie macht es zugleich so schwierig, die Bedeutung demokratischer Traditionen für die politische Kultur in Deutschland angemessen einzuschätzen. Viele haben gemeint, einen "deutschen Sonderweg der früh rkümmerten Demokratie feststellen zu können. Doch als Vergleichsmaßs diente ihnen meist ein idealisiertes Bild des "demokratischen Westens, vor allem Großbritanniens, wie nicht zuletzt britische Historiker zu Recht kritisiert haben. Der Vergleich ist unrzichtbar, aber er darf sich nicht an realitätsfernen Wunschbildern "westlicher Demokratie orientieren, um erkennen zu können, was anders war in der deutschen Geschichte, warum die erste demokratische Republik, die 1918/19 in Deutschland entstand, 1933 in einen Staat mündete, der sich zu einem Terrorregime entwickelte, das historisch keine Parallele kennt.

"Die Revolution von oben: Staatliche Reformen im Deutschen Bund

Die Amerikanische und die Französische Revolution ließen Kernforderungen der modernen Demokratie - Menschenrechte und Volkssouveränität - zu einem Programm werden, in dem sich die Fortschrittserwartungen der Zeit bündelten. Ihnen konnten sich auch diejenigen Staaten nicht entziehen, die von der Revolution nicht erfaßt wurden. Dauerhaft verwirklichen ließ sich damals das demokratische Programm jedoch nirgendwo, auch nicht in Frankreich, wo Napoleon die Revolution beendete, indem er zentrale Ergebnisse bewahrte und zugleich "europäisierte. Denn die militärische Expansion des napoleonischen Frankreichs kam einer europäischen Revolution gleich. Die politische Landkarte des Kontinents wurde neu gestaltet, vor allem in Mitteleuropa. Das Alte Reich mit seiner verwirrenden territorialen Vielfalt verschwand, und an seine Stelle trat 1815 der Deutsche Bund. Er bestand zwar noch aus 41 Mitgliedstaaten, doch im Vergleich zu früher hatte Napoleon eine revolutionäre territoriale Flurbereinigung erzwungen, verbunden mit tiefgreifenden politischen und gesellschaftlichen Reformen. In Form einer "Revolution von oben schien nachgeholt zu werden, was in Frankreich die Revolution und Napoleon bewirkt hatten. Vom französischen Revolutionszentrum ging ein Erwartungsdruck aus, der auch andere Staaten zu Reformen nötigte, um die militärische und die ideelle Herausforderung bestehen zu können. Diese Reformwelle schuf zuvor unbekannte Freiräume für demokratische und liberale Ideen. Was die Aufklärung im 18. Jahrhundert nur hatte denken können, hofften viele, nun in die Tat umzusetzen.
Schon wenige Jahre nach 1815, als die europäischen Monarchien Napoleon besiegt und damit das Prinzip der monarchischen Legitimität gegen den revolutionären Veränderungswillen verteidigt hatten, ließ jedoch staatlicher Druck das politische Leben erstarren. Das war eine gesamteuropäische Entwicklung, die auch Frankreich und Großbritannien nicht aussparte. In Deutschland beendete sie eine Reformphase, in der binnen weniger Jahre die Grundlagen der modernen Gesellschaft und des modernen Staates entstanden. Denn die jahrhundertealte ständisch-feudale Ordnung begann sich aufzulösen, als vor allem Preußen und die Rheinbundslaaten auf den napoleonischen Revolutionsexport mit ihrer "Revolution von oben reagierten. Diese Reformfähigkeit der Staaten sollte für die Wirkungsmöglichkeiten demokratischer und liberaler Ideen in Deutschland in zweifacher Hinsicht von zentraler Bedeutung werden:
1. Der monarchische Staat gewann in Deutschland eine neue, nicht mehr vorrangig auf der Idee des Gottcsgnadentums fußende Legitimität, als er sich zur Modernisierung bereit und fähig zeigte. Im staatlichen Reformwerk zu Beginn des 19. Jahrhunderts hat die hohe Wertschätzung, die der Staat und seine Bürokratien in Deutschland genossen, eine ihrer Wurzeln. Erst später verfiel diese Haltung bei vielen Deutschen zur obrigkeitsfrommen Staatsgläubigkeit. Das ist jedoch nur ein Entwicklungsstrang. Ein anderer läßt sich als Entmythologisie-rung der monarchischen .Staatsordnung umschreiben. Die Idee des "Fortschritts wurde zum Richterstuhl, vor dem sich alle zu verantworten hatten, auch der Monarch und die von ihm eingesetzten staatlichen Machtträger. Sie wurden mehr und mehr an den Leistungen gemessen, die sie für die Gesellschaft erbrachten. Nur so ist es zu verstehen, daß die deutschen Monarchien am Ende des Ersten Weltkrieges verschwanden, ohne daß jemand ernsthaft versucht hätte, sie zu verteidigen. Dieser Entmythologisierungsprozeß. der zu den Grundvoraussetzungen für eine dauerhafte Demokratisierung von Staat und Gesellschaft zählt, verlief in Deutschland zwar langsamer als in Nordamerika und auch als in Frankreich oder Großbritannien, doch das unterscheidet die deutschen Staaten nicht von denen in Süd-, Nord- und Osteuropa. Auch hier bildete der Erste Weltkrieg den Endpunkt dieses Prozesses, ohne daß überall die monarchische Staatsform beseitigt wurde.

2. Erst die staatlich erzwungene "Revolution von oben schuf- ungewollt - in Deutschland die gesellschaftlichen Voraussetzungen für demokratische und liberale Reformbewegungen. Es wäre nämlich ein Irrtum, den Staat mit Reformverweigerung und die Gesellschaft mit Reformverlangen gleichzusetzen. Reformziele sind im 18. Jahrhundert vor allem von einer schmalen Bildungselite formuliert worden. Sie prägte die Ideen der Aufklärung, und sie beeinflußte auch die staatliche Politik im Zeitalter des "Aufgeklärten Absolutismus. Doch erst, als die napoleonische Expansion die ständisch-feudalen Ordnungen durchbrach, weiteten sich die politischen Handlungsspielräume. Nun schlug die Stunde der Reformbürokratie, die in einer Art "Entwicklungsdiktatur der Gesellschaft Veränderungen auferlegte, die diese keineswegs begrüßte; denn sie bedeuteten, auf überkommene Vorrechte verzichten zu müssen. Und das fiel schwer. Die Nutznießer ererbter Privilegien schritten nicht freiwillig in die egalitäre Staatsbürgergesellschaft, die sich als Konsequenz des Reformschubs abzeichnete. Das gilt insbesondere für den Adel, aber auch für die städtischen Bürger. Am Anfang des langen Weges in die moderne Staatsbürgergesellschaft stand in Deutschland also ein staatliches Reformwerk, das den oppositionellen Bewegungen, die vor allem seit den dreißiger und vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts entstanden, den Boden bereitete, indem es die Institutionen der Ständegesellschaft auflöste oder deren Auflösung einleitete. Wo es nicht zu dieser "Revolution von oben kam. wie in Osterreich oder in Rußland, entstanden keine einflußreichen demokratischen und liberalen Bewegungen.

Der Staat als unfreiwilliger Geburtshelfer gesellschaftlicher Reformkräfte -diese Ausgangssituation schuf aber nicht nur neue Freiräume, sie zog diesen zugleich eindeutige Grenzen. Denn die staatlichen Reformer wollten nicht demokratisieren, sondern "modernisieren. Sie wollten die Leistungsfähigkeil des Staates steigern, nicht die Mitwirkungsrechte der Gesellschaft an den staatlichen Entscheidungen erweitern, als sie ständische Privilegien abbauten, Wirtschafts-, Steuer- und Agrarreformen ("Bauernbefreiung) vorantrieben, Militär- und Bildungswesen zu reformieren begannen, kirchliche und kommunale Kompetenzen veränderten und die staatliche Verwaltung neu organisierten. Soweit frühparlamentarische Gremien zustande kamen, blieben ihre Kompetenzen begrenzt. Diese Verwaltung besaß den Vorrang - in der Praxis und auch in ihrem Selbslverständnis. Hegel brachte es auf den Begriff, als er in den 1821 erschienenen "Grundlinien der Philosophie des Rechts* die staatliche Bürokratie als den "allgemeinen Stand bezeichnete, der die "allgemeinen Interessen des gesellschaftlichen Zustandcs zu seinem Geschäfte ('§ 205) habe. Der bedeutende preußische Reformbeamte Gottlob J. Christian Kunth formulierte 1818 gewissermaßen die Rückseite dieses hohen Selbstbewußtseins der Staatsbürokratie: "Man kann mit Wahrheit sagen, daß das Volk (ich meine diejenigen, welche nicht an der öffentlichen Verwaltung stehen) bei uns in einer Art von bürgerlichem Tode lebt. Das ist überzogen, aber nicht falsch. Wer etwas bewegen wollte, mußte Zugang zur "öffentlichen Verwaltung haben. Wo diese auf die Zustimmung parlamentarischer Körperschaften angewiesen war, wie in den süddeutschen Staaten, griffen die Sozial- und Wirtschaftsreformen weniger tief als in Preußen, wo kein Landtag den bürokratischen Reformwillen bremste.

Hemmnisse der politischen Liberalisierung

Längerfristig erwies sich jedoch der fehlende Unterbau durch Verfassung und Parlament als ein gewichtiger Hemmschuh für den Prozeß der politischen Liberalisierung. Nicht Preußen, bis um die Jahrhundertmitte ein Staat ohne Verfassung und ohne Gesamtparlament, sondern die süddeutschen Verfassungsstaaten wurden zur Geburtsställe von Liberalismus und Demokratie in Deutschland. Wo keine Parlamente bestanden, blieben Liberale und Demokraten auf außerparlamentarische Organisationen verwiesen. Doch nur Parlamente eröffneten die Chance zur institutionell geregelten Mitwirkung an der staatlichen Politik. Deshalb gehört die Existenz von Parlamenten, selbst wenn ihre Rechte gering waren, zu den zentralen Bedingungen für die Entstehung von starken liberalen und demokratischen Kräften. Im Vergleich vor allem mit Großbritannien, aber auch mit Frankreich oder Belgien, dem 1830 aus einer von den Großmächten tolerierten Revolution hervorgegangenen Nationalstaat, war der Parlamentarismus in Deutschland rückständig, und damit waren die Handlungsspielräume für Liberale und Demokraten begrenzt. Einen Sonderfall bildeten die deutschen Verhältnisse gleichwohl nicht. Die Staaten des Deutschen Bundes umfaßten vielmehr die gesamte Spannweite des europäischen Entwicklungsgefälles - abgesehen von den beiden Extremen: ein parlamentarisches Regierungssystem nach britischem Vorbild, wo die Mehrheitsverhältnisse im Abgeordnetenhaus über die Zusammensetzung der Regierung entschieden, gab es in keinem deutschen Staat: eine autokratische Herrschaft nach russischem Muster ebenfalls nicht.

Demokraten und Liberale hatten sich in Deutschland auf eine bunte Vielfall der politischen Verhältnisse einzustellen. Das prägte sie und ihre Handlungsmöglichkeiten zutiefst. Wer in Deutschland politisch mitwirken wollte, mußte dies in einem der 41 Staaten tun. Ein Zentrum, in dem die Entscheidungen für die gesamte Nation gefällt werden konnten, gab es nicht. Der Deutsche Bund (1815-1866) bot dafür keinen Ersatz, denn er besaß weder eine Regierung noch ein Parlament. Die föderative Grundstruktur, die sich in Jahrhunderten herausgebildet hatte und weder durch die territoriale Revolution Napoleons noch durch die Gründung des deutschen Nationalstaats beseitigt wurde, bot Reformbewegungen durchaus auch Vorteile. Phasen der Restauration wurden föderalistisch gemildert, die staatliche Zersplitterung wirkte wie ein Schutzschild gegen einen gesamtdeutschen reaktionären Gleichschritt, den die beiden Vormächte des Deutschen Bundes. Österreich und Preußen, nicht erzwingen konnten. Schwerer wogen aber wohl die Hemmnisse, die der Föderalismus bis zur Reichsgründung für gesellschaftliche Emanzipations- und Oppositionsbewegungen bedeutete. Die staatliche Vielfalt und die kleinräumigen Traditionen, die fortlebten und die Wahrnehmungen der Menschen lange bestimmten, erschwerten es. die Reformkräfte zu bündeln. Erst seit den dreißiger Jahren begannen diese föderalistischen Sperriegel durchlässiger zu werden, ohne jedoch ihre Bedeutung zu verlieren. Damals begann eine "Nationalisierung von Lebenswelten, die für die politische Kultur in Deutschland von kaum zu überschätzender Bedeutung wurde und die Wirkungsmöglichkeiten von Demokraten und Liberalen völlig veränderte.

Die Leitidee "Nation

Gemeint ist ein vielschichtiger Prozeß, in dem sich der Horizont der Menschen weitete. Eine Fülle von Entwicklungen mußte zusammenkommen, um dies zu ermöglichen. Wachsende ökonomische Verflechtungen, erkennbar etwa an der Gründung des Deutschen Zollvereins (1834), trugen dazu ebenso bei wie die Alphabetisierung durch verbesserte Schulbildung oder die zunehmend dichteren Kommunikationsnetze: Eisenbahnen und Telegraphie, auf den neuen Schnellpressen hergestellte Zeitungen und Zeitschriften, anschwellende Buchproduktion oder die Erfindung der Photographie - alles half, den Erfahrungsraum der Menschen zu öffnen. Diese Entwicklung verlief zwar gestuft nach Sozialschichten und Geschlecht, in den Städten schneller als auf dem Land, doch generell gilt: für immer weniger Menschen endete die Lebenswelt am heimischen Kirchturm. Deshalb konnten erst jetzt Reformideen über den begrenzten Kreis der Gebildeten hinausdringen und zur Grundlage von Massenorganisationen werden. Daß es nur verhüllt politische Organisationen waren, kennzeichnet die Lage in den deutschen Staaten. Eine offene Politisierung ließen sie nicht zu. Bemerkenswert ist aber auch, daß anders als in den italienischen Staaten nicht Geheimgesellschaften, sondern öffentlich auftretende Organisationen die wichtigsten politischen Kristallisationspunkte bildeten. Außerparlamentarisches politisches Engagement wurde also nicht in den Untergrund abgedrängt, wohl aber mußte es eine unpolitische Fassade vorweisen.

Diese Aufgabe erfüllten viele Vereinsarten neben den speziellen Zwecken, denen sie vorrangig dienten, - etwa wissenschaftliche Organisationen, wie die Germanistentage von 1846 und 1847. vor allem aber die Turn- und Gesangvereine sowie die Gemeinden der religiösen Dissidenten, die sich aus den katholischen und protestantischen Amtskirchen lösten. Turner. Sänger und Dissidenten organisierten in den vierziger Jahren jeweils annähernd 100 000 Menschen. Sie bildeten das breite Fundament der demokratischen und liberalen Gesinnungsgemeinschaft, die sich nicht offen zusammenschließen durfte. Politische Wirkung ging von diesen Massenverbänden auch dort aus. wo sie nicht politisch auftraten. Denn in ihnen wurde demokratisches Verhalten eingeübt, und sie schufen eine Öffentlichkeit, die an den einzelstaatlichen Grenzen nicht haltmachte. Sie standen untereinander in Verbindung, trafen sich zu gemeinsamen Festen, sangen die gleichen Lieder, erhoben die gleichen Forderungen. Damit praktizierten sie. was die Staaten nicht zulassen wollten: eigenverantwortliches nationales Zusammenleben. Grenzen sprengten sie in doppelter Weise: In den Vereinen und ihren Aktivitäten formte sich eine nationale Öffentlichkeit aus, bevor es den nationalen Staat gab, und sie machten die sozialen Trennlinien durchlässiger. Die gebildeten Bürger blieben zwar weiterhin die zentralen Repräsentanten liberaler und demokratischer Ideen, die von ihnen auch weiterhin formuliert wurden. Doch diese Ideen fanden nun erstmals eine breite Resonanz im "Volk: im mittleren und unteren Bürgertum und auch schon in unterbürgerlichen Sozialkreisen, vor allem bei Handwerksgesellen, die sich insbesondere bei den Turnern und Dissidenten beteiligten und auch schon begannen, eigene Arbeitervereine zu gründen.
Obwohl die zahlreichen Oppositionen, aus denen sich die vormärzliche Reformbewegung zusammensetzte, im einzelnen höchst unterschiedliche Ziele verfolgten, stimmten sie doch in einem überein: Sie verstanden sich als Teile einer einzigen Nation, die den deutschen Nationalstaal einforderte - eine Leitidee, mit deren politischer und sozialer Integrationskraft keine andere konkurrieren konnte. Wer Ansprüche an die Zukunft stellte, erhob sie im Namen der Nation.
Gleichheitsforderungen, seien es politische, soziale oder kulturelle, werden stets mit Blick auf eine als ideal gedachte Ordnung begründet. Seit dem späten 18. Jahrhundert hieß dieses Ideal "Nation. Entstanden als Ideologie des Dritten Standes, gerichtet gegen die überkommene Privilegiengesellschaft, der das egalitäre Zukunftsmodell Staatsbürgergesellschaft entgegengestellt wurde, bot die Leitidee "Nation der säkularisierten Gesellschaft eine neue Bindekraft, geschöpft nicht mehr aus dem Glauben an eine gotlgefügte ständische Ordnung, sondern aus dem diesseitigen Glücksanspruch des einzelnen, der als Staatsbürger gleichberechtiges Glied der Nation sein wollte. Jede staatliche und gesellschaftliche Ordnung wurde nun an diesem neuen Ideal gemessen. Daß Versuche, es zu verwirklichen, mit schweren innergesellschaftlichen und zwischenstaatlichen Konflikten verbunden sein konnten, ließen bereits die Amerikanische und die Französische Revolution erkennen. In den europäischen Revolutionen von 1848 wurde es dann unübersehbar: ..Völkerfrühling und innerstaatlicher Frieden stellten sich nicht von selber ein, wenn die politische Verantwortung von den alten Mächten auf die Nationen und ihre gewählten Repräsentanten überging. Gleichwohl blieb die Idee der Nation das Leitbild aller, die Fortschritt einforderten, auch wenn sie sich im Namen des Fortschritts bekämpften.

Liberale und Demokraten in der Revolution von 1848/49

Als der staatliche Druck, der auf der Öffentlichkeit gelastet hatte, im März 1848 von der europäischen Revolutionswelle aufgebrochen wurde, konnte in Deutschland erstmals offen über die Gestaltung der Zukunft diskutiert werden. Was sich zuvor schon abgezeichnet hatte, wurde nun offenkundig: Eine geschlossen handlungsfähige Fortschrittsbewegung gab es nicht. Das gemeinsame Ziel, die nationale Staatsbürgergesellschaft, überbrückte nicht mehr die tiefen Trennlinien, die aufbrachen, als der äußere Zwang zur Gemeinsamkeit entfiel. Fortschritt zu mehr Demokratie wurde nun zu einem schillernden Begriff, der eine große Spannweite von Zielen und Wegen zu diesen Zielen abdeckte. Wer dieses weite Spektrum künstlich verengt, um der jeweiligen Gegenwart die erwünschte historische Legitimation zu stiften, verfehlt die Probleme, vor denen die Menschen damals standen, verfehlt vor allem die Einsicht, wie vielgestaltig die Forlschrittserwartungen waren. Gerade weil die Revolution ihre Ziele nicht erreichte, blieb ihre Deutung offen für spätere Generationen, die sich einer demokratischen Vergangenheit vergewissern wollten. Verfechter des klein-deutschen Nationalstaats von 1871 beriefen sich ebenso auf die gescheiterten Hoffnungen von 1848 wie ihre Gegner; wer die Verfassung der Weimarer Republik bejahte, verwies gerne auf das Verfassungswerk von 1849; aber auch wer der nationalsozialistischen Expansion eine historische Tünche geben wollte, erinnerte an eine Facette der Revolution: an die großdeutschen Träume, die 1848 gescheitert sind. Nach dem Zweiten Weltkrieg begann schließlich der deutsch-deutsche Streit um das demokratische "Erbe von 1848. Die Schwierigkeiten, die Revolution von 1848/49 in die Geschichte demokratischer Traditionen in Deutschland angemessen einzuordnen, verringerten sich also nicht mit der zeitlichen Distanz und auch nicht mit der voranschreitenden Forschung. Vertieft hat sich vielmehr die Erkenntnis, wie vielfältig gebrochen die Fortschrittserwartungen damals gewesen sind. Dazu nun einige Andeutungen.
Die Revolutionsbewegung zerfiel früh in mehrere Richtungen und Gruppierungen, die sich zum Teil wechselseitig verdächtigten und bekämpften, zum Teil aber auch kaum miteinander in Berührung kamen, ihre je eigene Revolution vor Augen.

"Fortschritt wollten sie alle, aber sie verbanden Unterschiedliches damit. Die beiden größten Gruppierungen, in einer Vielzahl von außerparlamentarischen Vereinen und in Parlamentsfraktionen organisiert, bildeten die Demokraten und die Liberalen. In ihrer Kernforderung stimmten sie überein: ein nationaler Verfassungsstaal mit parlamentarischem Regierungssystem sollte geschaffen werden. Gleichwohl entstand zwischen ihnen schon in den ersten Revolutionsmonaten ein innerbürgerüchcr Grundsatzstreit, der zu den zentralen Ursachen für das Scheitern der Revolution gehört. Uneingeschränkte Staatsbürgerrechte für alle Männer hier und jetzt oder als ein längerfristiges Programm, das Ungleichheil in der Gegenwart nicht nur zuließ, sondern für unverzichtbar hielt? Diese Frage spaltete 1848 das reformbereite Bürgertum in Demokraten und Liberale, weil sich in ihr die Hoffnungen und Ängste bündelten, mit denen die Bürger in die Zukunft blickten. Rechtlich wollten die Liberalen das Gleichheitspostulat, Zentralpunkt aller Reformprogramme des 19. Jahrhunderts, sofort verwirklichen. Politische Gleichheit galt ihnen hingegen als ein Zukunftsziel, dessen Verwirklichung dem einzelnen aufgegeben sei. Vollberechtigter Staatsbürger zu sein, ausgestattet mit dem uneingeschränkten Wahlrecht, setzte nach liberaler Vorstellung gewisse Eigenschaften voraus, die sie allerdings nur grob umrissen haben: Der "Citoyen sollte kein "Bourgeois sein, aber doch ein gesichertes Auskommen haben, und er sollte gebildet sein. Mit der Hochschätzung der Bildung stand der Liberalismus in der Tradition der Aufklärung. Der gebildete Bürger, fähig zur rationalen Einsicht in das Notwendige und Richtige, materiell unabhängig, kultiviert und jeder Gewalt abgeneigt - dieses liberale Staatsbürgerideal war eine Zukunftsverheißung, die in der Gegenwart in doppelter Weise ausgrenzte: nach Geschlecht und sozial.
Die Staatsbürgergesellschaft der Zukunft sollte eine Männergesellschaft sein, politische Gleichberechtigung für Frauen war nicht vorgesehen. Darin stimmten die Liberalen mit der großen Mehrheit der Demokraten überein. Auf dem linken Flügel zeigte man sich zwar weniger verschlossen, doch unterschiedliche Haltungen zur Frauenemanzipation gehörten nicht zu den Ursachen für die Spaltung der bürgerlichen Reformbewegung in den Revolutionsjahren. Liberale und Demokraten trennten sich vielmehr, weil sie die Fähigkeil der Gegenwart, eine offene Staatsbürgergesellschafl zu ertragen, gegensätzlich einschätzten. Die Liberalen verlangten Filter, die den politischen Einfluß der "Massen, die ihrem Ideal des unabhängigen Bürgers nicht entsprachen, abschwächen sollten. Die Demokraten forderten hingegen, die sozial uneingeschränkte Staatsbürgergesellschaft sofort zu wagen. Sie wollten keineswegs, wie die Liberalen ihnen unterstellten, die politische in eine soziale Revolution weitertreiben; sie vertrauten vielmehr auf die überlegene Fähigkeit einer offenen Gesellschaft, ihre Konflikte in rationaler Weise zu regeln. Sozialpolitische Sofortprogramme gegen die Massenarmut (Pauperismus), das gesellschaftliche Zentralproblem der ersten Jahrhunderthälfte, hatten auch sie nicht anzubieten. Sie hofften, daß die demokratisch verfaßte Staatsbürgergesellschaft einen evolutionären Ausweg aus der sozialen Misere der Gegenwart finden werde. Diese Zuversicht teilten die Liberalen nicht. Sie waren überzeugt, der Weg der Demokraten werde zwangsläufig zum Chaos führen, wenn nicht institutionelle Sperren verhindern, daß der "unkultivierte Pöbel kraft seiner großen Zahl die Politik des künftigen Nationalstaats bestimmen kann. Auch die Liberalen wollten die offene Slaatsbürgergesellschaft. doch nur als Ziel eines längeren Weges, nicht als dessen Anfang, wie es die Demokraten forderten.

Fragt man nach progressiven Traditionen, nach Vorbildern, die sich in der Revolution von 1848/49 für die Gegenwart erschließen lassen, so entsteht also ein vielfältig gebrochenes Bild. Die Liberalen schufen einen Grundrechtskatalog, den auch spätere Generationen als musterhaft würdigten, und sie versuchten. der Gesellschaft eine Bauform zu geben, die weit in die Zukunft verwies, in Deutschland erst in der Weimarer Republik und dann in der Bundesrepublik Deutschland eingelöst: den parlamentarischen Verfassungsstaat. Im Unterschied zu den Demokraten mißtrauten sie aber der staatsbürgerlichen Vernunft des "Volkes, dessen politischen Einfluß sie durch institutionelle Filter abschwächen wollten. Gleichberechtigung der Geschlechter forderten beide ebensowenig wie eine soziale Erweiterung der Grundrechte. Die Demokraten zeigten sich zwar aufgeschlossener für die Notwendigkeit einer staatlichen Sozialpolitik, doch einigermaßen klare Vorstellungen davon besaßen auch sie nicht. Sie wandten sich gegen die "Vielregiererei, wollten die staatliche Verwaltung ausdünnen, der sie gleichzeitig aber eine aktivere Sozialpolitik abforderten. Weniger Staatsapparat und mehr Staatsleistung - dieser Widerspruch durchzog die Politik der Demokraten. Ihre größere Vertrautheit mit der Welt der "kleinen Leute machte sie jedoch fähig, mit den Arbeiterorganisationen zusammenzuarbeiten, die 1848 erstmals in größerem Umfang entstanden sind. Die Liberalen dagegen sahen im selbständigen politischen Auftreten unlerbür-gerlicher Schichten ein weiteres Sturmzeichen für die vermeintlich drohende soziale Revolution, die zur gewalttätigen Pöbelherrschaft und schließlich zur Diktatur führen müsse. In der Furcht der Liberalen vor einer sozialen Revolution und in ihrer Ablehnung revolutionärer Gewalt - dies gilt für den europäischen Liberalismus insgesamt, nicht nur für den deutschen - äußerten sich aber nicht nur die Sozialängste desjusie milieu, sondern auch die verfassungspolitische Modernität der Liberalen. Sie verlangten institutionalisierte Formen der Konfliklregelung. rechtlich geordnet und garantiert, langfristig kalkulierbar, ohne Anwendung von Gewalt, die, durch feste Rechtsnormen begrenzt, allein dem Staat zustehen sollten, den sie in einen parlamentarisch regierten Verfassungsstaat mit starkem monarchischen Oberhaupt verwandeln wollten. Die Demokraten teilten diese moderne Sicht von Politik und Staat, doch ihre grundsätzliche Bejahung der Republik und ihre größere Bereitschaft. Reformen notfalls auch mit revolutionärer Gewalt zu erzwingen, zogen eine tiefe Trennlinie zu den Liberalen. Die republikanische Slaalsform wäre nur durch eine erneute Revolutionswelle durchzusetzen gewesen, da die erste vor den Thronen haltgemacht hatte, und Gewall als ein Mittel der Politik galt den Liberalen, aber auch den meisten Demokraten, als ein archaischer Rückfall.

In den Jahren 1848/49 prallten zwei Revolutionen mit unterschiedlichen Politikformen aufeinander: Neben der "institutionalisierten Revolution, die ihre Zentren in den Parlamenten und in den vielen neuen Interessenorganisationen besaß, gab es die "spontane Revolution, wenig organisiert, kurzfristig handelnd, vielfach verbunden mit Gewalt oder Gewaltandrohung als einer althergebrachten Form kollektiver Interessenpolilik. So zerstörten zum Beispiel Bauern die Zeugnisse ihrer Abhängigkeiten und Lasten, und mißliebigen Abgeordneten, die sich politisch nicht so verhielten, wie von ihnen erwartet wurde, oder Bäckern, die in den Verruf geraten waren, schlechtes Brot zu liefern, wurden die Fenster eingeworfen und "Katzenmusiken gebracht. Anders als die "institutionalisierte Revolution, die rasch parlamentarisch legalisiert wurde. zielte die "spontane Revolution nicht auf den Verfassungs- und Nationalstaat. Es ging um konkrete Politik vor Ort. eigenständig durchgeführt, nach eigenen Regeln, nichl durch Institutionen beschlossen. Eine bewahrenswerte demokratische Tradition? Vielleicht. Aber nicht so, wie es damals praktiziert wurde. Gleichwohl gehören beide Formen der Revolution, die institutionalisierte und die spontane, zu den demokratischen Traditionen in der deutschen Geschichte. Historische Orientierungshilfen für die Gegenwart wird man daraus aber nur gewinnen können, wenn man erkennt, daß hier zwei Lebenswelten aufeinander stießen, mit unterschiedlichen Zielen und Verhaltensweisen. Die Konflikte, die daraus hervortrieben, waren zeitgebunden, das grundsätzliche Problem jedoch nicht: der notwendige, aber mühsame Ausgleich zwischen lokalen und zentralen Aufgaben und Interessen, zwischen politischen Institutionen und dem Willen der Bürger, unmittelbar an politischen Entscheidungen beteiligt zu werden. Über diese Fragen wird auch heutzutage gestritten. Doch weder der einen noch der anderen Seite kann die Berufung auf die Revolution von 1848/49 eine demokratische Tradition stiften. Die historische Betrachtung belehrt nur über die Probleme, die damals einen Ausgleich verhindert und deshalb dazu beigetragen haben, daß die revolutionäre Chance, in Deutschland um die Mitte des 19. Jahrhunderts einen demokratischen Nationalstaat zu schaffen, nicht genutzt werden konnte.

Nationalpolitik und ihre Koalitionen

Die Revolution scheiterte, in Deutschland wie überall in Europa. Doch sie hatte Folgen. Es begann das dunkle Jahrzehnt der Reaktion, aber es gab keinen Rückfall in die vorrevolutionären Verhältnisse, denn nicht alle Ergebnisse der Revolution wurden beseitigt. Um nur das Wichtigste zu nennen: Die "Bauernbefreiung. 1848 unter günstigeren Bedingungen als zuvor durchgeführt, blieb unangetastet; und Preußen behielt seine Verfassung und das Parlament - zwei Schöpfungen der Revolutionszeit, die Preußen zum potentiellen Bündnispartner der deutschen Nationalbewegung machten, während Österreich wieder zum Staat ohne Verfassung und ohne Zcntralparlament zurücksank. Das schloß Reformen jedoch nicht aus. Wirtschaftlicher Reformeifer der Regierung und politische Reformverweigerung gingen vielmehr selbst im neoabsolutistischen Österreich Hand in Hand. Die staatlichen Eliten hatten 1848/49 gelernt, daß sich begrenzte Reformen als Schutzwall gegen Revolutionen einsetzen ließen, und das Bürgertum zog aus den Erfahrungen von 1848/49 die Lehre, daß jede Revolution unkalkulierbare Gefahren für die eigene politisch-soziale Position freisetze. Damit gaben Liberale und Demokraten nicht ihre Ziele preis, sie schlössen jedoch fortan revolutionären Druck aus ihrem Handlungsrepertoire grundsätzlich aus. Die jakobinische Traditionslinie war in Deutschland auch zuvor schwach gewesen, nun endete sie. Auch die demokratische Bewegung, die 1848/49 alle anderen politischen Richtungen an Umfang und Aktivität weit übertroffen hatte, lebte nie wieder in der alten Form auf.

Als seit 1859 die Politik erneut in Bewegung geriet, waren die Verhältnisse gründlich verändert. Die rasch voranschreitende Industrialisierung hatte den Pauperismus, das alles überragende Problem der ersten Jahrhunderthälfte beseitigt und damit neue politische Bedingungen geschaffen. Eine optimistische Zukunftssicht herrschte vor und schuf den liberalen Ideen, die vom harmonischen Weg in eine bessere Zukunft kündeten, ein günstiges Klima. Die Leitbilder der Verlierer von 1848/49 waren also erfolgreicher als je zuvor. Das befähigte die Liberalen, an die Spitze einer nationalen Bewegung zu treten, der sich Menschen und Gruppen zurechneten, die im einzelnen höchst unterschiedliche Ziele verfolgten. Liberale in ihren vielfältigen Abstufungen, Demokraten und die in den sechziger Jahren in veränderter Form wiederentstchende Arbeiterbewegung - sie bekämpften sich im Namen des "Fortschritts, doch sie erwarteten ihn im nationalen Staat. Wer nach dem Nationalstaat verlangte, forderte die Veränderung des Bestehenden.
Wie übermächtig die "nationale Frage geworden war, zeigte sich an der neuen Trennlinie, die nun die gesamte politische Landschaft in zwei Blöcke teilte. Der eine erstrebte den kleindeutschen Nationalstaat, in dem Preußen aufgrund seiner territorialen Größe, seines wirtschaftlichen und militärischen Gewichts zwangsläufig dominieren würde, der andere hatte einen föderativen Nationalstaat vor Augen, der Österreich in irgendeiner Form einschließen und damit den mittleren und kleineren Staaten einen gewissen Schutzraum zwischen den beiden deutschen Großstaaten erhalten sollte. ..Kleindeutsch und "großdeutsch hatten zwar auch schon vor 1849 die Parolen gelautet, um die herum sich die politischen Richtungen neu zu gruppieren begannen, doch erst in den sechziger Jahren wurden sie schlechthin dominant. Wer nach den demokratisch-liberalen Kräften fragt, findet sie auf beiden Seiten in seltsamen Koalitionen. Das kleindeutsche Lager reichte vom Lassalleanischen Flügel der Arbeiterbewegung über bürgerliche Demokraten und vor allem Liberale bis zum preußischen Ministerpräsidenten Otto von Bismarck. der im Verfassungskonflikt (1862-66) als kampfentschlossener Minister zur Verteidigung der monarchischen Rechte angetreten war, dann aber eine überraschend flexible Politik machte, die das illiberale Preußen zur militärischen Speerspitze der kleindeutschen Nationalbewegung werden ließ. Auch das großdeutsche Lager umschloß eine innenpolitisch ähnlich "unreine Mischung: Antipreußische Demokraten, die ihren organisatorischen Schwerpunkt in Württemberg und Baden besaßen, wirkten nicht nur mit dem großdeutschen Flügel der Arbeiterbewegung um August Bebel und Wilhelm Liebknecht zusammen, sondern auch mit Konservativen, wenn diese nur strikt gegen einen preußisch geführten Nationalstaat eingestellt waren.

Das Übergewicht nationalpolitischer Optionen ließ anders begründete Koalitionen nicht zu. Innenpolitische Gegner wurden zusammengezwungen, mögliche Bündnispartner getrennt. Diese Szenerie, der sich niemand entziehen konnte, bestimmte und begrenzte fundamental die Gestaltungsmöglichkeiten aller politischen Richtungen im Reichsgründungsjahrzehnt. Weil der Kampf um die territoriale Gestalt des Nationalstaats mit dem Ringen um dessen innere Ausgestaltung unlösbar verwoben war, ließen sich bei der Verfassungsgebung nur Kompromisse erzielen zwischen denen, die nationalpolitisch zusammenarbeiteten, innenpolitisch aber Unterschiedliches anstrebten. Das hatte sich schon 1867 gezeigt, als mit der Gründung des Norddeutschen Bundes die nationalpolitische Entscheidung gegen Österreich fiel, und es wiederholte sich, als 1871 der norddeutsche Rumpfstaat um die süddeutschen Staaten zum Deutschen Reich erweitert wurde. Liberale Ideen setzten sich dabei in hohem Maße durch, doch der Kern der Herrschaftsordnung blieb monarchisch bestimmt. Dieser Kompromiß, der keine Seite voll zufriedenstellte, war der Preis, der für die erfolgreiche nationalpolitische Zusammenarbeit innenpolitischer Kontrahenten gezahlt werden mußte. Wer ihn nicht entrichten wollte, schaltete sich selber politisch aus. Das gilt vor allem für die süddeutschen Demokraten. Sie waren so sehr im Abwehrkampf gegen Preußen aufgegangen, daß sie fast zwei Jahrzehnte brauchten, um nach dem Schock des preußischen Sieges in ihren alten Hochburgen wieder Fuß zu fassen - nun aber in einer Spielart des Linksliberalismus, während sie zuvor eine programmatisch und organisatorisch selbständige Gruppierung gebildet hatten. Starke demokratische Parteien, im Bürgertum sozial beheimatet und deutlich abgegrenzt von den Liberalen, hat es also in Deutschland nur 1848/49 und in erheblich schwächerem Maße noch einmal in den sechziger Jahren gegeben. Ihr zweimaliges Scheitern überlebten sie nicht. Parteipolitisch durchgesetzt hat sich im bürgerlichen Forschrittsmilieu, wer auf der Seite des siegreichen Preußen stand: die Nationalliberalen als die eigentliche Reichsgründungspartei an der Seite Bismarcks, aber auch die Linksliberalen, denen die nationalliberale Kompromißbereitschaft zwar zu weit ging, ohne daß sie jedoch je versucht hätten, den Weg zum kleindeulsch-preußischen Nationalstaat zu blockieren.

Die blockierte Parlamentarisierung und ihre Folgen

Was wurde erreicht, was mißlang? Die sechziger und siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts gehören zu den großen Reformphasen in der jüngeren deutschen Geschichte. Erst jetzt verschwanden die Reste der ständischen Ordnung, die jahrhundertelang das Leben der Menschen bestimmt hatte: Die Heiratsbeschränkungen entfielen, die es in etlichen deutschen Staaten noch gegeben hatte. Freizügigkeit und Gewerbefreiheit galten nun überall, und die Juden wurden gleichberechtigte Staatsbürger. Jedenfalls sah dies die Verfassung vor. Kaum ein Bereich blieb unverändert, als die Rechts- und Wirtschaftsordnung in schnellen Schritten liberalisiert und vereinheitlicht wurde, so daß der Nationalstaat die Hoffnung einzulösen schien, die seine Verfechter in ihn gesetzt hatten: durch ..Einheit zur Freiheit, wie das politische Glaubensbekenntnis der Nationalbewegung lautete, der nationale Staat als eine Fortschrittskraft, der auf Dauer nichts widerstehe. Von diesem Optimismus waren vor allem die Liberalen durchdrungen. Die Kompromisse, die sie in der Verfassung hatten hinnehmen müssen, schienen nichts zu versperren, der Griff nach der Regierungsmacht galt ihnen nur als vertagt. Wer Wirtschaft. Gesellschaft und Kultur mit seinen Ideen durchdringe, könne nicht dauerhaft von der politischen Macht ferngehalten werden. Diese Überzeugung, die der gesamte Liberalismus ebenso wie die junge Sozialdemokratie teilte, sollte sich jedoch nicht erfüllen, jedenfalls nicht in der Weise, wie sie es sich vorgestellt hatten.
Ohne das nationale Parlament, den Berliner Reichstag, ließ sich in Deutschland zwar fortan nicht mehr regieren, aber es entstand kein parlamentarisches Regierungssyslem. Eine komplizierte föderative Verfassungskonstruktion sorgte dafür, daß das Kaiserreich ohne Ministerien auskam, und auf das Amt des Reichskanzlers, das sich unter Bismarck zur stärksten Kraft unter den Reichsinstitutionen entwickelte, besaß das Parlament keinen Zugriff. Diese Verfassungskonstruktion spiegelte getreu die politische Schwebelagc wider, die sich in den sechziger Jahren entwickelt hatte. Ohne den preußischen Staat mit seiner wirtschaftlichen und militärischen Kraft vermochte die Nationalbewegung ihr Ziel nicht zu erreichen, doch umgekehrt war auch Preußen auf die Nationalbewegung angewiesen. Denn ohne diesen Rückhalt wäre die preußische Politik nicht imstande gewesen, Österreich auszuschalten, und es ist keineswegs sicher, ob die deutschen und die europäischen Staaten die militärischen Eroberungen, mit denen Preußen den Krieg 1866 abschloß, hingenommen hätten, wenn sie nicht in den Dienst der nationalstaatlichen Vision gestellt worden wären. Das Preußen Bismarcks und die nationale Bewegung, mit der sich die Fortschrittshoffnungen der Menschen verbanden, waren zu Bündnispartnern geworden, die jedoch höchst unterschiedliche Vorstellungen über die Bauform des gemeinsam errichteten Nationalstaats hatten. Der Kompromiß, der in den Verfassungsberatungen erreicht wurde, sah eine Art Arbeitsteilung vor und vertagte zugleich Kernprobleme in die Zukunft. Der Reichstag erhielt weitgehende Kompetenzen, die es ihm erlaubten, Wirtschaft und Gesellschaft nach eigenen Vorstellungen zu liberalisieren. doch das Herrschaftszentrum wurde nicht der monarchischen Verfügungsgewalt entzogen. Denn Reichsministerien mit parlamentarisch verantwortlichen Leitern konnten nicht durchgesetzt werden, und der Mililärhaushalt wurde nicht voll der Budgethoheit des Reichstags unterstellt. Der Reichstag verabschiedete ihn zwar nicht auf "ewige Dauer (Aternal), wie es der preußische Monarch und seine Berater verlangt hatten, doch nach einer Übergangsphase wurde der Militäretat meist auf sieben Jahre gewährt. Die Sonderstellung des Militärs, die in den Jahren der Etaterneuerung stets mit großem publizistischem Aufwand bekräftigt wurde, zog allen Parla-mentarisierungstendenzen bis zum Ersten Weltkrieg deutliche Grenzen.
Die in der Reichsgründungsära gescheiterte Parlamentarisierung hob Deutschland nicht nur markant ab von den "westlichen Modellstaaten Großbritannien, Frankreich und Belgien, die meist als Vergleich herangezogen werden, sondern auch von Italien, dem im gleichen Jahrzehnt wie Deutschland die Nationalstaatsgründung gelungen war. und von Ungarn, dessen nationale Autonomie in der Habsburgermonarchie 1867 sichergestellt wurde. Der deutsche Reichstag gewann zwar im Laufe des Kaiserreichs erheblich an Einfluß, doch der Griff nach der Regierungsmacht blieb ihm verwehrt. Das trug dazu bei. daß sich in Deutschland früher und entschiedener die Wege der bürgerlichen und proletarischen Fortschrittsbewegung trennten. Anders als z.B. in Großbritannien standen sich in Deutschland spätestens seit den siebziger Jahren Liberalismus und Sozialdemokratie in schroffer Konfrontation gegenüber. Die Gründe dafür sind vielfältig. Ein wichtiger ist darin zu sehen, daß nur in Deutschland die liberalen Parteien dem Zangengriff aus demokratischem Männer-Wahlrecht und versperrtem Zugang zur Regierungsgewalt ausgesetzt waren. Während in den anderen Staaten, mit Ausnahme Frankreichs, das weiterhin stark beschränkte Wahlrecht die liberalen Parteien begünstigte, mußten sie sich im Kaiserreich von Beginn an dem freien Wettbewerb eines uneingeschränkten Männer-Wahlrechts stellen. Der Bedeutungsschwund des Parteiliberalismus verlief in allen europäischen Staaten parallel zur Demokratisierung des Wahlrechts. Deutschland übernahm hier die Rolle eines demokratischen Pionierstaats - zu Lasten der Liberalen, die im Gegensatz zu Staaten mit parlamentarischem Regierungssystem den Wählern aus der Arbeiterklasse nicht anbieten konnten, ihre Interessen in der Regierungspolitik zu berücksichtigen.
Von Wahl zu Wahl zunehmender Druck von links bei gleichzeitig verwehrter Möglichkeit, als Regierungspartei einen bürgerlich-proletarischen Interessenausgleich zu versuchen - in dieser schwierigen Lage befand sich der Liberalismus bis zum Ersten Weltkrieg nur in Deutschland. Manche Historiker haben daraus die Folgerung gezogen, die Demokratisierung des Wahlrechts sei in Deutschland zu früh erfolgt. Entscheidend dürfte jedoch gewesen sein, daß sie nicht durch eine sofortige Parlamentarisierung begleitet wurde. So konnte ein "politischer Massenmarkt (Hans Rosenberg) entstehen, auf dem Parteien, die sich um Parlamentsmandale bewarben, sich nur unzureichend von außerparlamentarischen Interessenorganisationen unterschieden. Die Probleme, die daraus entstanden, zeigten sich massiv ab den neunziger Jahren, als die Politisierung der Bevölkerung ein zuvor unbekanntes Ausmaß erreichte. Nun begann die Ära der Massenorganisationen. So wuchsen bis zum Vorabend des Ersten Weltkriegs die sozialistischen Gewerkschaften auf etwa 2,5 Millionen Mitglieder an, der erst 1898 gegründete Flotlenverein auf zirka 1.1 Millionen und die Kriegervereine auf etwa 3 Millionen. Auch das konfessionelle Milieu organisierte sich zunehmend. Der 1896 gegründete "Evangelische Bund brachte es 1913 auf zirka 510 000 Mitglieder, der 1890 entstandene "Volksverein für das katholische Deutschland auf annähernd 800 000. Die Parteien, die mit diesen Zahlen nicht konkurrieren konnten, gerieten in zunehmendem Maße unter den Druck von Interessenorganisationen, denn diese zu zügeln und dennoch an sich zu binden, fehlte den Parteien das wirksamste Mittel: die Chance, die Regierung zu stellen.

Die blockierte Parlamentarisierung, die sich aus der Pattsiluation der Reichsgründungsära ergeben hatte, trug auch wesentlich dazu bei. die weltanschaulichen Milieus zu verfestigen, die im Kaiserreich und noch in der Weimarer Republik die Entstehung einer offenen pluralistischen Gesellschaft erschwerten. Es gehörte nämlich zu den deutschen Eigentümlichkeiten, daß die Parteien von Beginn an in vorpolitische "sozialmoralische Milieus (M. R. Lepsius) eingebunden waren. Das galt vor allem für die Sozialdemokratie und für das Zentrum. die Partei der Katholiken. Diese beiden Parteien repräsentierten jene großen Bevölkerungsgruppen, die aus unterschiedlichen Gründen von der kleindeutsch-preußischen Nationalstaatsgründung an den Rand der "Nation gedrängt und von deren Wortführern als "Reichsfeinde stigmatisiert worden waren. Den Waffensieg des protestantischen Preußen über das katholische Österreich hatten viele Protestanten als ein Gottesurteil gefeiert, das die Reformation nationalpolitisch vollende. Als dann kurz nach der Reichsgründung der ..Kulturkampf einsetzte, in dem Liberale und staatliche Organe gegen die katholische Kirche zusammenwirkten, verhärtete sich vollends die konfessionelle Trennlinie, die nun zugleich eine politische wurde. Der kirchenlreue Katholizismus formte eine Art Gegenwelt gegen die protestantisch-liberal geprägte "Nation aus, mit eigenen Organisationen, die von geselligen Vereinen über die Presse bis zu Laienspielgruppen und Büchereien reichten. Eine vergleichbare Entwicklung vollzog sich vor allem seit dem Auslaufen der Sozialistengesetze (1878-1890) in der rasch expandierenden Mitgliedschaft der sozialistischen Arbeiterbewegung. Deren Kern bildeten die Gewerkschaften und die Sozialdemokratie, doch das sozialistische Milieu reichte weit darüber hinaus. Es umfaßte ähnlich wie das katholische eine Gcgenwelt, die von der Wiege bis zur Bahre führen konnte und sich bemühte, allen Neuerungen, die sich "draußen vollzogen, eine sozialistische Parallele entgegenzustellen, seien es sozialistische Sportklubs oder sozialistische Stenographenvereine. Von diesen katholischen und sozialistischen Milieus, die sich im Kaiserreich ausformten, blieben die liberalen Parteien ausgeschlossen. Deren Einzugsbereich schrumpfte zurück auf das protestantische Bürgertum, um das sie mit den konservativen Parteien und im späten Kaiserreich mit den neuen Massenverbänden konkurrieren mußten.

Gebrochene Fortschrittslinien: Demokratisierungsleistungen des Kaiserreichs

Die politischen Wirkungen dieser gesellschaftlichen Segmentierungen lassen sich nicht in den klaren Konturen eines Schwarz-Weiß-Gemäldes beschreiben. Die Milieuverhärtung ermöglichte es jenen Bevölkerungsgruppen, die von dem protestantisch-liberalen Geist der preußisch-kleindeutschen Reichsgründung in die Rolle der "Reichsfeindc und "vaterlandslosen Gesellen gedrängt zu werden drohten, sich zunächst selber zu behaupten und dann zunehmenden Einfluß auf die Politik im Reich und in den Einzelstaaten zu gewinnen. Doch zugleich machte sie es unmöglich, die auf Demokratisierung und Liberalisierung drängenden Bevölkerungskreise um eine Partei zu versammeln. Selbst wenn sie gemeinsame Ziele verfolgten, ging ein protestantischer Bürger nicht mit einem katholischen Bürger zusammen und ein katholischer Arbeiter nicht mit einem sozialistischen. Deshalb waren die Fortschrittslinien in Deutschland seltsam gebrochen. Am Beispiel der Sozialversicherungsgesetzc der achtziger Jahre sei dies kurz umrissen.

Mil der Kranken-, Unfall-, Alters- und Invaliditätsversicherung vollbrachten Reichstag und Reichsbehörden eine sozialpolitische Pionierleistung, der andere europäische Staaten bald folgten, teils in Anlehnung an das deutsche Vorbild, teils eigene Wege beschreitend. Es mag paradox erscheinen, daß diese zukunftsweisende Gesetzgebung von den Konservativen, den Nationalliberalen und der Mehrheit des Zentrums gegen die Linksliberalen und die Sozialdemokratie im Reichstag durchgesetzt wurde. Der Grund für diese schiefe Frontlinie ist einfach: Wer nach mehr politischer Demokratie verlangte, lehnte es ab, dem unreformierten Staat über die Sozialgesetze noch weitere Aufgabenfelder zu erschließen. Wer dagegen dem bestehenden Staat näherstand oder die Demokratisierung schon für zu weitgehend hielt, hatte gegen eine Kompetenzsteigerung der staatlichen Organe nichts einzuwenden. Sozialpolitischer Fortschritt und politischer Fortschritt waren also nichl deckungsgleich - ein Kernproblem, das es unmöglich macht. Fortschrillsfreunde und Fortschrittsverweigerer säuberlich voneinander zu trennen und das Kaiserreich eindeutig zu charaklc-risieren.
Trotz der dramatischen Bevölkerungsexpansion, die zu verkraften war. verbesserten sich in dem knappen halben Jahrhundert seiner Existenz die sozialen und kulturellen Lebenschancen aller Menschen eindrucksvoll. Wer zu Beginn des 20. Jahrhunderts geboren wurde, konnte damit rechnen, älter zu werden, eine solidere Bildung zu erhalten, angenehmer zu wohnen, sich besser zu kleiden und gesünder zu essen als jemand, der zu Beginn des Kaiserreichs sein Leben begonnen hatte. Diese Demokratisierungslcistung. die Demokratisierung von Teilhabechancen am besseren Leben, ist gewiß nichl gering einzuschätzen. Ihr stand die nur begrenzte, in manchen Bereichen blockierte politische Demokratisierung gegenüber. Beide Seiten zusammen betrachtet, ergeben erst ein angemessenes Gesamtbild vom deutschen Kaiserreich, seinen demokratisierenden Erfolgen und seinen obrigkeitsstaallichen Grenzen.
Der Beginn des Ersten Weltkriegs enthüllte, wie sehr die Menschen aller Schichten und politischen Richtungen sich mit dem nationalen Staat verbunden fühlten, auch wenn sie ihn massiv kritisiert hatten. Die Kriegsbegeisterung, auf dem Glauben beruhend, der Krieg sei dem friedensbereiten Deutschland aufgezwungen worden, sparte kaum jemanden aus. Der innenpolitische "Burgfriede, der ausbrach, als der Krieg begann, schloß auch Sozialdemokraten und Pazifisten ein. die hofften, sich nun endgültig von dem Makel der vermeintlichen nationalen Unzuverlässigkeit befreien und den Krieg als Hebel zu inneren Reformen nutzen zu können. Einem Volk von Vaterlandsverteidigern werde das preußische Dreiklassenwahlrecht, das aufreizendste Symbol vorenthaltener staatsbürgerlicher Gleichberechtigung, nicht standhalten. Nicht das vielbeschworene gleichmachende Erlebnis des Schützengrabens jedoch sprengte die obrigkeitsstaatlichen Bollwerke, die einer vollen Demokratisierung entgegenstanden, sondern die Revolution, die im November 1918 aus einer Matrosenmeuterei hervorging und binnen weniger Tage das scheinbar unerschütterliche monarchische Deutschland beseitigte.

Leistungen und Lasten der Weimarer Republik

Die Revolution von 1918/19 zählt zu den herausragenden demokratischen Höhepunkten der deutschen Geschichte. Ob damals die Chance zu einer durchgreifenden Demokratisierung besser hätte genutzt werden können und die neue Republik dadurch die Kraft zum Überleben gewonnen hätte, beurteilen die Historiker bis heute sehr unterschiedlich. Das kann nicht überraschen. Denn es ist außerordentlich schwer, die erste deutsche Demokratie fair zu würdigen, weil ihr schmähliches Ende ihre Leistungen überschattet. Was wurde erreicht? Welche Lasten waren zu bewältigen?
Die Revolution stürzte die deutschen Monarchien und das auf sie zugeschnittene konstitutionelle Regierungssystem und ersetzte sie durch eine parlamentarische Republik. Dieser Demokratisierungsschub vollzog sich auf allen Ebenen: im Reich, in den Ländern und in den Kommunen. Bis dahin hing das Ausmaß staatsbürgerlicher Rechte der Deutschen davon ab, auf welcher Ebene sie sich politisch betätigen wollten und wo sie wohnten. Als Faustregel kann gelten: im Reich war die politische Gleichheit der Staatsbürger stärker verwirklicht als in den Einzelstaaten und in den Gemeinden. Dieses Gefälle zeigte sich im Wahlrecht besonders kraß. Es schloß nirgendwo so viele Menschen aus wie in den Gemeinden, mil großen Abweichungen jedoch von Stadt zu Stadt, und auch das Wahlrecht der Einzelstaalen variierte stark. Die Republik beseitigte dieses Gefälle, indem sie konsequent demokratisierte. Auch die Frauen erhielten nun das Wahlrecht, so daß mit der Weimarer Republik erstmals in der deutschen Geschichte eine Staatsbürgergesellschaft der politisch Gleichen verwirklicht wurde - die große Menschheitsvision seit der Amerikanischen und der Französischen Revolution.
Die politische Herrschaftsordnung wurde also gründlich verändert, demokratisiert und parlamentarisiert, und die ..Reichsfeinde von ehemals, Sozialdemokratie und Zentrum, waren nun die stärksten Stützen der jungen, noch ungefestigten Republik, zu deren erstem Präsidenten der Sozialdemokrat Friedrich Ebert gewählt wurde - Symbol der neuen Zeit und des Bruchs mit der monarchischen Vergangenheit. Auch die sozialdemokratisch orientierten Gewerkschaften - es gab außerdem christliche, das heißt katholische, und einen kleinen liberalen Flügel - wurden zu einem honorigen Teil der Gesellschaft, in vielen staatlichen Gremien vertreten und von den Unternehmern als Vertragskontrahenten anerkannt. Im März 1920 trugen die Gewerkschaften mit einem Generalstreik dazu bei, den Kapp-Lüttwitz-Putsch rechter Republikfeinde scheitern zu lassen, während die Reichswehrführung der legalen Regierung jede Hilfe verweigerte.
Mit der Weimarer Republik schien Deutschland vollends den Anschluß an die ..westlichen Demokratien gefunden zu haben, mit einer Verfassungsordnung, die deutsche Traditionen mit den Erfahrungen des "Westens zu verbinden suchte. Darin spiegelt sich ein zentrales Merkmal des Ersten Weltkriegs. Er war auch ein Krieg der Ideologien gewesen, der überall in Europa mit dem Sturz der autoritären Monarchien endete. Doch es begann kein dauerhafter Siegeszug der demokratischen Leitbilder, welche die siegreichen Alliierten, vor allem die USA unter Woodrow Wilson, ihren Kriegsgegnern entgegengestellt hatten. Die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen wurde vielmehr geprägt durch den sich zunehmend verschärfenden Konflikt und schließlich Kampf zwischen den liberal-demokratischen sowie den neuen bolschewistischen und faschistischen Ideologien, Bewegungen und Staaten. Deutschland bildete in dieser Entwicklung keinen Sonderfall, wohl aber wurden hier die Konflikte vehementer ausgetragen als in anderen europäischen Staaten, die ihre Demokratie ebenfalls nicht bewahren konnten, und nach 1933 entstand in Deutschland die aggressivste, menschenverachtendste Variante der faschistischen Regime. Daß die nationalsozialistische Diktatur scheinbar bruchlos aus der ersten deutschen Demokratie hervorgehen konnte, beruhte auf einer Reihe von Bedingungen, die abschließend mit einigen Bemerkungen skizziert werden sollen.

Die Weimarer Republik war mit Lasten überbürdet, die sie aus der Konkursmasse des Kaiserreichs ererbt hatte, die ihr jedoch von vielen Menschen aufs Schuldkonto geschrieben wurden. Ein Zenlralproblem war, daß die Weimarer Republik in eine Phase stagnierenden oder sogar rückläufigen Wachstums fiel. Die Nachkriegsgesellschaft sah sich deshalb in scharfem Kontrast zur Wachs-tumsgesellschafl des Kaiserreichs. Nicht nur die Wirtschaft stürzte in die schwersten Krisen, die es seit der "Industriellen Revolution je gegeben hatte, auch die stürmische Expansion der Bevölkerung und der Städte ging zu Ende. Begonnen hatte dieser Umbruch schon im Vorkriegsjahrzehnt, doch voll sichtbar wurde er erst in den zwanziger Jahren. In einer Gesellschaft, die während des Weltkriegs propagandistisch auf einen gewinnreichen Sieg eingestimmt worden war und ohnehin über die verlorene Größe der Nation trauerte, fiel es nicht schwer, den Wachstumsbruch der neuen Republik und ihren politischen Repräsentanten anzulasten. Hinzu kamen veränderte Verhaltensformen und kulturelle Leitbilder, die viele als Verunsichcrung erlebten, etwa das gestiegene Selbstbewußtsein der Frauen, symbolisch faßbar im Bubikopf als dem Emanzi-palionshaarschnitt der zwanziger Jahre, oder Sexualberatungsstellen, die in den größeren Städten eingerichtet wurden, und generell die ungemein lebhafte, experimentierfreudige Kultur der Weimarer Republik. Die nationalsozialistische Diffamierung moderner Künstler als "entartet mußte vielen biederen Bürgern nicht aufgenötigt werden, denn diese Kunst überforderte sie. Anderes verstärkte noch das Unbehagen an der neuen Demokratie, vor allem die immer weiter voranschreitende Politisierung der Öffentlichkeit, die es in diesem Ausmaß im Gehäuse des monarchischen Obrigkeitsstaates nicht gegeben hatte. Es gehört zu den bemerkenswerten Paradoxien. daß ausgerechnet in dem Augenblick, als das gesellschaftliche Ansehen, der politische Einfluß und die zahlenmäßige Stärke des deutschen Militärs drastisch sanken, die Militanz in der Öffentlichkeit stieg. Freikorps, dann Kampfverbände von Parteien prägten das Erscheinungsbild der Republik vor allem in der bürgerkriegsähnlichen Anfangszeit bis 1923 und in der Endphase. Die nationalsozialistische Diktatur baute die gesellschaftliche Militanz noch aus, unterstellte sie aber Parteiorganisationen.

Es wäre völlig verfehlt, die Weimarer Republik nur mit Blick auf ihre Krisen betrachten zu wollen. Sie hatte bedeutende innere und äußere Erfolge bei der schwierigen Bewältigung der Kriegsfolgen aufzuweisen. Zu diesen Leistungen zählt nicht zuletzt der Ausbau des Sozialstaats. Staatliche Arbeitsämter wurden geschaffen, und mit einer staatlichen Arbeitslosenversicherung versuchte man, die Massenarbeitslosigkeit sozial erträglich zu machen. Die Wachstumsgesell-schafl des Kaiserreichs hatte Dauerarbeitslosigkeit in diesem Umfang nicht gekannt. Die Weimarer Republik hätte Zeit gebraucht, um sich einstellen zu können auf die grundlegend veränderten Bedingungen einer Gesellschaft, die mit geschrumpften Ressourcen leben mußte. Doch diese Zeit des Umdenkens erhielt sie nicht, da in der 1929 einsetzenden Weltwirtschaftskrise die Parteien der bürgerlichen Mitte von ihren Wählern aufgegeben wurden. Es schlug die Stunde der radikalen Zukunftsvisionen, in denen immer mehr Menschen einen Fluchtweg aus der Misere der Gegenwart sahen.
Die Selbstaufgabe der Demokratie durch wachsende Bevölkerungsteile wäre nicht zu verstehen ohne einen kurzen Blick auf den wirklichkeitsblinden Nationalismus, der im späten Kaiserreich entstanden war und nach dem Ersten Weltkrieg eine Zuspitzung erfuhr. Er wurde zu einer der schwersten Belastungen der Weimarer Republik, da in ihm die Ablehnung des Bestehenden und die Sehnsucht nach etwas Neuem gebündelt zusammenliefen. Nicht die republikanische Verfassung, sondern die Weigerung, die Folgen der Kriegsniederlage anzunehmen und mit ihnen rational umzugehen, wurde zum Fundament des deutschen Nationalismus. Der Kampf gegen den "Versailler Schmachfrieden und die "Kriegsschuldlüge, wie die stereotypen Formeln hießen, bildeten die Lebenslüge eines Nationalismus, der die politische Kultur der Weimarer Republik vergiftete und die bedeutenden Leistungen der Republik aufzehrte. Seine stärkste und gefährlichste Bastion besaß er auf der Rechten, doch er erfaßte auch die republiktreuen Parteien. Als der Sozialdemokrat Carlo Mierendorff vor den "Schuldlügenfanatikern warnte, sprach er zu Recht von der "einzigartigen Autosuggestion eines ganzen Volkes, das sich durch die verzerrte nationalistische Vergangenheilswahrnehmung um die Zukunft betrog. Nutznießer dieser Selbstfesselung auch der Demokraten war die radikale Rechte, deren Erfolg ohne diesen emotional aufgeheizten Nationalismus wohl nicht denkbar gewesen wäre. Erneut erwies sich die überlegene Kraft des Nationalismus, politisch zu mobilisieren und zu integrieren. Doch er diente nun nicht mehr dazu, mehr Demokratie einzufordern. Der extreme Nationalismus der Weimarer Republik bündelte die Enttäuschungen über die krisengeschüttelte Gegenwart und die Hoffnungen auf eine radikal veränderte Zukunft. Niemand vertrat diese Mischung so virtuos wie die Nationalsozialisten. Sie verlieh ihnen die Kraft einer populistischen Bewegung, die seit 1930 das Parteienspektrum sprengte, das sich rund sechs Jahrzehnte als außerordentlich stabil erwiesen, sogar die Revolution überdauert hatte und nun zerbrach.

Die nationalsozialistische Diktatur


Der rassistische, biologistische Nationalismus der Nationalsozialisten war die Endstufe eines Prozesses, in dem das politisch-gesellschaftliche Leitbild ..deutsche Nation seine Liberalität einbüßte. Nun wurde es umgedeutet in eine Rassenideologie, die zu Weltherrschaftsplänen und Mord an vermeintlich Rassefremden führte. Es war eine Umwertung, aber kein völliger Bruch. Das Neue bestand vielmehr in der Sammlung und Steigerung des Negativen und Aggressiven, das es auch zuvor gegeben hatte, aber nie in dieser Weise zusammengefaßt und mit staatlicher Gewalt durchgesetzt worden ist.
In ähnlicher Weise läßt sich generell der Ort der nationalsozialistischen Diktatur in der jüngeren deutschen Geschichte bestimmen: kein völliger Bruch, aber auch keine notwendige Folge aus dem Früheren. Auch mit Blick auf die demokratischen Traditionslinien fällt das Urteil über den Nationalsozialismus gebrochen aus. Auf der einen Seite gibt es keinen Zweifel, daß der Terror des NS-Staates demokratischen Ideen keinen Lebensraum mehr ließ und diejenigen, die an diesen Ideen festhielten, mit dem Leben bedrohte. "Liberalistisch und "marxistisch pervertierten die Nationalsozialisten zu Denunziationswörtern, die für alle, die damit belegt wurden. Lebensgefahr bedeuteten. Insofern enden die demokratischen Traditionsstränge nach 1933 bei den Menschen, die als einzelne versucht haben, sich dem totalitären Machtanspruch des NS-Regimes zu entziehen und es mit den Möglichkeiten zu bekämpfen, die sich in ihrem jeweiligen Lebensbercich boten. Es hieße aber, der komplexen Wirkungsgeschichte des Nationalsozialismus auszuweichen, wollte man nur auf dieses Ende demokratischer Traditionen verweisen. Denn manche dieser F.nlwicklungslinien wurden nach 1933 fortgesetzt und sogar beschleunigt, indem sie in den Dienst des NS-Regimes gestellt wurden. Das läßt sich am besten wohl am Janusgesicht der nationalsozialistischen Volksgemeinschaftsideologie erläutern.
"Volksgemeinschaft war eine ungemein wirksame Integrationsideologie, die eine tödliche Außenseite für alle besaß, die aus ihr ausgestoßen wurden, vor allem also für die Deutschen jüdischen Glaubens oder jüdischer Herkunft. Sinti und Roma, körperlich oder geistig Behinderte oder die sogenannten "Asozialen. Noch in einer weiteren Hinsicht war die von den Nationalsozialisten unermüdlich geforderte "Volksgemeinschaft mehr als nur Ideologie: Alte Eliten wurden entmachtet, gesellschaftliche Trennlinien wurden durchlässiger und die gewünschten Sozialmilieus, in denen die Parteien eingebettet waren, verschwanden vollends, nachdem sie schon zuvor an Bindekraft eingebüßt hatten. Um zwei Beispiele zu geben: Das Offizierskorps, das noch in der Weimarer Republik zu den demokratisierungsfeindlichen Kräften gehört hatte, verlor während der NS-Diktatur seine aus vordemokratischer Zeit stammende politische und soziale Sonderstellung. Die Diktatur erzwang, was die Monarchie nicht gewollt und die Demokratie nicht erreicht hatte: Das Militär mußte sich der politischen Führung fügen. Damit endete in Deutschland eine lange historische Tradition, in der das Militär stets dem alleinigen Verfügungsrecht des Monarchen unterstand und alle Versuche scheiterten, es dem Zugriff anderer Verfassungsgremien, vor allem des Parlaments, aber auch der Regierung, zu öffnen. Diese Zerstörung der Sonderrolle des Militärs erleichterte es später, die Bundeswehr in die demokratische Verfassungsordnung der Bundesrepublik zu integrieren, obwohl eine große Zahl von Offizieren aus der nationalsozialistischen Wehrmacht übernommen wurde.
Die gesellschaftliche Position der Arbeiter dagegen haben die Nationalsozialisten ideologisch, aber auch in der Praxis aufgewertet. So wurde z.B. der soziale Graben zu den Angestellten, der in Deutschland besonders tief gewesen ist, nicht zugeschüttet, aber doch abgeflacht. Das gehörte zur Kehrseite der Entrechtung der Arbeiter und der Zerschlagung der alten Arbeiterbewegungen. die auch nach dem Zweiten Weltkrieg nicht in der früheren Form wiedererstanden. Die sozialdemokratische, die katholische und auch die kleine liberale Arbeiterbewegung hatten zu den zuverlässigsten Stützen der Weimarer Republik gehört. Ihre bloße Existenz hatte aber zugleich die gesellschaftlichen Trenngräben zementiert und damit die Chancen für den Aufbau einer pluralistischen Demokratie erschwert.
Es gab eine Vielzahl solcher gesellschaftlicher Barrieren, die vor 1933 den Demokratisierungsprozeß gehemmt hatten. Das Zerstörungswerk der Nationalsozialisten wirkte hier als eine "braune Revolution (David Schoenbaum). die ungewollt zur Modernisierung der deutschen Gesellschaft beitrug. In demokratischem Sinne nutzbar wurde die Zerstörung überkommener Strukturen aber erst, als das nationalsozialistische Deutschland 1945 den Krieg verlor - und weil es ihn verlor. Die bedingungslose Kapitulation machte es den Deutschen unmöglich, sich erneut, wie nach dem Ersten Weltkrieg, der eigenen Verantwortung zu entziehen. 1945 gab es keine deutsche Katastrophe. Damals endete die Katastrophe, die die deutsche Politik ausgelöst hatte. Unter diesem Ende haben viele Menschen gelitten, aber es war die Voraussetzung für einen demokratischen Neubeginn.







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