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Horvath roman - Der ewige Spieber

Der ewige Spießer

Roman in drei Teilen von Ödön von Horváth, er­schienen 1930. - Mit Ironie begegnet Horváth der durch den Untertitel Erbaulicher Roman geweckten Erwartung des Lesers, auf einen mit diesem Gattungsbegriff bezeichneten Text zu treffen. Denn ebenso wenig wie das Erzählte in der Tradition der Erbauungsliteratur steht, lässt sich die Darstellung mit dem Typus des Bildungsromans in Verbin­dung bringen. Eher das Gegenteil ist der Fall. Wenn Kobler am Ende seiner "Bildungsreise" nach Hause zurückkehrt, hat er nichts dazugelernt. Desillusionierung bezeichnet den Ausgang einer Ent­wicklung, die mit "seelischer Reifung" und Cha­rakterbildung nichts zu tun hat.

Im ersten Teil des Romans begleitet der Erzähler Alfons Kobler aus München zur Weltausstellung nach Barcelona 1929. Dem vorgeblichen Interesse an der Weltausstellung liegt das berechnende Vorhaben Koblers zugrunde, eine reiche Dame kennen zu lernen, sie zu "kompromittieren" und dadurch zur Ehe zu zwingen. Auf diese Weise spe­kuliert Kobler auf eine finanziell abgesicherte Zukunft. Als Startkapital setzt der skrupellose Ge­schäftemacher den Gewinn eines betrügerischen Autoverkaufs ein. Während der langen Bahnfahrt kommt es zu zahlreichen Begegnungen, mit denen Horváth das Thema des Romans - die Charakteri­sierung des Spießers - facettenreich entwickelt. Vor allem in der Gegenüberstellung von Kobler und Schmitz, einem Wiener Schmierenjournali­sten, der Kobler ab Verona begleitet, kann der Au­tor unterschiedliche Erscheinungs­formen des Spießers sichtbar machen. Der im Gegensatz zu Kobler scheinbar gebildetere und sich weltmännisch ge­bende Schmitz bildet ein Beispiel für die von Horváth als charakteristisch erkannte Eigenschaft des Spießers, "jede neue Formulierung der Idee zu verfäl­schen, indem er sie sich aneignet". In verschwommenen Thesen predigt Schmitz dem ebenso egoistisch mit eigenen Gedanken beschäftigten Kobler von einem "vereinten Europa". Bei einem Ausflug ins Bordellviertel von Marseille kontrastiert Horváth die zu leeren Phrasen verkommenen Appelle Schmitz zur Versöhnung der Völker mit dem Völ­kergemisch von Einheimischen und Emigranten in Marseille. Während der Zug die Reisenden ihrem Ziel immer näher bringt, sieht Kobler sein weitge­stecktes Ziel bereits gefährdet, als er doch noch eine vermögend aussehende junge Dame kennen lernt, die sich als reiche Industriellentochter aus dem Ruhrgebiet vorstellt und ebenfalls nach Barcelona fährt. Kobler macht sich an die Dame heran, folgt ihr in ein teures Hotel und gibt mit vollen Händen Geld aus, um ihr zu imponieren. Nach gemeinsam verbrachter Nacht erklärt die Dame am anderen Tag, ihr Verlobter, ein amerikanischer Millionär, würde früher als erwartet in Barcelona eintreffen, so dass sie sich nicht mehr mit Kobler treffen könne. Enttäuscht und fast bankrott fährt Kobler zurück nach München.



Im zweiten Teil des Romans - mit dem ersten nur lose verknüpft - interessiert sich Horváth für das Schicksal Anna Pollingers, einer Bekannten Kob­lers. Infolge der sich verschlechternden wirtschaft­lichen Konjunktur Ende der zwanziger Jahre wird das Bürofräulein Anna von einem Tag auf den an­deren arbeitslos. Der "wohlmeinende" Rat eines Bekannten vermittelt die ahnungslose Anna als Malermodell, in dem der Künstler und seine Freunde die leicht zu habende Dirne sehen. Zur Prostituierten abgesunken, begegnet Anna im drit­ten und letzten Teil des Romans einem "guten Menschen", der ihr zu einer Stelle in ihrem erlern­ten Beruf als Näherin verhilft. In den knappen Skiz­zen, die das Schicksal der Anna Pollinger umreißen, variiert Horváth ein Motiv, das in seinen Bühnen­stücken wie in seiner Prosa immer wieder vor­kommt und dem ein besonderes Interesse des Au­tors gilt. Es ist das Schicksal des Mädchens, das durch wirtschaftliche Not auf Abwege gerät und zum Opfer nicht zuletzt männlich egoistischer An­sprüche wird.

In seiner Skizzenhaftigkeit lässt der Roman die ihm zugrundeliegende Arbeitsweise Horváths und sei­nen Entstehungsprozess noch gut erkennen: Nicht der kontinuierliche Aufbau einer fortlaufenden Ge­schichte bildet das Kompositionsprinzip, sondern die lockere Fügung aus einzelnen Texteinheiten, die oft assoziativ aneinandergereiht sind, so dass sich ein summarisch Ganzes aus kleinen Geschich­ten, Anekdoten, Situationen und Einzelbeobach­tungen ergibt. Was die Erzählfiguren miteinander verbindet, das sind die schicksalhaft erlebten be­sonderen Zeitumstände. Alle sind mehr oder weni­ger Opfer des Ersten Weltkrieges und seiner Fol­gen mit Wirtschaftskrise, Inflation und Massenar­beitslosigkeit - gegenüber der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg grundlegend veränderte Gesetzmäßig­keiten. Dass diese neue Zeit auch einen "neue(n) Typ des Spießers" hervorbringen müsse, wie es Horváth im Vorwort zu seinem Roman annimmt, zeigt der Autor gleich an mehreren Beispielen. Insbeson­dere im Aufeinandertreffen von Schmitz und Kob­ler, aber auch in den bis zur Karikatur stilisierten Randfiguren kristallisiert sich der "neue Typ des Spießers" heraus: Gesellschaftlich anzusiedeln ist er im Mittelstand, halb verbürgerlichter Aufsteiger ehemals proletarischer Herkunft. Er ist ein Großmaul mit Imponiergehabe, dabei im Innern seines Wesens feige und opportunistisch nur auf seinen Vorteil bedacht. Skrupellos, dumm, ohne erken­nendes Bewusstsein gegenüber der politisch-gesellschaftlichen Situation seiner Zeit wirft er dennoch mit ihren Ideen um sich, die als abgegriffene Phra­sen oder verzerrte Bildungsklischees aus seinem Munde kommen.

Indem Horváth als Erzähler oft ganz hinter das Ge­schehen zurücktritt und die Figuren für sich selbst sprechen lässt, erreicht er zwar szenische Unmittel­barkeit, aber die nicht immer zu erkennende objektivierende Distanz lässt den Eindruck zu, der Autor gehe mit der Sprache seiner Figuren, d. h. mit den Phrasen, Stilbrüchen und "kitschigen Entgleisun­gen" (H. Karasek), die er ihnen in den Mund legt, allzu unreflektiert um. Horváth selber hat darauf hingewiesen, dass er in der Art, wie seine Figuren sprechen, die Sprache von "heutige(n) Menschen aus dem Volke" erkennt, die sich eines "verzerrten" Bildungsjargons bedienen. Das "Unliteratische, be­tont Naive" (B. v. Wiese) täuscht leicht darüber hinweg, dass der Autor seine Kunstmittel sehr bewusst eingesetzt und eine "Poetisierung" mit Absicht ver­mieden hat.

Was den Roman auszeichnet, ist die erstaunliche Hellsichtigkeit, mit der Horváth erkennt, dass das politische Bewusstsein des Kleinbürgers nach rechts tendiert und der "neue Typ des Spießers" der zukünftige Mitläufer oder überzeugte Nationalso­zialist ist.

Figaro lässt sich scheiden

Komödie in drei Akten von Ödön von Horváth, Uraufführung: Prag, 2. 4. 1937, Kleine Bühne des Deutschen Theaters. - Als eine "Art Fortsetzung" (F. Th. Csokor) der Komödie von Beaumarchais, die 1784 erstmals öffentlich unter dem Titel La folle journée ou Le mariage de Figaro (Figaros Hochzeit) uraufgeführt wurde und in ihrer Gesellschaftskritik Aspekte der Französischen Revolution vorweg­nahm, verbindet Horváth in seiner Komödie Figa­ro lässt sich scheiden Revolutionsproblematik und Emigrantenschicksal. Dabei geht es dem Autor nicht um eine zeitgeschichtliche Verknüpfung mit der Französischen Revolution von 1789, gemeint ist "schlicht nur eine jegliche Revolution, denn jeder gewaltsame Umsturz lässt sich in seinem Verhältnis zu dem Begriff, den wir als Menschlichkeit achten, auf den gleichen Nenner bringen".

Die Handlung zeigt vier Menschen auf der Flucht vor der Revolution. Es sind Graf Almaviva mit sei­ner Frau sowie sein Kammerdiener Figaro und des­sen Frau Susanne, Zofe der Gräfin. Der Graf findet sich mit seinem neuen Status als Emigrant nicht zu­recht: obwohl ohne Einkünfte, erlaubt er sich jeden Luxus, "für dessen Genuss er sich durch seine Geburt ein Recht erworben hat". Der finanzielle Ruin, der ihn zum Betrüger werden lässt, und der soziale Ab­stieg bleiben nicht aus. Im Gegensatz zum Grafen, der sich einer realistischen Einschätzung seiner Si­tuation nicht stellen kann, fasst Figaro eine "unab­hängige Zukunft" ins Auge. Gegen den Willen von Susanne, die ihrer Herrschaft die Treue halten will, übernimmt er ein Friseurgeschäft. Figaro ist damit selbständig, doch seine Geschäftserfolge basieren weniger auf handwerklichem Können als auf seinem Geschick, sich der Kundschaft anzubiedern und ihr nach dem Mund zu reden. In Susannes Au­gen ist aus Figaro ein heuchlerischer Spießer ge­worden. Das Kind, das sie sich so sehnlichst wünscht, verweigert er ihr mit Ausflüchten einer ungewissen Zukunft. Susanne kommt mit einem anderen Mann ins Gerede, mit dem sie Figaro be­trogen hat, und die Ehe zerbricht. Sie kehrt zurück zu den Almavivas, Figaro muss sein Geschäft wegen des Geredes aufgeben. Als Kellnerin in einem "Emigrantencafé" findet Susanne vorübergehend Arbeit. Als ihre Arbeitserlaubnis abläuft, kehrt sie zusammen mit dem Grafen - die Gräfin ist gestor­ben - zurück in die Heimat und zurück zu Figaro. Der ist inzwischen Verwalter auf dem ehemaligen Besitz des Grafen geworden, in dem nun ein Kin­derheim untergebracht ist. Die beiden Eheleute finden wieder zueinander, und der Graf wird reha­bilitiert; nicht, dass die Revolution beendet ist, sie hat menschenfreundlichere Züge angenommen, wie Figaro sagt: "Jetzt erst hat die Revolution ge­siegt, indem sie es nicht mehr nötig hat, Menschen in den Keller zu sperren, die nichts dafür können, ihre Feinde zu sein."

Die versöhnliche Geste, mit der ein durch Wand­lungen hindurchgegangener, am Ende geläuterter Figaro seinen von der Revolution zunächst zum Feind erklärten Herrn rehabilitiert, scheint nicht nur alle Ziele der Revolution mit einem Hand­streich fortzuwischen, sie beschwört zugleich jenen Operetteneffekt aufgehobener Handlungskonflik­te. Aber der von Horváth "keineswegs ironisch" (B. v. Wiese) gemeinte Schlusssatz zielt ohnehin nicht auf die Ebene revolutionärer Gesinnung, sondern auf die Behauptung einer Menschlichkeit, der Horváth Vorrang vor revolutionären Überzeu­gungen zuerkennt. Mit der Aussage Figaros, der den Sieg der Revolution als Sieg der Menschlich­keit feiert, macht sich Horváth - in seinen späten Jahren zunehmend von Skepsis in jedwede Ideolo­gie gezeichnet - zum Fürsprecher einer humanitä­ren Gesinnung, die ohne ideologische Standpunkte auszukommen weiß. Der Eindruck, in der Revolu­tionskomödie käme "ein gut Teil an ahistorischer, an unpolitischer Naivität" (D. Hildebrandt) zum Ausdruck, wird durch das chaotische Gegen- und Durcheinander des Geschehens begünstigt. Ob­wohl der Autor seine Komödie nicht als Reminis­zenz an verklungene Ideale der Französischen Re­volution versteht, werden politische und sozialkri­tische Töne laut, die eine Verbindung zu den For­derungen von 1789 nach Freiheit und Gleichheit nicht ausschließen. Andererseits weisen sowohl die Entstehungszeit der Komödie und das Datum ih­rer Erstaufführung als auch Aussagen des Textes Bezüge zur Gegenwart 1936/37 auf. Auch wenn Horváth in seinem Stück nicht so sehr die Proble­me der Revolution, vielmehr ihre Einstellung zur Menschlichkeit prüft, dem sich seiner Meinung nach jeder gewaltsame Umsturz stellen muss, so ge­winnt eine solche Darstellung angesichts der sich als "nationale Revolution" verstehenden Erhebung der Nationalsozialisten besondere Aussagekraft.

Auf das Schicksal des Einzelmenschen hinzuwei­sen, der Gefahr läuft, in der Spannung ideologi­scher Auseinandersetzungen zerrieben zu werden, darin besteht die Aussage dieses Stücks. Im Aufein­anderprallen von politischen und sozialkritischen Forderungen auf der einen Seite und der Bewah­rung ethischer und religiöser Werte auf der anderen Seite verteidigt Horváth die rein menschliche und sittliche Bewährung. Auch wenn die Dramaturgie der Komödie durch die häufig wechselnden Posi­tionen und die nicht immer leicht auszumachenden Schauplätze beeinträchtigt wird, machen die atmo­sphärisch dichten Szenen wie die differenzierte Profilierung der Charaktere die Revolutionskomö­die zu einem bühnenwirksamen Stück.

Geschichten aus dem Wienerwald

Volksstück in drei Teilen von Ödön von Horváth, Uraufführung Berlin, 2. 11. 1931, Deutsches Theater. - Nach dem Willen ihres Vaters, eines Spielwarenhändlers, der sich der Zauberkönig nennt, soll Marianne die Ehe mit Oskar, einem benachbarten Fleischhauer, eingehen. Aber Marianne fühlt sich zu Oskar nicht hingezogen, es drängt sie aus der Enge ihres Milieus, und sie möchte gern einen Beruf erlernen. Als ihr Vater bei einem Ausflug in die Wachau die Verlobung seiner Tochter mit Oskar bekannt gibt, bricht Marianne aus: Sie glaubt, in Alfred, der bisher von Valerie, der Besitzerin eines Tabakladens ausgehalten worden war, den Mann ihrer Liebe gefunden zu haben. Alfred, ein Strizzi, ist seiner ältlichen Freundin Valerie überdrüssig und hat nur ein Abenteuer im Sinn. Die Verlobung platzt - Marianne trennt sich von ihrem Vater und Oskar, der sie trotz ihrer Abneigung gegen ihn an sich binden möchte und ihr prophezeit: "Du entgehst mir nicht." Als Geliebte Alfreds gerät Marianne ins Elend. Ohne Beruf versucht sich Alfred als Vertreter, doch die Geschäfte gehen schlecht. Das Kind, das sich Marianne in ihrer Liebe von Alfred gewünscht hatte, kann nicht ernährt werden. Alfred drängt Marianne, den kleinen Leopold zu seiner Mutter und Großmutter in die Wachau in Pflege zu geben, nicht zuletzt, um sich der Verantwortung zu entziehen. Auch Marianne, deren Anhänglichkeit ihm lästig wird, möchte er loswerden. Er bringt sie im 'Maxim' bei einer Tingeltangel-Tanztruppe unter, wo sie in "Lebenden Bildern" nackt posiert. So sieht sie ihr Vater und stößt sie von sich. Eine Gelegenheit macht Marianne in ihrer Not zur Diebin. Sie wird mit Gefängnis bestraft und kehrt nach ihrer Entlassung - erniedrigt und in auswegloser Situation - zu ihrem Vater zurück. Valerie hat inzwischen die Versöhnung zwischen Vater und Tochter vorbereitet. Als Marianne den Großvater seinem Enkel Leopold zuführen will, muss sie erfahren, dass ihr Kind nicht mehr lebt. Ihre Ahnung, dass die Großmutter den ihr verhassten Bankert auf tückische Weise hat sterben lassen, ist Gewissheit. Oskar sieht nun, da das Kind tot ist, keinen Hinderungsgrund mehr, Marianne doch noch zu heiraten. Es kommt zum Schluss so, wie er es ihr vorausgesagt hat: "Marianne, du wirst meiner Liebe nicht entgehn."

"Nichts gibt so sehr das Gefühl der Unendlichkeit als wie die Dummheit." Der von Horváth den Geschichten aus dem Wienerwald vorangestellte Satz erfüllt sich in grausamer Konsequenz. Dabei sieht es zum Schluss so aus, als wäre kaum etwas geschehen: Die Menschen des Stücks arrangieren sich miteinander und mit den Verhältnissen. Dass sich in der Zwischenzeit "eine Tragödie nach der anderen abgerollt" hat, erkennen sie nicht. Durch das, was passiert ist, sind sie nicht klüger geworden. Das Volksstück endet als Tragödie: das gilt vor allem im Hinblick auf Marianne, die eindeutig das Opfer ist. Das Mädchen, das die Grenzen ihrer bornierten Umgebung, die sie in ihrem Willen zur Emanzipation behindern, überschreiten will, um ihr eigenes Bild von der Welt zu entwerfen, muss erfahren, dass sich die Welt leider nicht danach richtet. In der Begegnung mit Alfred, der fast gegen seinen Willen zum Verführer wird, glaubt sie, den Mann gefunden zu haben, der ihr zu einem besseren Leben verhilft. Als zu der enttäuschenden Beziehung die wirtschaftliche Misere hinzukommt, beginnt für Marianne ein Leidensweg, an dessen Ende - auf dem tiefsten Punkt ihrer Erniedrigung - Oskar steht und ihr die Hand zum Leben reicht. Für den Zuschauer wird offenbar, dass Marianne in der Verbindung mit Oskar "der grausamste, quälendste Tod [] der langsamste Tod in der Ehe" (D. Hildebrandt) beschieden ist.

Dennoch spielen die Geschichten aus dem Wienerwald in einer scheinbar heilen und heiteren Welt. Immer wieder gibt es etwas zu feiern und fast unentwegt spielt Musik: "In der Luft ist ein Klingen und Singen - als verklänge irgendwo immer wieder der Walzer "Geschichten aus dem Wienerwald" von Johann Strauß." Doch wird durch die ständige Wiederholung - ähnlich wie in der stereotyp wiederkehrenden Redewendung von der "schönen blauen Donau" - der Eindruck unbeschwerter Heiterkeit bewusst entwertet. Die Musik erfüllt eine Kitsch-Funktion, die Horváth dazu dient, auf das verkitschte, d. h. verlogene Gefühl der Menschen in seinem Stück hinzuweisen. Diese Verlogenheit ist ihnen nicht bewusst; zu sehr sind sie in einer Sphäre der Illusion gefangen, die dadurch gekennzeichnet ist, dass sie sich in der Verwendung von Klischees etwas vormachen, nur, um der Wirklichkeit nicht ins Auge sehen zu müssen. Im Grunde brutal egoistisch und lieblos im Umgang miteinander, verdecken sie ihre wahren Gefühle in Sentimentalität und durch abgegriffene Floskeln.

Horváths dichterisches Ziel gilt der Desillusionierung, der Demaskierung des Bewusstseins, insbesondere des Kleinbürgertums. Dies zu erreichen, vertraut der Dichter vor allem auf die Sprache, der er Vorrang vor der dramatischen Handlung zuerkannte. Die Diskrepanz zwischen dem, was die Personen zur Befriedigung der Triebe im Grund wollen, und dem, wie sie sich äußern, zeigt Horváth in der Unangemessenheit ihrer sprachlichen Mittel. Das Pathos, in dem die Personen reden, z.B. Marianne, als sie sich innerlich von Oskar lossagt: "Jetzt bricht der Sklave seine Fesseln" und in ihren verschwommenen Vorstellungen von Liebe zu Alfred: "Lass mich aus dir einen Menschen machen - du machst mich so groß und weit", da sie die Situation nicht durchschaut, kontrastiert die Trivialität der Gegebenheiten. Insbesondere da, wo sich die Personen in ihren niederen Motiven gestellt sehen, weichen sie in hochtrabende Phrasen aus und ergehen sich in Gemeinplätzen. Oskar, seinem Wesen nach roh und primitiv, lässt sich scheinbar tiefsinnig über das Weib als "Sphinx" aus. Immer wieder zitiert er die Bibel, aber das Scheitern von Marianne nutzt er zu einer erzwungenen Verbindung aus, der nicht ein wirkliches Verzeihen zugrunde liegt, sondern der selbstgefällige Genuss, scheinbar recht behalten zu haben. Auch Mariannes Vater, der egoistisch über seine Tochter wie über sein Eigentum verfügt, beruft sich zwar auf moralische und christliche Grundsätze, steckt aber doch viel zu sehr in kleinbürgerlichen Moral­vor­stellungen, als dass er seiner Tochter zu helfen vermöchte. Ein Zauberer ist er nicht, aber er hat etwas von der Dämonie des Kleinbürgertums. Alle Personen stehen in Kommunikations­situationen, in der sie keine Übereinstimmung zwischen ihrem Gefühl und ihrer Handlungsweise herstellen können. Diese Unfähigkeit führt nicht selten bis an die Grenze der Sprachlosigkeit, auf die Horváth durch die Szenenanmerkung "Stille" hinweist. Die Sprache seiner Figuren klingt mundartlich gefärbt, ohne Dialekt zu sein. Was sie sprechen, ist ein aus Zitaten, abgegriffenen Rede­wendungen, Floskeln und Phrasen zusammengesetzter Jargon, von Horváth als Bildungsjargon bezeichnet.

Die spezifische Sprachdarstellung, in der sich ein Realismus konstituiert, der mit der Verklärung volkstümlicher Lebensweise nichts zu tun haben will, weist Horváth als einen Erneuerer des Volksstücks aus. 1931 bekam er auf Vorschlag Carl Zuckmayers den Kleist-Preis. Doch, wie wenig Horváth Erwartungen entgegenkommt, die sich von der "montierten Mannigfaltigkeit" (W. Nolting) des Titels "Geschichten aus dem Wienerwald" Heurigen-Stimmung und Wiener Gemütlichkeit versprechen, zeigen die Skandale der Uraufführung und auch noch späterer Aufführungen, die in Horváth eher den "Störenfried bürgerlicher Behaglichkeit" (H. Schneider) sichtbar machen. Nach der Uraufführung 1931, nach der das Stück von den Rechtsradikalen als eine "dramatische Verunglimpfung des alten Österreich-Ungarn" scharf angegriffen wurde, kamen weitere geplante Aufführungen nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten nicht mehr zustande. Auf die Erstaufführung in Wien 1948, die erneut einen Skandal wegen der "Verunglimpfung Wiens" auslöste, folgte erst zwanzig Jahre später wieder eine Inszenierung. Die nur zögernd einsetzende Horváth-Rezeption nach dem Zweiten Weltkrieg hatte es noch mit einem fast vergessenen und nahezu unbekannten Autor zu tun. Ende der Sechziger Jahre war Horváth "auf dem Weg zum Klassiker" (F. Torberg), und es hatte das begonnen, was man die "Horváth-Renaissance" genannt hat, die den Dichter nicht nur durch Publikationen seiner Werke sowie durch Bühnenaufführungen, sondern auch eine Reihe von Verfilmungen einem größeren Publikum bekannt machte.

Verfilmungen: BRD 1964 (M. Kehlmann, Auff. des Schauspielhauses Zürich). BRD/Österreich 1979 (M. Schell)

Glaube Liebe Hoffnung. Ein kleiner Totentanz in fünf Bildern

Ödön von Horváth, Uraufführung unter dem ­Titel Liebe, Pflicht und Hoffnung: Wien, 13. 11. 1936, Theater für 49 am Schotten­tor. - Der Untertitel Ein kleiner Totentanz in fünf Bildern, den Horváth selber seinem Drama so gegeben hat, bezeichnet genaueste die in seinem Spätwerk zunehmend an Bedeutung gewinnende Auseinandersetzung mit der Grenzsituation des Todes. Es ist zumeist der Tod des in Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit getriebenen Menschen in einer von abstrakten Prinzipien beherrschten un­menschlichen Welt. In den fünf Bildern von Glaube, Liebe, Hoffnu­ng schildert Horváth unter Verzicht auf alle ausschmückenden Details Station um Station den Leidensweg der mittellosen Elisabeth, die trotz ihrer tapferen Haltung am Unverständnis eines durch Paragraphen "geordneten" Staatswe­sens zugrunde geht.

Aus Not will Elisabeth ihren Körper für einhun­dertfünfzig Mark an ein Anatomisches Institut ver­kaufen, um mit dem Erlös einen Wandergewerbeschein bezahlen zu können. Der Oberpräparator weist sie auf die gesetzlichen Bestimmungen hin, nach denen der Staat keine "lebendigen Toten" kauft. Der Präparator - beeindruckt, dass Elisabeths Vater ein Inspektor ist, aus dem er für sich einen Zollinspektor macht -, leiht Elisabeth die benötigte Summe. Als er durch Nachforschungen erfährt, dass Elisabeths Vater kein Zollinspektor, sondern "nur" ein Versicherungsinspektor ist, und Elisabeth sein Geld dafür verwendet hat, eine Geldstrafe zu bezahlen, die ihr für die unerlaubte Beschäftigung ohne Gewerbeschein auferlegt worden war, zeigt er sie als Betrügerin an. Elisabeth wird mit vierzehn Tagen Gefängnis ohne Bewährung bestraft. Nach ihrer Entlassung lernt sie auf dem Wohlfahrtsamt den Polizisten Alfons Klostermeyer kennen. Er verspricht ihr die Ehe, und sie zieht als seine Braut zu ihm. Bei einer Razzia der Polizei, die Elisabeth in Verdacht hat, als Prostituierte zu ar­beiten, erfährt Alfons, dass sie vorbestraft ist. Vor­geblich enttäuscht, dass ihm Elisabeth, die ihn nur schützen wollte, nicht die Wahrheit gesagt hat, tatsächlich, um seine Karriere nicht zu gefährden, ver­lässt Alfons seine Braut. In ihrer Not und Verzweif­lung geht Elisabeth ins Wasser, wird jedoch vor dem Ertrinken gerettet. Auf einer Polizeiwache, wo sie ihren ehemaligen Bräutigam wiedersieht, ver­sucht man, das Leben des unterkühlten Mädchens zu retten. Während der "tollkühne Lebensretter" als Held gefeiert wird, stirbt Elisabeth. Alfons Klo­stermeyer kann sich eine Mitschuld am Selbstmord Elisabeths nicht eingestehen. Ungerührt begeben sich alle Beteiligten zu einer vaterländischen Para­de.

Horváth begann die Konzeption des Dramas, des­sen Geschehen auf Tatsachen beruht, aufgrund einer Anregung des ihm bekannten Gerichtsrepor­ters Lukas Kristl. Dessen Vorschlag war es, "ein Stück gegen die bürokratisch-verantwortungslose An­wendung kleiner Paragraphen zu schreiben", wie es Horváth in der "Randbemerkung" zu Glaube, Liebe, Hoffnung notiert. Die von Kristl übermittelten Fakten verdichten sich in Horváths Drama zu einer Parabel, mit der der Autor "wiedermal den giganti­schen Kampf zwischen Individuum und Gesellschaft" demonstriert. Im Fall der Elisabeth ist es der Kampf des auf sich gestellten Mädchens gegen eine unmenschliche Bürokratie und gegen die erbar­mungslose Anwendung von Paragraphen. Das "re­glementierte" Staatswesen hat für die Bitte Elisa­beths, "es könnte doch auch ein bisschen weniger unge­recht zugehen" kein Verständnis. Horváth erkennt in diesem Kampf "ein Formproblem der Bestialität, die bekanntlich weder gut noch böse ist". Der Zug des Reportagehaften, von dem das dramatische Ge­schehen bestimmt wird, hat Horváth in der Kritik manchen Vorwurf eingebracht. Dagegen scheint das Drama gerade wegen der nur knapp skizzierten Szenen "in der Wertschätzung der Interpreten" (D. Hildebrandt) zu steigen. In kaum einem ande­ren Werk Horváths dürfte die Kritik an der Gesell­schaft seiner Zeit derart geschlossen zum Ausdruck kommen wie in diesem von der Alltagssphäre ge­prägten Stück.

Italienische Nacht

Volksstück in sieben Bildern von Ödön von Horváth, Uraufführung: Berlin, 20. 3. 1931, Theater am Schiffbauerdamm. - Der Autor, der sich bereits in seinem Roman Der ewige Spießer (1930) um eine Typologie des zeitgenössischen Philisters unter ge­sellschaftlichem Aspekt bemüht hatte, führt in sei­nem Schauspiel die politische Ausprägung dieses Menschentyps vor, indem er mit den Mitteln der Satire die phrasenhafte Vereinsmeierei der Ange­hörigen verschiedener Parteien entlarvt. Im Gegen­satz zu den ideologisch engagierten Stücken Brechts oder Tollers aus jenen Jahren nimmt Horváth für keine Partei Stellung: "Ich schreibe nicht gegen, ich zeige nur." Seine Kritik, so Horváth, richtet sich "nicht gegen die Politik, aber gegen die Masse der Politisierenden, gegen die vor allem in Deutschland sichtbare Versumpfung, den Gebrauch politischer Schlagworte".

Am Sonntagmorgen im Wirtshaus einer süddeut­schen Kleinstadt: Zusammen mit einigen ehemali­gen Gesinnungsgenossen sitzt der inzwischen ver­bürgerlichte republikanische Stadtrat beim Kar­tenspiel. Derweil begeht die Ortsgruppe der Faschisten unter großer Anteilnahme der Bevölke­rung einen "Deutschen Tag". Der republikanische Schutzverband will am Abend ein Volksfest unter dem Motto "Italienische Nacht" feiern. Dem jun­gen radikal gesinnten Marxisten Martin ist die Hal­tung des Stadtrats gegenüber den Faschisten nicht energisch genug: Er protestiert, dass die Partei gemütliche Tanzabende veranstaltet, während Rechtsradikale durch die Straßen marschieren und Schießübungen abhalten. In fanatisiertem Überei­fer bringt Martin seine Braut Anna dazu, sich mit SA-Leuten einzulassen, um ihre Kampfstärke aus­zuprobieren. Von einer solchen Unterordnung privater Beziehungen unter politische Zielsetzungen hält Martins Freund Karl wenig. Gegenüber dem konsequenten Ideologen Martin ist Karl gebroche­ner, politisch indifferenter. Von kleinbürgerlicher Herkunft schlägt der künstlerisch und intellektuell veranlagte Karl am Ende den Weg in eine gemein­same Zukunft mit Lene ein: zusammen wollen sie eine Kolonialwarenhandlung aufmachen. Martin dagegen entwickelt sich vom klassenbewussten Ar­beiter und Marxisten zur Führernatur, die ganz und gar von ihrer politischen Doktrin besessen ist. Als am Abend die "Italienische Nacht" mit kleinbür­gerlich kitschigem Stimmungszauber die Gäste einlullt, sprengt Martin mit seinen Gefolgsleuten das Fest. In der Konfrontation mit dem Stadtrat wirft er ihm als Vorsitzenden des republikanischen Schutzverbandes Untätigkeit vor. Martin wird dar­aufhin aus dem Verband der Republikaner ausge­schlossen. Inzwischen hat Anna erfahren, dass die Faschisten im Vormarsch sind, um den "roten" Stadtrat zu verprügeln, weil jemand das Denkmal des Kaisers besudelt hat. Sie appelliert an Martin, den Gesinnungsgenossen zu helfen. Um den Fa­schisten nicht den "Triumph" über die Republikaner zu ermöglichen, lässt Martin sich zur Hilfe überre­den. Gerade noch rechtzeitig kam er eingreifen und die Gefahr des Augenblicks abwenden. Doch der ebenso großmäulige wie für die politische Ge­fahr durch den Faschismus blinde Stadtrat hat aus dem Vorfall nichts gelernt. In ahnungsloser Fehl­einschätzung verkündet er: "Von einer akuten Be­drohung der demokratischen Republik kann natürlich keineswegs gesprochen werden Solange es einen re­publikanischen Schutzverband gibt, solange kann die Republik ruhig schlafen!"

Gerade weil Horváth schon früh, nachdem er Hit­ler 1929 in einer Privatgesellschaft kennen gelernt hatte, vor den Nationalsozialisten warnte und vor 1931 von ihnen wiederholt öffentlich angegriffen wurde, enthüllt er in diesem Stück auch unnach­sichtig die gefährliche Apathie und den blinden Fa­natismus ihrer Gegenspieler und gibt diese der Lächerlichkeit preis. "Der beste Zeitspaß dieser Läuf­te!" (A. Kerr). Das Stück zeigt Horváths große Be­gabung, eine Fülle plastisch geschauter Figuren auf die Bühne zu stellen, aber auch seine Neigung, mehrere Gesprächsgruppen gleichzeitig in fresko­haften Bildern zu zeigen; zu einem umfassenden Gegeneinanderspiel oder einem zentralen Zusam­menstoß der verschiedenen Handlungsstränge kommt es nicht.

Der jüngste Tag

Schauspiel in sieben Bildern von Ödön von Horváth, Uraufführung: Mährisch-Ostrau, 11. 12. 1937, Deutsches Theater. - Thomas Hudetz, Bahnhofsvorsteher in einem größeren Dorf, un­glücklich verheiratet mit einer dreizehn Jahre älteren, krankhaft eifersüchtigen Frau, wird von Anna, der hübschen Dorfwirtstochter, in ein Gespräch verwickelt und, ehe er sich's versieht, von ihr ge­küsst - gerade in dem Augenblick, da er ein Signal hätte betätigen sollen. Ein Eilzug rast am Bahn­hofsgebäude vorbei und stößt gleich darauf mit einem Güterzug zusammen. Frau Hudetz, Augen­zeugin des verhängnisvollen Kusses und der Fol­gen - achtzehn Fahrgäste sind ums Leben gekom­men - sagt vor Gericht gegen ihren Mann aus, An­na aber schwört unter Eid, dass der Bahnhofsvor­steher das Signal rechtzeitig betätigt habe. Freige­sprochen, wird der heimkehrende Hudetz von sei­nen Mitbürgern als Unschuldiger gefeiert. Anna, die sich mehr zu Hudetz als zu Ferdinand, ihrem Verlobten, hingezogen fühlt, bittet den Bahnhofs­vorsteher um eine Zusammenkunft am folgenden Abend. An einem entlegenen Ort gesteht die von Gewissensnöten heimgesuchte Wirtstochter, dass sie aus dem Leben scheiden wolle. Hudetz, der jede Schuld am Unglück abstreitet, vollzieht mit ihr die "Verlobung", die sie beide, unbewusst, schon früher herbeigewünscht hatten. In der Umarmung tötet Hudetz, halb wie im Traum, die am Leben verzwei­felnde Wirtstochter und flieht. Während die Gei­ster zweier Opfer des Zugunglücks Hudetz zum Selbstmord zu überreden versuchen, beschwört der Geist Annas ihn weiterzuleben, und Hudetz stellt sich, seiner Schuld inne werdend, dem Gericht.

Die Personen des Dramas gehören, wie in allen Volksstücken Horváths, dem armen Mittelstand an. Sie sind einander darin verwandt, dass sie zur Reflexion, zur wahren Erkenntnis ihrer selbst, ihrer Umwelt und der Tragweite ihres Tuns nicht oder erst zu spät fähig sind. Deshalb verstricken sie sich immer tiefer in Schuld, eine allerdings mehr erlitte­ne als begangene Schuld. "Er hätt sich nichts zu überlegen", hatte Thomas Hudetz gesagt, als er sei­ne wesentlich ältere Frau heiratete. Dass er sie dann aber in der Ehe nicht begehrt, zeigt, wie sehr er und seine Frau es sich vorher hätten überlegen müssen: "Du warst um dreizehn Jahre älter, du musstest es wis­sen und fühlen." Aus diesem unreflektierten, "be­wusstlosen" Verhalten der Figuren wächst das un­abwendbare, im Zugunglück kulminierende Ver­hängnis. Sowenig Hudetz über seine künftige Ehe nachgedacht hat, sowenig macht er sich bewusst, dass dann in der Ehe seine Gedanken immer wieder zu Anna schweifen. Die tyrannische Eifersucht der Frau Hudetz entspringt ihrem Wissen, dass Tho­mas sie nicht liebt und zum Treuebruch ständig be­reit ist, und dieser Umstand reizt wiederum Anna, dem Bahnhofsvorsteher, den sie insgeheim liebt, einen Kuss zu geben: "Er hat das Signal vergessen, weil ich ihm einen Kuss gegeben habe, aber ich hätt ihm nie einen Kuss gegeben, wenn er nicht eine Frau gehabt hätte, die er nie geliebt." Der leichtsinnige Kuss als die Ursache des Zugunglücks ist zugleich die notwendige Folge des schuldhaften Leicht­sinns, dass die Menschen nicht mit sich zu Rate ge­hen, dass sie ihre Gefühle ebenso wenig erhellen wie das Ausmaß ihres Tuns und sich und dem andern verschleiern, was in ihnen vorgeht. Dieser Hang zum Verschleiern, Sich-Belügen und Aneinander­-Vorbeireden findet vorzugsweise in Horváths sze­nischen und mimischen Anweisungen seinen Aus­druck. Die "Stille", die immer wieder in die Dialoge einbricht, deutet auf verschwiegene, dunkle Ge­dankengänge, und das stets wiederkehrende Lä­cheln der Figuren soll die Gemeinheit einer Ab­sicht, einer Meinung oder einer Rede verdecken. Im Verstummen und im Lächeln eröffnet sich die unheimliche Doppelbödigkeit des Dialogs, der fast alle Personen bis zum Schluss verfallen sind. Der Bahnhofsvorsteher wie seine Frau beteuern wie­derholt ihre Unschuld, aber die Schlaflosigkeit, an der Hudetz seit dem Unfall leidet, und die Hysterie seiner Frau zeugen von verdrängter Schuld. "Ich bin mir keines Verbrechens bewusst", erklärt Frau Hu­detz, und ihr Bruder antwortet hellsichtig: "Das hat nichts zu sagen. Du wirst es halt vergessen haben." Endgültig sein "Verbrechen" vergessen will auch Hudetz, wenn er zuletzt Hand an die von Gewis­sensnot gepeinigte und an sein Gewissen appellie­rende Wirtstochter legt. Dafür bricht dann in Ge­stalt von Annas Geist das mühsam verdrängte Be­wusstsein der Schuld mit gesteigerter Vehemenz in ihm durch. Indem er sich schließlich dem Gericht stellt, bestätigt er die schon vorher von Anna for­mulierte mythische Gleichsetzung ihres gemeinsa­men Schicksals mit dem von Adam und Eva. Die Schuld erscheint als Ausdruck der Vertreibung aus dem Paradies der Unschuld. Indem Horváth sie aus der Unkenntnis der eigenen Triebe und Handlun­gen und aus der Verschlossenheit gegenüber den Mitmenschen herleitet, deutet er zugleich indirekt die Möglichkeit an, auf dem Wege er Erkenntnis des Selbst und der Umwelt eine neue Unschuld zu gewinnen.

Jugend ohne Gott

INHALT

PERSONEN

ORT

MATERIAL

Die Neger

An seinem 34. Geburtstag, dem 25. März, korrigiert der Lehrer 25 Auf­sätze zum von der Aufsichts­behörde vor­geschriebenen The­ma: "Warum müssen wir Kolonien haben?" Der Schüler Otto N schreibt: "Alle Neger sind hinterlistig, feig und faul." Der Schüler W hat sich beim Besuch im Stadion eine Lungen­entzündung geholt.

Ich-Erzähler: Geschichte- und Geo­graphie­leh­rer am Städtischen Gymnasium, 34 Jahre alt, un­zufrieden. Schüler: Z, W

Miet­zimmer des Lehrers

ab 1933: Volksempfänger.

"Legende vom Fußballplatz" in: Ödön von Horváth. Ein Lesebuch. Suhrkamp 1976. S.14-17

Es regnet

Als sich die Schüler wegen einer Semmel prügeln, schreitet der Lehrer ein.

Fünf Schüler (E, G, R, H, T) verprügeln einen (F): Der Lehrer resigniert

Schule

Gott: "Das Trachten des menschlichen Her­zens ist böse von Jugend auf." "ritterlich" = Kampf einer gegen einen.

Erste Stufe der Gottes­erkenntnis des Lehrers. Motiv: Sündflut

Die reichen Plebejer

Der Lehrer gibt dem N das Heft zurück: "Auch die Neger sind doch Menschen." Der Vater des N beschwert sich in der Sprechstunde, und der Lehrer wird 2 Tage später zum Direktor gerufen.

Otto N: korrekt, empört. Vater N, Bäcker­meister: selbstsicher, schroff, ernst, "gerecht". Direktor: ein schöner alter Mann, väterlich, der Zeit ergeben

Schule, Klasse, Di­rek­tion

Meinung der Schüler, Eltern, Direktor.

Ständekämpfe zwischen Patriziern und Plebejern. 287 Lex Hortensia: Beschlüsse der Volks­ver­samm­lung werden für das ganze Volk verbindlich.

Das Brot

Die Schüler bitten um eine andere Lehrkraft. Der Direktor greift ein. Der Lehrer ist verbittert, er gibt nach.

Schüler: Brief, Protokoll. Lehrer: verärgert. Direk­tor: ein herrlicher Schauspieler

Klassen­raum

seit 1927: National­sozia­listi­scher Lehrerbund NSLB

Die Pest

Der Lehrer denkt nach. Der Standpunkt des Verbrechers ist: alles ist erlaubt, was der Sippschaft frommt. Er geht ins Kino und nachher in eine Bar.


Beim Lehrer, Kino, Bar

Geschichte des Manlius Capitolinus cos. 392: wegen Strebens nach Alleinherrschaft 384 Sturz vom Tarpejischen Felsen

Radio, Wochenschau

Das Zeitalter der Fische

Der Lehrer trifft den ehemaligen Kollegen "Julius Caesar": Gespräch über die Jugend. Es gibt Jugendliche, die Verbotenes Lesen. Das Zeitalter der Fische beginnt.

Julius "Caesar": gestrandete Existenz, Oppositioneller, Krawattennadel mit illuminiertem Totenkopf

Bar, fremdes Zimmer

Astrologie: Zeitalter der Fische als Leitmotiv

Vorbild für die Figur des "Caesar": Ludwig Köhler aus Murnau

Der Tormann

Im März bittet der Vater des er­krankten Schülers Heinrich W den Leh­rer um den Besuch des Tormannes. W stirbt, er wird begraben. N und T (ein Fisch?) starren den Lehrer an.




Der totale Krieg

Am Osterdienstag fährt die Klasse unter Aufsicht des Klassenvorstandes auf ein Zeltlager. Unter Anleitung des Feldwebels und zweier Pioniere bauen die Jungen das Lager auf.

Bürgermeister: zeigt das stillgelegte Sägewerk. Gen­dar­merie­inspektor. Lehrer. Pfarrer: macht auf das Mäd­chen­lager auf­merksam. Feldwebel: 63 Jahre, pensioniert

Dorf: 761m

Sinn des Lagers: Erziehung zum Militär­dienst: ab 1936 HJ als Staatsjugend. Verfremdung: "Wir spielen gerne Indianer"

Horváths Kritik an der Gesellschaft, Motiv: Kinder

Die marschierende Venus

N und Z streiten. Ca. 20 Mädchen marschieren am Lager vorbei.

Lehrerin: "Wir sind Amazonen."

Lager

Dienst auch für Mädchen: Verschollenen-Flieger-Suchen. Amazonen: sagenhaftes Volk kriegerischer Frauen

Unkraut

Zwei Buben und ein Mädchen stehlen einer blinden Bäuerin Brot.

Bauer: "Es ist Unkraut und gehört vertilgt."

Feld­weg, Bauern­hof


Der verschollene Flieger

Eines von den Mädchen bekommt Heimweh.


Wald


Geh heim!

Auf dem Weg ins Dorf kommt der Lehrer ins Pfarrhaus. Er denkt an seine Kindheit.


Pfarr­haus


Auf der Suche nach den Idealen der Menschheit

Der Pfarrer erklärt die gottgewollte Ordnung.




Der römische Hauptmann

Dem L wird der Fotoapparat gestohlen. Der Lehrer und der Feldwebel halten Wache. Der Lehrer denkt nach: Der römische Hauptmann hat erkannt, dass die Barbaren das römische Reich zerstören würden.


Lager, Heu­hütte

Der römische Hauptmann, der Leiter der Hinrichtung Jesu, erkennt den Messias.

Der Dreck

Der Lehrer denkt über das Gespräch mit dem Pfarrer nach.


Lager


Z und N

Z erhält einen Brief von einem fremden Jungen. Z führt ein Tagebuch.


Wache vor dem Heu­schober


Adam und Eva

Der Lehrer liest im Zelt von Otto N, Z und R den Brief der Eltern des N. Er bricht das Kästchen des Z auf und liest das Tagebuch. Er erfährt über die Begegnung des Z mit Eva.

Eva



Verurteilt

Als Z den N beschuldigt, das Kästchen mit dem Tagebuch aufgebrochen zu haben, sagt der Lehrer nicht, dass er es gewesen ist. T. schaut wie ein Fisch.




Der Mann im Mond

Der Lehrer schaut in der Nacht bei Vollmond zu, wie Z und Eva einander begegnen. Er fasst in ein Gesicht.


Wald


Der vorletzte Tag

N wird vermisst. Die Suche beginnt.


Lager

Motiv: Sündflut. Der Lehrer erkennt seine eigene Schuld.

Der letzte Tag

N ist von Waldarbeitern tot auf­gefunden worden. Ein Bleistift und ein Kompass sind am Tatort gelegen. Beim anschließenden Verhör wird Z verdächtigt. Er gesteht die Tat.


Lager


Die Mitarbeiter

Der Lehrer liest am Tag vor dem Prozess verschiedene Zeitungsberichte.


Café; beim Lehrer


Mordprozess Z oder N

Z ist angeklagt.


Justiz­palast


Schleier

Z wird vernommen und nimmt die Schuld auf sich. Der Bleistift gehört dem N. Der Verteidiger meint, der Kompass gehöre einer fremden Person.




In der Wohnung

In einem Geschäft erkennt der Lehrer, dass er über die Sache mit dem Kästchen aussagen muss.

Alter Mann = Gott

Ge­schäft

Zweite Stufe der Gottes­er­kennt­nis des Lehrers

Der Kompass

Z macht seiner Mutter Vorwürfe.


Ge­richts­saal


Das Kästchen

Die Aussage des Lehrers sorgt für Aufregung.




Vertrieben aus dem Paradies

Eva sagt aus, dass ein Fremder den N erschlagen hat.




Der Fisch

Eva beschreibt den Fremden: "Wie ein Fisch."




Er beißt nicht an

Der inzwischen suspendierte Lehrer spricht mit T.


Kon­di­to­rei

Ahnlichkeit zwischen T und dem Lehrer

Fahnen

Der Geburtstag des "Oberplebejers" wird gefeiert.



Aufmarsch in den Straßen

Einer von fünf

Der Schüler B kommt zum Lehrer: "Der Kompass gehört dem T." B. berichtet vom Klub, der Verbotenes liest.


Beim Lehrer

Inge Scholl: "Die Weiße Rose" (Fischer Tb. 11234)

Der Klub greift ein

Der Klub will den T beobachten.




Zwei Briefe

"Julius Caesar" verspricht, den "Fisch" zu fangen.


Bar

Spitzname "Neger": Horváth schrieb Theater­stücke für den Film um: "negern"

Herbst

Ein Bericht des Klubs kommt an den Lehrer.


Beim Lehrer


Besuch

Der Pfarrer bietet dem Lehrer eine Stelle in einer Missionsschule in Afrika an und meint, der Lehrer müsse mit der Mutter des T sprechen.



Der Pfarrer war strafversetzt. 1933: Reichskonkordat

Die Endstation

Als der Lehrer zur Villa des T kommt, kann er nur mit T sprechen, nicht aber mit dessen Mutter.


Vor dem Haus Nr. 23 des T.

Leni Riefenstahl

Der Köder

Der Lehrer verlangt von Nelly, sie solle den "Fisch" fangen. Sie hat jedoch diesen Auftrag schon von einem fremden Herrn.

Nelly

Haus in der Y-Straße 67/17


Im Netz

"Caesar" erklärt seine Absicht.


Beim Lehrer

Sündflut-Motiv: Zweifel an Gottes Barmherzigkeit

Der N

"Caesar" hat den Plan, den "Fisch" zu überführen.


Lokal "Lilie"


Das Gespenst

Der Lehrer hat dem N gegenüber ein schlechtes Gewissen.


Beim Lehrer


Das Reh

Die Mutter des T hat den einen Teil des Abschiedsbriefes ihres Sohnes: "Der Lehrer trieb mich in den Tod."


Haus T


Die anderen Augen

Der andere Teil des Zettels wird gefunden: "Denn der Lehrer weiß es, dass ich den N erschlagen habe. Mit dem Stein -"



Motiv zur Erklärung der inneren Entwicklung des Lehrers: 1. Gott der Eltern, 2. strafender Gott und 3. Gott der Wahrheit. Dritte Stufe der Gotteserkenntnis

Über den Wassern

Der Lehrer fährt nach Afrika.



Motiv: Rettung aus der Sündflut = Emigration

Jugend ohne Gott (Lexikonartikel)

Roman von Ödön von Horváth, erschienen 1937 und zusammen mit dem Roman Ein Kind unserer Zeit unter dem Obertitel Zeitalter der Fische 1953 neu veröffentlicht. - Die Verstocktheit des Her­zens, die "Kälte als Schuld" (Franz Werfel), ist ein Grundmotiv beider Romane: "Die Erde dreht sich in das Zeichen der Fische hinein. Da wird die Seele des Menschen unbeweglich wie das Antlitz eines Fisches" (Jugend ohne Gott). Verwandt sind beide Werke auch in ihrem Darstellungsprinzip, mit dem Hor­váth eine "neue Form" gefunden hat: "die Form des lyrisch abgekürzten, dramatisch gespannten, indirekt zeitkritischen Romans" (Klaus Mann). Aufbau und Stil verraten den Dramatiker Horváth. Als kurze Kapitel reihen sich einzelne relativ selbständige Szenen, meist in Form knapper pointierter Dialo­ge, aneinander; auch der innere Monolog, in den der Ich-Erzähler immer wieder gerät, ist durch Fra­gen und Ausrufe dialogisch aufgelockert. Dramati­sche Höhepunkte schafft Horváth zumal dort, wo er den Bericht unversehens in die Darstellung von Situationen übergehen lässt, die durch unmerkliche Tempuswechsel das Vergangene unmittelbar prä­sent werden lassen. Die assoziativ-sprunghafte Fol­ge lakonischer, oft telegrammartig verkürzter Sätze steigert die den Redewechseln und Situationen im­manente untergründige Spannung und evoziert eine Atmosphäre ungreifbarer Bedrohung. So sehr lenken die dramatischen Stilmittel die Aufmerk­samkeit des Lesers auf den Ablauf des Geschehens, dass die darin verborgene zeitkritische Problemstel­lung nicht unmittelbar bewusst wird.

Das faschistische Verhalten einer Schulklasse soll den in Deutschland am Vorabend der nationalso­zialistischen Machtergreifung herrschenden Geist enthüllen. Gleich zu Beginn des Romans wird der Ich-Erzähler, ein junger, an humanistischen Idea­len orientierter Lehrer, Zeuge eines unwürdigen Streits, den seine Schüler um eine Semmel austra­gen. Wenig später erhält der Lehrer einen weiteren bedenklichen Beweis für die Gesinnung der Klasse, als die Schüler ihm schriftlich ihr Misstrauen be­scheinigen. Des Lehrers summarische Charakte­ristik: "Eine schreckliche Bande Alles Denken ist ihnen verhasst! Sie pfeifen auf den Menschen! Ihr Ideal ist der Hohn", wirkt trotz dieser Symptome als unreflektierte, simplifizierende Verurteilung Unmündiger, die, vierzehnjährig, der Ideologie der Erwachsenen notwendig verfallen sind. Die poli­tische Dämonisierung der Schüler durch das Medi­um ihres moralisierenden Lehrers enthüllt sich vollends als willkürlich in einem vormilitärischen Ausbildungslager, wo die Klasse die Osterferien zubringen muss: denn weder im Diebstahl eines Fotoapparats noch in den pubertären Wirren eines Jungen und eines Mädchens, die für den Diebstahl mitverantwortlich sind, noch in den daraus entste­henden Missverständnissen und Händeln manife­stiert sich etwas schlechthin Böses; ebenso wenig werden in diesen Episoden allgemeinere zeitge­schichtliche Vorgänge symbolisch transparent. Die Zwistigkeiten dieser "Jugend ohne Gott" kulminierten schließlich in einem Mord. Der Lehrer, der sich bemüht, den Diebstahl aufzuklären, beschä­digt im Verlauf seiner heimlichen Nachforschun­gen das Kästchen eines Schülers, worin dieser sein Tagebuch aufbewahrt, verschweigt aber aus Feig­heit seine Tat und macht sich so am Streit der Schü­ler und am Mord mitschuldig. Unversehens findet er sich verstrickt in ein "Leben des Elends und der Widersprüche", das ihm als ein "ewiges Meer der Schuld" erscheint, aus dem "einzig und allein die göttliche Gnade und der Glaube an die Offenbarung retten kann". In dieser Entwicklung kommt die Überlagerung der zeitkritischen Perspektive des Romans durch religiöse Gedankengänge unmittel­bar zum Ausdruck. Der Diebstahl und seine ver­hängnisvollen Konsequenzen stellen sich als Folge einer mit dem Dasein selbst gesetzten Erbsünde oder Urschuld dar, die "wie ein Raubvogel ihre Kreise zieht". Sie verflüchtigt sich im Roman aber zur Schuld eines einzelnen, des Schülers T. Während der Gerichtsverhandlung über den unaufgeklärten Mord gesteht der Lehrer, unmittelbar von Gott an­gerufen, die Wahrheit und muss deshalb seine Stel­lung aufgeben. Er rüttelt damit das Gewissen ande­rer Zeugen wach und entlarvt endlich den Mörder, unterstützt von einigen Jugendlichen.

Der künstlichen Idealisierung des Lehrers, des "einzigen Erwachsenen, der die Wahrheit liebt", und der Jungen, die sich für "Wahrheit und Gerechtig­keit" engagieren wollen, entspricht andererseits die Verteufelung des Schülers T., mit "hellen runden Augen", "wie ein Fisch". "Er wollte alle Geheimnisse ergründen, aber nur, um darüberstehen zu können - darüber mit seinem Hohn."

So wenig die Schulklasse anfangs zur Illustration des faschistischen Geistes taugte (den z. B. Brecht aus ähnlichen, scheinbar privaten Anlässen, in den Szenen Furcht und Elend des Dritten Reiches, 1935-1938, weit bedrängender vergegenwärtigt hat), sowenig lässt sich die Gestalt eines beliebigen, am herrschenden Ungeist schuldlosen Schülers in eine Allegorie der Unmenschlichkeit verwandeln. Die Ohnmacht seines unpolitischen Ethos veran­lasst den Lehrer am Ende, diese "Illusionen der Charakterlosen unter dem Kommando von Idioten" zu verlassen und nach Afrika zu emigrieren. Damit bleibt der Zeitgeist nur atmosphärischer Hinter­grund eines Geschehens, das durch seinen Ablauf, durch Entstehung, Verschleierung und Enthül­lung eines Mords, eine eigene, durch dramatische Stilmittel intensivierte Spannung erzeugt, die den Problemgehalt des Romans zurücktreten lässt.

Inhaltsangabe

Hauptfigur des Romans und zugleich Ich-Erzähler ist ein 34jähriger Lehrer, der in einem autoritären Staat lebt und arbeitet. Er unterrichtet in einem Gymnasium Geschichte und Geographie. Obwohl er jede als oppositionell deutbare Handlung oder Außerung zu vermeiden sucht, gerät er durch seine Bemerkung im Unterricht, auch die Neger seien Menschen - eine Bemerkung, die zeigt, dass er in seinem Denken an fundamentalen humanen Grundsätzen festhält - in Konflikt mit seinen Schülern und deren Eltern, die Anhänger des herrschenden rassistischen und militaristischen Regimes sind.

Auf Anordnung der Schulbehörde begleitet er seine Schüler zu einem Zeltlager, das der vormilitärischen Ausbildung dient. Während des Zeltlagers lernt der Schüler Z ein verwahrlostes Mädchen kennen und geht ein Liebesverhältnis mit ihr ein. Der Lehrer erfährt davon, als er heimlich Z´s Tagebuch liest. Er beobachtet die beiden bei einer nächtlichen Zusammenkunft, greift aber nicht ein. Z hat festgestellt, dass jemand in seine Geheimnisse eingedrungen ist. Sein Verdacht fällt, da der Lehrer schweigt, auf den Mitschüler N. Dieser Schüler kehrt von einem Marsch der Klasse nicht zurück. Als er ermordet aufgefunden wird, bekennt Z sich schuldig, ihn erschlagen zu haben. Der Lehrer ist überzeugt, an dem Mord mitschuldig zu sein. Unter dem Eindruck einer Gottesvision entschließt er sich, seine Mitwisserschaft zu bekennen, obwohl er weiß, dass ihn diese Aussage seine Stellung kosten wird. Daraufhin bricht auch das Mädchen sein bisher gewahrtes Schweigen und berichtet, dass ein ihm unbekannter Junge den Mord begangen habe. Die Mordanklage gegen Z wird fallengelassen, das Mädchen aber, das Z durch sein Geständnis hatte decken wollen, gilt nun als die Schuldige. Der Lehrer ist jedoch überzeugt, dass es die Wahrheit sagt, und versucht, den Mörder ausfindig zu machen. Er verdächtigt den Schüler T, auf den die Beschreibung des Mädchens passt. Er findet Kontakt zu einer Gruppe oppositioneller Jugendlicher, die ihn bei seinen Bemühungen unterstützen, T zu überführen. Sie stellen T eine Falle, der er aber entgeht. Doch wird der Mordfall schließlich aufgeklärt, als T, der glaubt, seine Schuld sei entdeckt, die Tat eingesteht und sich das Leben nimmt. Der Roman schließt mit dem Abschied des Lehrers, der eine neue Aufgabe in einer Missionsschule in Afrika gefunden hat.

Die äußere Handlung gipfelt im Mord an N, nimmt eine überraschende Wendung, als sich die Unschuld des Z herausstellt, und erreicht einen weiteren Höhepunkt mit dem Geständnis und dem Selbstmord des T. Hier finden sich Elemente des Kriminalromans.

In der inneren Handlung bildet nicht der Mord und das Geständnis des Täters den Höhepunkt, sondern der Entschluss des Lehrers, die Wahrheit zu sagen. Das ist der eigentliche Wendepunkt und das Zentrum des Romans: es ist die Wandlung eines Mitläufers, der in einer Entscheidungssituation seinen Opportunismus überwindet, zum Kämpfer für Wahrheit und Gerechtigkeit.

Personen: 2 Lehrergestalten. Soziale Schichten: Groß­bürger, Kleinbürger, Kinder, Außenseiter. In erster Linie Darstellung der sozialen Schichten und der Frauenfiguren.

Motive: Fisch, Kinder, die anderen Augen. Gegenstände.

Sprache: Bild, Vergleich, Metapher. Vokabular aus dem Bereich faschistischer Sprache. Umgangs­sprache: nie Dialekt. Ziel Horváths: Demas­kierung des Bewusstseins des Kleinbürgertums.

Artikel aus: "Wilpert, Werklexikon"

Jugend ohne Gott. Roman von Ödön von Horváth. Entstanden 1937; Erstausgabe Amsterdam 1938.

Thema des zeitkritischen Romans ist der Mensch im totalitären Staat. Im Mittelpunkt steht als Ich-Erzähler ein Lehrer, der, obwohl nicht einverstanden mit den Werten der herrschenden Faschisten, anfangs aus ökonomischen Gründen ein (wenn auch nicht enthusiastischer) Mitläufer des Regimes ist. Im Verlauf einer Kriminalgeschichte unter Jugendlichen wird ihm bewusst, wie die Erziehung der Schüler zum Militarismus nur zu Kälte, Mangel an Toleranz und Gottlosigkeit führt. Mit Hilfe zweier Außenseiter der Gesellschaft findet er zu moralischer Verantwortung, Wahrheit und Gott zurück. Horváths Lehrer registriert in der manchmal unpathetischen alltäglichen Sprache seiner Aufzeichnungen die Verdummung und Verrohung der Jugend durch ein amoralisches Regime. Indem der Roman eine ausdrückliche Identifizierung dieses Regimes vermeidet, gewinnt er - über das Zeitgebundene hinaus - Gültigkeit für alle totalitären Staaten.

Aus: Franz Theodor Csokor: Zeuge einer Zeit. Langen Müller 1964. S.194:

(Aus dem "Brief in die Ewigkeit" vom 13. Juni 1938 an den tödlich Verunglückten Ödön von Horváth)

"Aber gerade Du [Horváth] hast uns in Deinem Buch "Jugend ohne Gott" [] einen Helden gezeigt, der diese unsere Zeit überwindet. Sie wird ihm gegenstandslos vor einer höheren Erkenntnis.

Diese Erkenntnis heißt: Gott!

Dein Held ist ein schwacher schuldiger Mensch, ein "Jedermann" von heute - aber alle Angst und Mangelhaftigkeit der Kreatur besiegt er nach seiner Erkenntnis des Göttlichen, die ihn in einer Szene voll unvergesslicher Eindringlichkeit überwältigt, in einer Szene, in die nichts mehr von Politik hereindringt, sondern darin einzig die menschliche Bereitschaft herrscht, die Erkenntnis zu erleiden.

Du hast auf Deine Weise durch dieses Dein Werk Gott gesehen. Wer aber Gott sieht - stirbt."

Aus: Ödön von Horváth- Ein Lesebuch. S. 280. (T. Krischke, Mutmaßungen über Ödön von Horváth:)


[] Im Gasthof Bräu in Henndorf bewohnt Ödön von Horváth ein kleines Zimmer. In der Gaststube trinkt er bis spät in die Nacht, schläft lange, nachmittags arbeitet er, manchmal auch nachts, während er weitertrinkt.

Der Roman >Jugend ohne Gott< entsteht."

Aus: Carl Zuckmayer: Henndorfer Pastorale. dtv 1036. S. 44:

"Am selben Tisch schrieb später unser Freund, Ödön von Horváth, seinen Roman `Jugend ohne Gott´ [1937]. Als mein Gast war er zum ersten Mal nach Henndorf gekommen, und war dann, in den Zeiten seiner Heimatlosigkeit, hier geblieben, bis zu jenem grausam-strahlenden Frühling von 1938, in dem er und wir fortmussten. Damals wussten nur wir, und einige andere Freunde, dass er, der mit 36 Jahren sterben sollte, ein großer Dichter war, heute weiß es die Welt."

Aus: Materialien zu Ödön von Horváth. Hrsg. T. Krischke. edition Suhrkamp 436. 1970. S. 193:

"Ödön von Horváth: Ich hab das Buch jetzt nochmal so für mich gelesen, und ich kann mir nicht helfen: mir gfallts auch! - Es ist mir dabei noch etwas aufgefallen, nämlich: dass ich, ohne Absicht, auch zum erstenmal den sozusagen faschistischen Menschen (in Person des Leh­rers) geschildert habe, an dem die Zweifel nagen - oder besser gesagt: den Menschen im faschistischen Staate.

Kasimir und Karoline

Volksstück in 17 Szenen von Ödön von Horváth Uraufführung: Leipzig, 18. 11. 1932, Schauspielhaus. - Der Lastwagenfahrer Kasimir, der infolge der Wirtschaftskrise gerade seine Arbeit verloren hat, und seine Braut Karoline, eine kleine Angestellte, besuchen das Münchener Oktoberfest. Ihm steht der Sinn nicht nach Lärm und Trubel; sie geraten bald in Streit, der sich an der harmlosen Er­scheinung eines Zeppelins entzündet, und Kasimir lässt das Mädchen stehen. An einer Eisbude spricht sie der Kanzlist Schnürzinger an und trägt zu Karo­lines innerer Verwirrung bei, als er bemerkt, "dass, wenn der Mann arbeitslos wird, die Liebe seiner Frau zu ihm nachlässt und zwar automatisch". Von die­sem Gedanken halb abgestoßen, halb auch davon fasziniert, fährt Karoline mit Schnürzinger auf der Achterbahn. Kasimir, der periodisch im Hinter­grund auftaucht und seine Braut beobachtet, ist in­zwischen Franz und dessen Braut Erna begegnet, die sich mit Diebereien ihren Lebensunterhalt ver­dienen. Schnürzinger dagegen trifft zufällig seinen Chef, den Kommerzienrat Rauch, der sich gleich für die hübsche Karoline interessiert und die bei­den zum Trinken, ins Hippodrom und ins Kuriosi­tätenkabinett einlädt. Rauch gelingt es schließlich, mit Karoline allein zu bleiben. Sie begleitet ihn zu seinem Auto, das Franz soeben ausgeraubt hat, während Kasimir und Erna Schmiere standen. Beim Fahren wird es dem betrunkenen Rauch übel; erst in der Sanitätsstation kommt er wieder zu sich und will nun von Karoline nichts mehr wis­sen, obwohl sie ihm durch ihre Geistesgegenwart gerade das Leben gerettet hat. Karoline sieht, dass der ertappte Franz abgeführt wird und Kasimir sich mit Erna tröstet. Von Kasimir zurückgestoßen, be­gnügt sie sich ihrerseits mit dem wiederaufgetauch­ten Schnürzinger.

Nur momentan kommt Karoline das Erbärmliche dieses Gefühls- und Menschenrummels zu Be­wusstsein, als sie erkennt, dass sie nicht mehr die Tri­umphierende, Stärkere ist, sondern sich in die Lage der Benachteiligten, Beiseitegeschobenen versetzt sieht; indessen fällt sie schnell wieder in die für die Menschen dieses Stücks charakteristische illusionä­re Selbsttäuschung zurück. Die am Ende kurz und grell aufleuchtende Demaskierung eines auf den er­sten Blick völlig normalen, gleichwohl aber sich selbst betrügenden Bewusstseins, für "Volksstücke" ganz allgemein charakteristisch ist, wird in "Kasimir und Karoline" in besonders virtuo­ser Weise durch den pointierten Szenenwechsel vorbereitet und in steter Steigerung zum Eklat ge­führt.

Die manchmal nur aus einem musikalischen Motiv (einem tuschartig aufklingenden Marsch oder Schlager, den die Personen mitsingen oder nur mit anhören) oder aus einem pantomimischen Szenen­- und Personenwechsel bestehenden, sich überstür­zenden Miniaturszenen, die wie nebenbei auch den Pulsschlag eines Volksfests spüren lassen, leben vor allem aus dem scharfen Kontrast zwischen der ge­hässigen, verkrampften oder hilflosen Gefühlswelt der auftretenden Figuren und dem kitschig-süßen Abgesang gängiger Schlagertexte - ein planvoll und mit gelassenem theatralischem Raffinement gehandhabter Kunstgriff, der in sich schon einen ätzend-scharfen Kommentar darstellt. In der Spra­che, die als genaues soziales Indiz ihre Träger kenn­zeichnet, entsteht ein begleitender kontrastreicher Zusammenklang aus derbem Dialekt und dem präzise nachgebildeten schichtenspezifischen schnoddrigen oder grotesken Jargon der Höherge­stellten und Halbgebildeten.

Die von Horváth bevorzugte anekdotische, das Ei­genleben der Personen betonende offene Schau­spielform entfaltet sich hier besonders frei in einem melancholisch-trüben Reigen, der sich unmerklich einem Totentanz annähert, unter dem Gaudium das Skelett hervorscheinen lässt. Der Rummelplatz ist nicht so sehr Karussell als vielmehr Spiegel der "unglücklich verstädterten Menschen, die früher ein­mal Volk waren" (J. Bab), eines entwurzelten und kleinbürgerlich korrumpierten Proletariats. Horváth führt mit diesem wie mit anderen seiner spezi­fisch modernen Volksstücke die Tradition des Ne­stroyschen Volkstheaters im 20. Jh. zu einem neuen Höhepunkt.

Ein Kind unserer Zeit

Roman von Ödön von Horváth, erschienen 1938. - Das letzte Werk Horváths steht seiner The­matik nach - der Idee der seelischen "Kälte als Schuld" (Franz Werfel) - in unmittelbarer Nach­barschaft des Romans Jugend ohne Gott (1938). In der Ichform legt ein desillusionierter junger Mensch seine Gedanken und Erlebnisse nieder. Längere Zeit als Arbeitsloser ziellos vor sich hin­lebend, hat er als Soldat "in Reih und Glied" endlich "seine Linie" gefunden. Er identifiziert sich mit dem Geist der "Führer", deren Brutalität und poli­tische Doppelzüngigkeit er durchschaut und zu­gleich rechtfertigt: "Ohne Lüge gibt's kein Leben." Als das Vaterland bedroht ist und den Freiwilligen befohlen wird, ein kleines wehrloses Land zu über­fallen, distanziert sich der vom Protagonisten ver­ehrte Hauptmann von den Gräueltaten seiner Leu­te und sucht im Gefecht den Tod. Bei seinem Ver­such, den Hauptmann zu retten, wird dem jungen Soldaten der Arm zerschossen, doch gelingt es ihm noch, dem Toten einen Brief aus der Hand zu nehmen. Nach einem Aufenthalt im Krankenhaus überbringt er der Witwe des Gefallenen diesen Brief und bleibt auch die Nacht mit ihr zusammen. Dabei wird sein noch nicht ausgeheilter Arm, auf den die Frau zu liegen kommt, für immer unbrauchbar. Als Invalide kriegsuntauglich und arbeitslos, zieht er zu seinem Vater, einem herun­tergekommenen Kellner, beginnt über seine Ver­gangenheit nachzudenken und erkennt seine wach­sende Entfremdung von der Umwelt und vom Va­terland ("Unsere Führer sind eben große Betrüger"). Es treibt ihn zur Kasse des "verwunschenen Schlos­ses" eines Rummelplatzes, wo er einst ein Mädchen beobachtet hatte, dem er sich aber damals aus Schüchternheit nicht zu nähern wagte. Statt des "verwunschenen Schlosses" findet er nun eine Autohalle vor, "wo die Menschen in kleinen Autos herum­fahren, immer im Kreise, immer einer allein". Das Mädchen aber sitzt wegen Abtreibung im Gefäng­nis. Der junge Invalide stellt den verstockten Buch­halter, der die Entlassung des Mädchens nicht ver­hindert hatte, zur Rede. In einem Anfall verzweifel­ter Raserei schlägt er den gefühlskalten Mann nie­der: "Denn jeder, der da sagt, auf den einzelnen kommt es nicht an, der gehört weg." Aber die späte Einsicht, dass Gefühlskälte Schuld bedeutet und ein wirkliches Verbrechen ist, kann er für sein eigenes Leben nicht mehr realisieren. Er resigniert in dem bitteren Trost: "die Kälte wird wärmer werden". In einer Winternacht setzt er sich tödlichem Frost aus und erstarrt: "Das Bewusstsein einer großen Kälte ist die letzte Erinnerung, das erste Gefühl das der Erfrie­rende aus dem Jenseits empfängt" (T. Krischke).

Ohne ihre wirtschaftlichen und politischen Ursa­chen zu erhellen, lässt Horváth seinen Erzähler in der glanzlosen, unpathetischen Sprache des Alltags Krankheitserscheinungen seiner Zeit beschreiben: Er schildert naiv die faschistoide Haltung der "Führer", die den Kampf "gegen organisiertes Un­termenschentum" befehlen, und den Ungeist der Geführten, die sich mit den vorgesetzten Lügen zu­rechtfinden und ohne sie nicht mehr leben wollen. Horváth präsentiert gelegentlich, ähnlich wie in seinen Stücken, trostlose, verzweifelte Situationen in der Form einer Komik, die das Versagen der Fi­guren bewusst macht, ihre Unfähigkeit, sich selbst und ihre Umwelt erkennend zu durchdringen; die Sprache dient "als Mittel des Komischen (Komik des Unbewussten). Eine Komik, der Groteske benachbart und an tragische Bereiche grenzend" (T. Krischke). Knappe lyrische Passagen durchbrechen die vor­wiegend realistische Erzählung, mitunter wird die Realität mit surrealistischen Elementen durchsetzt. Das Thema der Weltkälte wird in zahlreichen sym­bolischen Bildern immer wieder aufgenommen und neu abgewandelt. Horváths resignierte Huma­nität äußert sich indirekt darin, dass der Ich-Erzäh­ler aus seinem klischeehaften, manipulierten Den­ken zu einer politisch machtlosen und unrealisier­baren höheren Einsicht findet, d. h. "zum Grauen vor der Gegenwart und zur religiösen Schulderkennt­nis der absoluten Lieblosigkeit erwacht" (F. Werfel).

Sladek oder Die schwarze Armee

"Historie in drei Akten" von Ödön von Horváth, entstanden 1927/28; Uraufführung: München, 26.3.1972, Kammerspiele. Eine überarbeitete zweite Fassung erhielt den Titel Sladek, der schwarze Reichswehrmann; Uraufführung: Berlin, 13.10.1929, Lessing-Theater (Matineé-Vorstel­lung der "Aktuellen Bühne"). - Seit den frühen zwanziger Jahren versuchte die deutsche Wehr­macht, wie die Zeitschrift ,Die Weltbühne' 1925 aufdeckte, ihre Truppenstärke über die durch den Versailler Vertrag gezogenen Grenzen hinaus auf­zustocken. Diese heimliche Aufrüstung vollzog sich in Form von "Vaterländischen Verbänden", die, mitunter als Arbeitskommandos getarnt, als Kader für eine Reservetruppe, für eine "Schwarze Reichswehr", dienten. Abtrünnige dieser Verbän­de wurden Opfer von Fememorden. Die in der ,Weltbühne' publizierten Artikel, 1926 auch als Buch veröffentlicht (C. Mertens, Verschwörer und Fememörder), führten bezeichnenderweise nicht zur Aufdeckung der Skandale um die Reichswehr und die Fememorde, sondern zur Verfolgung der Redakteure der ,Weltbühne', die seit Mai 1927 von C. v. Ossietzky geleitet wurde, wegen Landesver­rat. Eine Veränderung schien sich Ende 1927 anzu­bahnen, als im Zusammenhang mit der sog. Phoe­bus-Affäre offiziell bekannt wurde, dass die Reichs­wehr neben regulären, ausgewiesenen Etatgeldern noch über umfangreiche Geheimfonds verfügte und Reichswehrminister Otto Gessler deshalb 1928 zurücktreten musste. Seit 1927 hatte sich Horváth eingehender mit diesen Entwicklungen beschäftigt. Bis Mai 1928 war die erste Fassung des Stücks in jedem Falle beendet; die Vorgänge um Gessler und das die demokratischen Kräfte stabili­sierende Ergebnis der Reichtstagswahl vom Mai 1928 waren, so T. Krischke, vielleicht Anlass für Horváth, eine Neufassung vorzunehmen und das Stück nun eine Historie aus dem Zeitalter der Infla­tion zu nennen, denn, wie er 1929 in einem Inter­view erklärte: "Die inhaltliche Form meines Stückes ist historisches Drama, denn die Vorgänge sind bereits historisch. Aber seine Idee, seine Tendenz ist ganz heu­tig."

Horváth beleuchtet die Machenschaften der schwarzen Armee und die Versuche ihrer Vertu­schung aus der Perspektive zweier Hauptfiguren, Franz und Sladek. Franz, linker Journalist, unter­sucht die Vorgänge um die schwarze Armee ("Sie nennen sich schwarze Armee, weil sie nur als Geheim­nis existieren können. Und der es verrät, der stirbt.") und trifft bei einer Versammlung von "Haken­kreuzlern" auf Sladek, in dessen Kopf die Phrasen und analogischen Erklärungsmuster der Rechtsra­dikalen ein autoritäres Stereotyp ergeben ("In der Natur wird gemordet, das ändert sich nicht. Das ist der Sinn des Lebens, das große Gesetz. Es gibt nämlich keine Versöhnung. Die Liebe ist etwas Hinterlistiges. Liebe, das ist der große Betrug. Ich hab keine Angst vor der Wahrheit, ich bin nämlich nicht feig." Da er oh­ne Beruf und Arbeit ist, wird Sladek von der Wirtin Anna ausgehalten, deren Mann zu den Vermissten des Krieges zählt. Aus Angst, dass sie, die "schon mal alles für das Vaterland geopfert" hat, nun Sladek an die schwarze Armee verliert, droht sie, diese zu ver­raten und wird daraufhin von Sladeks Kumpanen mit dessen Mithilfe ermordet. Im Hauptquartier der schwarzen Armee begegnet Sladek erneut Franz, der dort gefangen ist. Er entgeht nur knapp der Feme, da der schwarzen Reichswehr durch einen Bundessekretär die Auflösung verkündet wird: "Da sich die innerpolitische Lage überra­schenderweise derart konsolidiert hat, dass zur Nieder­schlagung einer kaum zu erwartenden Linksrevolu­tion die vorhandenen regulären Machtmittel des Staa­tes ausreichen, andererseits die außenpolitische Lage () die Möglichkeit der wirtschaftlichen Annähe­rung der Nationen erhoffen lässt."

Franz und Sladek kommen beide vor Gericht. Franz wegen "versuchten Landesverrats", weil er die Vorgänge um die schwarze Armee in einem Artikel publik gemacht hat ("Ist es nicht grotesk, dass mich nun die Justiz dieser Republik, für deren Leben ich fast fiel, verurteilen will, weil ich sie vor Freunden warne?"), Sladek wegen Mordes; Freunde ("Wir kennen keinen Sladek!") haben ihn im Stich gelassen. Die letzte Szene sieht ihn, für den der Staatsanwalt lebenslänglich beantragte, am Hafen, um nach Südamerika auszureisen; er ist amnestiert, oder, in den Worten Sladeks: "Man hat unter mich einen Schlussstrich gezogen." - Die zweite Fassung - die Figur des Franz heißt nun "Schmin­ke" - lässt das Stück mit der Auflösung der schwar­zen Reichswehr enden; reguläre Truppen setzen dies gewaltsam durch, Sladek kommt dabei um. Der Bundessekretär, die Personifikation des Staa­tes, darf das Schlusswort sprechen: "Die furchtba­ren Tage der Inflation haben wir nun gottlob über­wunden. Das deutsche Volk befindet sich im kraftvol­len Wiederaufstieg. Es hat Unglaubliches ertragen und Ungeheures vollbracht". Horváth zeichnete in der Figur des Sladek ein hellsichtiges Porträt jenes "autoritären Charakters" (Th. W. Adorno), der mit seinen Sauberkeits- und Reinheitsidealen ("Ich küss nicht gern so, so sinnlich."), seinen Sehnsüchten nach einem einfachen, umfassenden Weltbild, seinen trivialen Psychologisierungen ("Heut sind alle Staaten gegen uns Weil wir wehrlos sind, das ist dann im­mer so."), seinen Analogisierungen ("Ohne Mord gibt es kein Leben, geht es nicht weiter.") und seiner latenten Infantilität so kennzeichnend für die na­tionalistischen Bewegungen der Weimarer Zeit war: "Ein ausgesprochener Vertreter jener Jugend, je­nes ,Jahrgangs 1901', der in seiner Pubertät die ,große Zeit', Krieg und Inflation, mitgemacht bat, ist er der Typus des Traditionslosen, Entwurzelten, dem jedes fe­ste Fundament fehlt und der so zum Prototyp des Mit­läufers wird", wie der Autor selbst anlässlich der Ur­aufführung von Sladek, der schwarze Reichswehr­mann 1929 festhielt.

Die Kritik nahm das Stück reserviert auf; auf Her­bert Jhering wirkte es inhaltlich "dürftig und irre­führend", Alfred Kerr konstatierte: "Propaganda­stück mit Kunst? Manchmal. Zwischendurch Spuren eines Dichters". Das Stück, dessen Originalmanu­skripte verloren sind und von dem lediglich die al­ten Textbücher der "Volksbühne" von 1928/29 er­halten blieben, geriet anschließend in Vergessen­heit; erst im Gefolge der Horváth-Renaissance in den sechziger Jahren erschien der Text in Buchform und kam es zur Uraufführung der ersten Fassung, die, nach dem Urteil von Dieter Hildebrandt, nicht nur "mehr Farbe und Material" enthält, son­dern auch "provokativer, lebendiger ist".

Kurzbiographien

1. Horváth, Ödön von (Edmund von H.), *Fiume (heute Rijeka) 9. Dez. 1901, +Paris 1. Juni 1938. Studierte in München, lebte ab 1924 u.a. in Berlin (Bekanntschaft mit Max Reinhard und Gustav Gründgens), ab 1933 in Österreich; emigrierte 1938 (Zürich, Amsterdam, Paris); wurde bei einem Gewitter von einem herabstürzenden Ast erschlagen. - In seinen zum Teil sozial- und moralkritischen Bühnenwerken versuchte er, das Wiener Volksstück erneut zu beleben. Seine heute wieder viel gespielten Stücke weisen sichere, knappe Stilisierung, dichte Atmosphäre, geschickte Dialogführung und treffende Menschendarstellung auf. In den Romanen 'Jugend ohne Gott' (1938) und 'Ein Kind unserer Zeit' (1938; beide zusammen 1953 unter dem Titel 'Zeitalter der Fische') gibt er seinem Entsetzen über das Wesen der Diktatur Ausdruck. Für das Volksstück 'Geschichten aus dem Wienerwald' (1931) erhielt er 1931 den Kleist-Preis. Die meisten seiner Stücke sind zunächst nur als Bühnenmanuskript erschienen und wurden erst seit den 50er Jahren in Einzel- und Sammelausgaben herausgegeben. Weitere Werke: Buch der Tänze, (Pantomime, 1922), Revolte auf Côte 3018, (Volksstück, 1927, umgearbeitet 1927 unter dem Titel Die Bergbahn), Zur schönen Aussicht (Kom., 1927), Sladek oder Die schwarze Armee (Stück, 1928), Der ewige Spießer (R., 1930), Italienische Nacht (Volksstück, 1931), Glaube, Liebe, Hoffnung (Stück, entst. 1932, gedr. 1933), Kasimir und Karoline (Volksstück, 1932), Hin und Her (Posse, 1932), Don Juan kommt aus dem Krieg (Schsp., 1937), Figaro lässt sich scheiden (Kom., 1937), Der jüngste Tag (Schsp., 1937), Pompeji (Kom., 1937), Rechts und links (Sportmärchen, hg. 1969).

aus: "Literatur Brockhaus"

2. Horváth, Ödön von, *9.12.1901 Fiume, +1.6. 1938 Paris. Diplomatensohn aus ungarischem Kleinadel, studierte Philosophie, Germanistik, Theater­wissen­schaft in München, 1923 freier Schriftsteller in Murnau­/Staffelsee, emigrierte 1934 nach Wien und Henndorf bei Salzburg, 1938 nach Paris, auf den Champs Elysées von einem stürzenden Ast erschlagen. - Gesellschafts- und moralkritischer Dramatiker und Erzähler im realistischen Stil mit einer zwischen aufgelockertem Humor und bitterer Satire spielenden Grundstimmung. Pädagogisch-aufklärerische Zeit- und Volksstücke aus dem Alltagsleben einfacher Leute demaskieren falsches Bewusst­sein, moralische Fehl­hal­tun­gen und hinter­gründige Bös­artig­keit des Klein­bürger­tums in scharf gezeichneten Figuren innerhalb eines fast naturalistischen Milieus bis hin zur tragikomischen Groteske. Romane um das Wesen der Diktatur. Werke: Buch der Tänze, Pantomime 1922; Revolte auf Côte 3018, Dr. (1927, unter dem Titel Die Bergbahn, 1928); Sladek, der schwarze Reichswehrmann, Dr. (1930); Der ewige Spießer, R. 1930; Rund um den Kongress, Dr. (1930); Don Juan kommt aus dem Krieg, Dr. (1930); Geschichten aus dem Wienerwald, Volksstück 1931; Italienische Nacht, Vst. 1931; Glaube, Liebe, Hoffnung, Dr. (1932); Kasimir und Karoline Vst. (1932); Hin und Her, Posse (1932); Die Unbekannte aus der Seine, K. (1933); Figaro lässt sich scheiden, K. (1934, Buch: 1959); Ein Dorf ohne Männer, Dr. (1937); Der jüngste Tag, Dr. (1938, Buch: 1955); Jugend ohne Gott, R. 1938; Ein Kind unserer Zeit, R. 1938 (beide zusammen unter dem Titel Zeitalter der Fische, II 1953); Rechts und links. Sportmärchen, 1969 und 1972; Von Spießern, Kleinbürgern und Angestellten, Prosa 1971.

aus: "Wilpert, Autorenlexikon"






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