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ETA Hoffmann Der goldne Topf - auf der Himmelsleiter - ganz unten und ganz oben



Dieter Schrey

E.T.A. Hoffmann "Der goldne Topf" -

auf der Himmelsleiter - ganz unten und ganz oben

“Ich meine, daß die Basis der Himmelsleiter, auf der man hinaufsteigen will in höhere Regionen, befestigt sein müsse im Leben, so daß jeder nachzusteigen vermag. Befindet er sich dann immer höher und höher hinaufgeklettert, in einem fantastischen Zauberreich, so wird er glauben, dies Reich gehöre auch noch in sein Leben hinein, und sei eigentlich der wunderbar herrlichste Teil desselben." (E.T.A. Hoffmann, Die Serapionsbrüder, 3. Band)

Vorüberlegungen 51732ltg82hfj6j

"Zauberhafte Leichtigkeit" bescheinigte dem "Goldnen Topf" sein erster Rezensent - das scheint nicht zu E.T.A. Hoffmanns Ruf als "Gespensterhoffmann" zu passen, mit dem er in die Geschichte der Weltliteratur eingegangen ist. Von 1830 an haben nicht die Deutschen, sondern die Franzosen, dann die Engländer und Amerikaner "das Hoffmanneske" für eine adäquate Darstellung der Wirklichkeit als einer vordergründig normal-bürgerlichen und hintergründig dämonisch-zerstörerischen gehalten. Eine solche Wirklichkeitssicht spiegelt sich - auf den ersten Blick - eher in der abgründigen Phantastik der Erzählung “Der Sandmann" als im Schicksal des Anselmus im "Goldnen Topf", dem es - zumindest für das Empfinden eines heutigen Lesers - wohl allzu leicht gemacht wird, in Atlantis die "Seligkeit" zu gewinnen, von der im letzten Satz des Märchens die Rede ist. Aber auch der "Goldne Topf" ist keine Idylle, entwirft keine Utopie. Zwar soll der Leser die "Himmelsleiter" des Märchens, von der im Rahmendialog der "Serapionsbrüder" die Rede ist, möglichst hoch hinauf klettern - aber genauso tief wird dann sein Fall sein, der ihn auf der letzten Seite des Märchens zusammen mit dem Erzähler plötzlich erwartet. Allerdings kümmert sich nicht jeder Leser auf der letzten Seite des Buchs noch um den Erzähler, wenn er sich vorher mit der Hauptperson fest identifiziert und sie zum Schluß gar im Paradies besucht hat!



Ein adäquates Verständnis des "Goldnen Topfs" ist wohl nur möglich, wenn zweierlei genau beachtet wird:

  • zum einen der kunstvolle Umgang des Erzählers mit dem Leser, die Erzählkommunikation: Die Begegnung zwischen Erzähler und Leser findet im Rahmen der Handlung statt, auf einer eigenständig etablierten Realitätsebene, und zwar als immer wieder unternommener Versuch des Erzählers, mit dem Leser in einen Dialog zu treten. Um die Ich-Du-Achse "fiktiver Erzähler - fiktiver Leser", die auf den außerhalb des Textes existierenden individuellen Autor E.T.A. Hoffmann und auf den genauso individuell verstandenen Leser verweist, dreht sich, wie zu zeigen ist, die gesamte Anselmus-Handlung.

  • Zum anderen hängt ein adäquates Verständnis des “Goldnen Topfs" von der in sich scheinbar widersprüchlichen doppelten Grundbewegung ab, die das Werk - wie andere von E.T.A. Hoffmann - kennzeichnet und von der der Autor wußte, wie er 1814 in einem Brief an seinen Verleger Kunz schreibt, daß er damit literarisches Neuland betrat: nämlich das "kecke" Überschreiten des Textes einmal hinein in die außertextliche Realität von Dresden 1813/14, in das "gewöhnliche Leben" dort, und auf der anderen Seite hinein in das "ganz Fabulose" mit "tieferer" Bedeutung, in die als wahr behauptete, ja, wahrhaftig erschaute Realität des Mythos (Brief vom 4. März 1814 an den Verleger Kunz in Bamberg, in: E.T.A. Hoffmanns Briefwechsel, hg. v. Fr. Schnapp, 3 Bde, München 1967-69, Bd. 1, S. 445 ff.). tf732l1582hffj

Nun ist die eine dieser beiden Realitäten, die des Alltags von 1813/14, auf sehr unterschiedliche Weise im Text präsent: Die Welt des deutschen Bürgertums zwischen Französischer Revolution und Wiener Kongreß: seine Rationalität ohne politische Perspektive, seine öde Normalität, sein Gewinn- und Karrierestreben - all das macht den Boden der Handlung aus, auf dem die "Himmelsleiter" des Märchens sich erhebt. Die zeitgeschichtliche Realität der sog. Befreiungskriege, Hoffmanns unmittelbare Konfrontation mit dem Phänomen "Napoleon" in den Tagen der Konzipierung des "Goldnen Topfs", seine ambivalente Faszination durch diesen "Dämon", wie er ihn in mehreren Texten nennt - diese sehr konkrete Realität scheint im "Goldnen Topf" völlig ausgeblendet zu sein (wenn man nicht die Gestalten und Ereignisse auf der mythischen Ebene auch allegorisch deutet). Dennoch, trotz der direkten Ausblendung, sind gerade die Kriegswirren in und um Dresden der unmittelbare "Hebel" (ein Terminus Hoffmanns), der das Märchen in Gang setzt. "In keiner als in dieser düstern verhängnißvollen Zeit, wo man seine Existenz von Tage zu Tage fristet und ihrer froh wird, hat mich das Schreiben so angesprochen - es ist, als schlösse ich mir ein Reich auf, das [...] mich dem Drange des Äußern entrückte" - schreibt Hoffmann an Kunz am 19. August 1813 (a.a.O. S. 407 ff.). Mitten im chaotischen Dresden, unmittelbar nach der Schlacht bei Dresden, Napoleons letztem Sieg, steigt Hoffmann auf der "Himmelsleiter" des Märchens weit nach oben, die Angst während der verheerenden Kanonade auf die Stadt und das Grauen des von ihm selber besichtigten und detailliert beschriebenen Schlachtfelds und der Nervenfieber-Epidemie weit unter sich lassend. Später, in den "Serapions-Brüdern", spricht er von dem "Entsetzlichen, was sich in der alltäglichen Welt begibt", von der “Grausamkeit der Menschen", dem “Elend, was große und kleine Tyrannen schonungslos mit dem teuflischen Hohn der Hölle schaffen". - Unmittelbar vor dem "Goldnen Topf", während der Kanonade, hat Hoffmann den Dialog "Der Dichter und der Komponist" geschrieben, den er im genauen Gegensatz zum "Goldnen Topf" in den ganz konkreten Ereignisrahmen dieser Tage einbaut.

Zur Alltagsrealität von 1813/14, die Hoffmann im “Goldnen Topf" ins Werk setzt, gehören außerdem Elemente seiner eigenen Lebensgeschichte. Die Anspielungen auf seine unsterbliche und unglückselige Liebe zu Julia Marc in Bamberg, deren Wunden im ersten Jahr nach dem als katastrophal erlebten Ende der Beziehung (1812) noch lange nicht verheilt sind, werden unter der Oberfläche des Textes versteckt, sind aber auf jeder Seite anwesend (s.u.). Hier geht es - ich gebrauche einmal den dramatischen Ausdruck - um Hoffmanns "Herzblut", um das, was für ihn am tiefsten Wahrheit enthält (s.u.). Ulrich Stadler spricht in diesem Zusammenhang von der "Trauerarbeit" des Autors (Brigitte Feldges/Ulrich Stadler, E.T.A. Hoffmann. Epoche - Werk - Wirkung, München [Beck's Elementarbücher] 1986, S.73).

Der Ebene der bürgerlichen Welt steht in der Handlung des "Goldnen Topfs" - wie gesagt - die Ebene der Realität des Mythos direkt gegenüber. Der "Goldne Topf" - das ist Spiel und Spannung zwischen den beiden Polen des "gewöhnlichen Lebens" und des "ganz Fabulosen". Während in den frühromantischen Kunstmärchen das "Fabulose" allein den Märchencharakter ausmacht, in das das "Gewöhnliche" völlig hineinpotenziert ist, liegt das "mythische Reich", von dem Hoffmann immer wieder spricht, einerseits der alltäglichen Wirklichkeit "viel näher", "als du sonst wohl meintest", günstiger Leser (so steht's in der 4. Vigilie), aber die beiden Bereiche sind andererseits auch unüberbrückbar getrennt. Hoffmanns Auffassung von der Welt der Phantasie/des Mythos ist geprägt durch seine (nicht unbedingt philosophisch reflektierte) Auseinandersetzung mit der romantischen Naturphilosopie, die er aus G.H. Schuberts "Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaften" (1808) kannte und mit deren Basis-Mythos er sich wie viele andere Zeitgenossen identifizierte (vgl. S. 82 - 85 in P.-W. Wührl, E.T.A. Hoffmann “Der goldne Topf". Erläuterungen und Dokumente, Reclam 8157). Dieser Basis-Mythos ist nicht mehr wie in der Frühromantik die Geschichte der glücklichen Rückkehr zum Ursprung, sondern die vom nie ans Ziel kommenden Flug des Phönix aus der Asche, aus der Asche, die vom ausgebrannten Lilienfeuer des Phosphorus oder Salamander übrig geblieben ist.

Der gleiche Mythos liegt den beiden Erzählungen zu Grunde, die kurz vor dem “Goldnen Topf" in Dresden entstanden sind und die zur vergleichenden Lektüre herangezogen werden können: In den beiden Erzählungen "Der Dichter und der Komponist" und "Der Magnetiseur" wird deutlich, wie der gleiche Mythos, den die Leser/-innen in der 3. und 8. Vigilie des “Goldnen Topfs" kennenlernen können, einmal vom nationalistischen Denken der Zeit (in "Der Dichter und der Komponist"), das andere Mal vom Prinzip des Willens zur Macht (in "Der Magnetiseur") usurpiert werden kann. E.T.A. Hoffmann probiert die unterschiedlichen Haltungen aus, ohne sich mit ihnen zu identifizieren. In einer anderen Erzählung aus dem Jahr 1815 ("Der Dey von Elba in Paris", in: E.T.A. Hoffmann Sämtliche Werke, hg. v. R. Frank, München/Leipzig 1924, Bd. 8, S. 478 ff.) hat er seine politische Haltung im Zeitalter Napoleons charakterisiert, indem er in der Beschreibung einer anonym auftauchenden Person ein Porträt entwirft, das sich durch den Kontext wohl als Selbstporträt verstehen läßt: "Dieser Mann mit ängstlich fragender Miene" - so wird gesagt - das "ist einer von den kränkelnden Charakterlosen, die auf dem wogenden Meere der politischen Welt von jedem Lüftchen hin und her getrieben werden. Er hofft, er verzweifelt, er ist beruhigt, erschrocken, voller Freude, voller Angst, er jubelt, er heult, alles in wenigen Momenten. Eigentlich ist es auch nur sein zartes Selbst, das er immer gefährdet glaubt, sonst könnte es gehen wie es wollte!" Dieser Hoffmann der Jahre 1813 bis 1815 ist nicht unpolitisch, im Gegenteil, er beobachtet genau und interessiert, er empfindet genau, nur hat er keine konstante Perspektive, keinen Standpunkt, dem er sich anvertrauen könnte. In Napoleon, den Hoffmann 1813 in Dresden aus nächster Nähe beobachten konnte, haben sich die Zeitgenossen des Jahrzehnts zwischen 1805 und 1815 zum ersten Mal mit dem modernen Prinzip der sich (unabhängig von göttlicher Vollmacht) verabsolutierenden Macht auseinanderzusetzen, mit der Macht eines Einzelnen und eines gleich gestimmten Kollektivs (einer Nation), gleichzeitig aber mit dem gewaltigen Aufbäumen aller eigentlich überholten politischen Kräfte und Mächte. Auszuhalten ist die Ambivalenz zweier sich widersprechender Empfindungen, der Faszination durch Napoleon als den Erben der Revolution, den salamandrischen Elementargeist, den "Weltgeist zu Pferde", wie Hegel sagt, und der völligen Ablehnung dieses Machtmenschen, der wie Salamander im "Goldnen Topf" alles verwüstet hinterläßt. Auszuhalten ist der Widerspruch zwischen der Sehnsucht nach Ruhe und Frieden durch die alten Mächte und dem Wissen, daß der Gegendämon zum phosphorisch-salamandrischen Prinzip, das ancien régime, nur eine alte Vettel ist. (es erscheint möglich, den Geist-Phosphorus-Salamander-Mythos der 3. und 8. Vigilie und den Äpfelweib-Mythos so konkret politisch zu deuten). Da gibt es, angesichts der Ambivalenz auf beiden politischen Seiten, keinen dritten Standpunkt, keinen erkennbaren Sinn, kein Ziel der Geschichte mehr. Der Zukunftshorizont öffnet sich ins Unabsehbare, und schon der Weg in diese Richtung scheint völlig verstellt. Die Alternative ist an den Frühromantikern orientiert: nach innen geht der geheimnisvolle Weg - aber mittlerweile ist klar geworden, daß auch da machtgierige Dämonen hausen können. Das macht das Grundgefühl dieser Jahre aus, jedenfalls für den, der nicht der trügerischen nationalen Begeisterung der sog. Befreiungskriege folgt oder, wie mancher Romantiker, in einer transpersonalen väterlichen oder mütterlichen Instanz aufgeht - in Volk, Staat oder Kirche.

Interpretationsskizze

1. Lebensgeschichte des Autors - Geschichte von Anselmus - Mythos der ''schöpferischen Qual"

a) "In Dresden wohne ich - auf dem Lande! - d.h. vor dem schwarzen Thore auf dem Sande in einer Allee, die nach dem Linkischen Bade führt. Aus meinem mit Weinlaub umrankten Fenster übersehe ich einen großen Theil der sächsischen Schweiz, Königsstein, Lilienstein u.s.w. Gehe ich nur zwanzig Schritte von der Thüre fort, welches ich so oft ich will in Mütze und Pantoffeln mit der Pfeife im Munde thun kann, so liegt das herrliche Dresden mit seinen Kuppeln und Thürmen vor mir ausgebreitet, und über denselben ragen die fernen Felsen des Erzgebirges hervor." Dies schreibt E.T.A. Hoffmann am 13. Juli 1913, zu einer Zeit, als er sich wohl schon in Gedanken mit dem "Goldnen Topf" beschäftigt, an seinen Bamberger Freund Speyer. Es ist also der Autor des "Goldnen Topfs'' selber, der zwischen höllischem Schwarzem Tor und ''Linkischem Paradiese'' (7,9 = Reclam 101, S. 7, Z. 9) wohnt. Der Weg des Studenten Anselmus zu Beginn der 1. Vigilie ist des Autors täglicher Weg. Und auch der Blick des Anselmus, als er "dicht" über den "plätschernden und rauschenden" "goldgelben Wellen des Elbstroms" unter dem Holunderbaum sitzt und hinter dem "herrlichen Dresden" mit seinen "lichten Thürmen" die "zackichten Gebirge" des Böhmerlandes sieht (7,25ff.), ist vorgeprägt vom Blick des Autors aus seinem Fenster bzw. von seiner Tür aus.

Gerade in der 1. und 2. Vigilie gibt es mehrere solcher Realitätszitate, die eine Verbindung zur Biographie des Autors herstellen:
- ''Anselmus'' ist der Name des Schutzheiligen für den 18. März, den Geburtstag von Julia Marc, der in Bamberg von Hoffmann platonisch, aber bis an die Grenzen des "Wahnsinns'' und bis zu Selbstmordgedanken schmerzlich geliebten Gesangsschülerin;
- die bedeutunsvollen dunkelblauen Augen des Schlängleins Serpentina “stammen" von Julia Marc, die ebenso blauen Augen der Veronika von Hoffmanns Ehefrau Mischa.
- auch der Holunderbaum im Zusammenhang mit seiner mythischen Bedeutung als Lebens- und/oder Todesbaum verweist auf Julia Marc, da Hoffmann den Holunderbaum aus Kleists ''Käthchen von Heilbronn'' kennt, zu dessen Bamberger Aufführung er das Bühnenbild gestaltet hat und von dem er in seinem Tagebuch die vier Buchstaben ''Ktch'' (Käthchen) als Chiffre für ''Julia'' übernimmt, weil er offensichtlich die Beziehung zwischen dem Grafen vom Strahl und dem somnambulen Käthchen mit der Beziehung zwischen ihm selber und Julia parallelisiert.
Solche Realitätszitate gehen hinaus über die vielfältigen Bezüge auf Dresden als Ort des Geschehens in diesem ''Märchen aus der neuen Zeit''. Durch die biographische Vorprägung ganzer Szenen bzw. Szenerien wie der unterm Holunderbaum wird der ''Goldne Topf" zu einem Märchen aus der individuellen Lebensgeschichte des Autors.

b) Unter dem Holunderbaum am Wasser der Elbe sitzend, Pfeife rauchend wie der Autor auf seinen Spaziergängen, und ''finster vor sich hinblickend'' (7/8), hat der Student Anselmus über sich die "lichten Türme" Dresdens und den "duftigen Himmelsgrund", der wiederum - wie es heißt - ''sich hinabsenkte auf die blumigen Wiesen und frisch grünenden Wälder'', während die ''zackichten Gebirge'' ''aus tiefer Dämmerung'' emporragen. Daß Anselmus es hier unmittelbar mit den vier Elementen, mit der naturphilosophisch-mythisch strukturierten Naturbasis zu tun hat, fällt uns wohl erst dann auf, wenn wir uns beim Lesen des in der 3. Vigilie von Archivarius Lindhorst erzählten Mythos genau an die Szene unterm Holunderbaum zurückerinnern: Die Urlandschaft der 3. Vigilie stellt sich dar als das schöpferische Zusammenwirken des Wassers mit der Erde, durch das sich die Erde vertikal in die noch anorganisch zu verstehende Dreiheit von ''Granitfelsen'' (''zackicht''), ''Tal'' und schwarzen ''Abgründen'' entfaltet, und - im zweiten Akt - als das schöpferische Zusammenwirken von Sonne und Erde, aus dem in der Horizontalen in drei Schritten die organische Dreiheit der "Blümlein" ("Keime", "Blättlein und Halme", ''Blüten und Knospen") entsteht. Das sind also die drei Elemente 1. Sonne/Feuer/Licht, 2. Wasser, 3. Erde. Diese Ur- und Elementar-Landschaft erweist sich bei näherem Hinsehen als mythisches Muster für die Holunderbaum-Szenerie.

Scheinbar fehlt in beiden Vigilien das vierte Element der Luft, aber der ''Geist", der uranfänglich "aufs Wasser schaute", wie es im ersten Satz der 3. Vigilie heißt, ist Spiritus, Pneuma, Lebensodem, Schöpfungswort nach alter alchimistischer Tradition; andererseits ist das Element Luft später auch präsent in Form der "Dünste" aus den "Abgründen'', die das Sonnenlicht ''verhüllen" wollen - hier nicht in seiner Leben schaffenden, sondern Leben bedrohenden Seinsweise. Und diesen dumpfen und finsteren, noch chaotischen ''Dampf" haben wir auch unter dem Holunderbaum gefunden: über den Wassern der Elbe "blies der Student Anselmus die Dampfwolken [ironischerweise die seiner Pfeife mit billigem Tabak] in die Luft, und sein Unmut wurde endlich laut, indem er sprach ..." ( usw. ). Zwei Seiten später - nachdem er sich mit seiner Tolpatschigkeit herumgequält hat - erweist sich dieser Unmutsdampf doch als schöpferisch, sein Selbstgespräch doch als Schöpungswort, denn aus beidem geht dann in ironischer Verwandlung das "sonderbare Rieseln und Rascheln" der drei Schlänglein hervor. Auch Anselmus ist hier also ''Geist", der "aufs Wasser schaute", nicht in biblisch-göttlicher Erhabenheit, sondern in Jakob-Böhmescher ''Grimmigkeit'' und ''Qual'', aus deren ''Quellen" die ''Qualität'' alles Seienden erwächst. Die mythische Urszene ist die der zutiefst ambivalenten ''schöpferischen Qual'' (Franz Fühmann, Fräulein Veronika Paulmann aus der Pirnaer Vorstadt oder Etwas über das Schauerliche bei E.T.A. Hoffmann, Rostock 1979/dtv 10217 [1984], S.32).

c) ''Märchen/aus der neuen Zeit'', das läßt sich also in der einen Richtung als ''Märchen aus der neuesten Lebensgeschichte des Autors'' und in der anderen Richtung als ''Märchen aus mythisch-kosmogonischer Zeit'' interpretieren. Das Märchen erzählt, wie Jochen Schmidt in seinem Nachwort zum Insel-TB ''Der Goldne Topf'' gezeigt hat (it 570, S. 145 ff.: “'Der goldne Topf' als dichterische Entwicklungsgeschichte"), von der Entwicklung des Studenten Anselmus zum ''Leben in der Poesie'', aber darin ist es - was Jochen Schmidt nicht darstellt - Spiegelung eines Mythos und Spiegelung der Biographie des Autors. Beide, Mythos und Biographie, fallen im Text des Erzählers zusammen, werden dort gewissermaßen kurzgeschlossen. Der Name ''Anselmus'' bezieht sich auf die Biographie über die Vermittlung einer mythischen Instanz: eines Heiligen. Beide Spiegelungen sind Bezüge über den Text hinaus bzw. von jenseits des Textes in den Text hinein.

2. Erzähler und Leser als Hauptperson

a) Besonders in der 7. Vigilie wird deutlich, wie sehr es dem Erzähler wichtig ist, die Fiktivität des von ihm Erzählten in Richtung auf die nicht-fiktive, ''reale'' Realität zu überspielen. Hier ist es nicht die lebensgeschichtliche Wirklichkeit des Autors, sondern - auf der anderen Seite der literarischen Kommunikation - die Alltagswirklichkeit des realen Lesers, in die das fiktive Geschehen über zwei Seiten lang transponiert wird oder die - umgekehrt - in die fiktive Handlung herübergeholt wird (72, 12ff. - 74,27). ''Ich wollte, daß du, günstiger Leser, am 23. September auf der Reise nach Dresden begriffen gewesen wärest'': Konj. II; ''vergebens suchte man, als der späte Abend hereinbrach, dich auf der letzten Station aufzuhalten'': Erzähl-Präteritum; ''indem du ganz richtig annahmst: ich zahle dem Postillon einen ganzen Taler Trinkgeld usw.'': Präsens in der Gedankenrede; ''Wie du nun in der Einsamkeit so dahinfährst, siehst du plötzlich in der Ferne ein ganz seltsames flackerndes Leuchten'': da bin ich als angeredeter Leser in meiner erlebten Gegenwart angelangt und werde nun in spielerischem Ernst unmittelbarer Augenzeuge, ja, schließlich sogar eine die Pistole ziehende dramatis persona, die als ''Schutzengel'' und damit als Stellvertreter, als Spiegelung des Anselmus agiert, der ja der eigentliche "Schutzheilige'' der Julia alias Veronika ist.

Dieser Gipfel kunstvoll-künstlichen Erzählens zeigt: Auch der Leser wird vom Erzähler in die Wirklichkeit der mythischen Welt einbezogen. Wenn er - der Leser - nach kurzer Zeit wieder daraus herausfällt, hinein in die desillusionierende Realität, wird ihn die einmal in ihm angelegte Sehnsucht nach der mythischen Rolle nicht mehr loslassen.

Das ist möglich, weil nach E.T.A. Hoffmanns Willen offensichtlich der Erzähler - als Agent des Autors im Text - neben Anselmus die zweite Hauptperson, wenn nicht sogar die eigentliche Hauptperson ist. Der Erzähler hält den Spiegel in der Hand, mit dem die außertextliche Wirklichkeit des individuellen Autors und des individuellen Lesers, einmal verborgen, einmal offenkundig, und die ebenfalls unabhängig von der Fiktion des Textes wahr-sein-sollende mythische Wirklichkeit der Kosmogonie und der Endzeit der Geschichte eingefangen wird. Anselmus steht zwar im Mittelpunkt der Handlung, aber alles läuft hinaus auf die Situation des Erzählers, der in einem Überraschungs-Coup in der 12. Vigilie in seine eigene Erzählung als handelnde Person einsteigt bzw. die Fiktion in seine Wirklichkeit herüberzieht.

b) Die Interpretation des ''Goldnen Topfs'' hängt von der Beurteilung des Schlusses, der 12. Vigilie, ab. Anselmus ist bereits nach der 10. Vigilie nach Atlantis entschwebt, auf seinem feudalen ''Rittergut'' dort hat er (130, 6/7) ''die Bürde des alltäglichen Lebens endgültig abgeworfen''. Der Erzähler dagegen verharrt am Ende in der unauflösbaren Spannung zwischen bürgerlich-armseliger ''Dachstübchen''-Existenz in der Außenwelt und ebenfalls bürgerlich-''artigem Meierhof'' in dem im ''innern Sinn'' als Erinnerung an die ''Vision'' gegenwärtigen Atlantis - wobei sogar diese Erinnerung problematisch wird, weil ja schließlich - bittere Ironie! - der Alkohol mit im Spiele gewesen ist. In der gleichen Spannung findet sich von Anfang bis Ende der Handlung der Archivarius Lindhorst. Allerdings wird er letztlich, wie Anselmus, diese Spannung in eitel ''Seligkeit'' auflösen können, denn es kann sein - so beurteilt zum Schluß der Erzähler den Effekt einer Veröffentlichung seiner Erzählung - daß Lindhorst durch diese Veröffentlichung ''die Hoffnung schöpft, desto eher seine beiden noch übrigen Töchter an den Mann zu bringen [ - ironische Brechung der mythischen Erhabenheit in der bürgerlichen Normalität - ], denn vielleicht fällt [beim Lesen des Märchens] doch ein Funke in dieses oder jenes Jünglings Brust, der die Sehnsucht nach der grünen Schlange entzündet, welche er dann [wie Anselmus] in dem Holunderbusch am Himmelfahrtstage sucht und findet.'' (126,2ff.) Dann ''darf der Salamander seine lästige Bürde abwerfen und zu seinen Brüdern [den anderen Elementargeistern im Reich des Phosphorus und der Feuerlilie] gehen'' (88,15ff.).

Das letztere weiß der Leser bereits aus der Erzählung Serpentinas in der 8. Vigilie. Ja, vielleicht ist es ihm, diesem Leser, wirklich schon, seit er diese 8. Vigilie gelesen hat, so geschehen wie dem Anselmus, vielleicht ist der spirituelle ''Funke'', der elementare ''Feuerstoff des Salamanders'' (87,20), auf ihn übergesprungen, und er ist schon unterwegs nach Atlantis!

c) Offenbar ist also der Erzähler für die Konstituierung oder die Aktivierung des ''kindlichen poetischen Gemüts'' (89,11) im Leser verantwortlich, das als Voraussetzung für die atlantische ''Karriere'' gilt. Das weitere muß dann die Liebe tun und wohl auch ein in beiden Welten lebender Mentor, der nicht der Erzähler sein wird. Oder am Ende doch? Denn schließlich wird er ja nach dem ''Goldnen Topf" dem Leser weitere Erzählungen, weiteren "Feuerstoff", liefern, ihn also weiterhin auf den Weg zum ''Holunderbaum am Himmelfahrtstage'' schicken. Ob dem Erzähler, diesem anderen ''Archivarius'', allerdings als Lohn dasselbe utopische Schicksal zuteil wird wie dem Archivarius Lindhorst, wenn dieser alle seine Töchter ''an den Mann gebracht'' hat, bleibt offen. Im Rahmen der Handlung des ''Goldnen Topfs'' jedenfalls kann der Erzähler nicht nach Atlantis gelangen, er ist nur für die anderen, sein Publikum, da, er hat die Aufgabe einer neuartigen, nicht mehr klassischen ästhetischen Erziehung.



Immerhin erreicht er zum Schluß mit seiner ''Vision" vom Glück des Anselmus in Atlantis die gleiche Stufe der "Himmelsleiter" wie der Student in der 8. Vigilie: Was jeder der beiden, der eine in der 8., der andere in der 12. Vigilie, visionär-"leibhaftig" erschaut und gehört hat, das findet er anschließend "auf dem Papier [...] recht sauber und augenscheinlich von mir selbst aufgeschrieben" vor (130,3f., 90,28ff.). Für Augenblicke hat auch der Erzähler abgehoben vom Boden der "Armseligkeiten des bedürftigen Lebens'', sein Erzählverhalten hat mit dem eines puren "Registrators" nichts mehr zu tun, er ist in der Lage, Poesie hervorzubringen, die nicht mehr Mimesis von Vorhandenem ist, sondern ausschließlich Produkt der surrealistischen Einbildungskraft, des "innern Sinns" (130,22f.), einer Schau, wie sie Hoffmann am eindrucksvollsten beim wahnsinnigen Einsiedler beschrieben hat, der als der heilige Serapion von Antiochien mit den inneren Augen des Geistes in der Wüste das reale unendlich ferne Alexandrien sehen kann - besser, als wenn er dort an Ort und Stelle wäre. Die literarische Produktion am Boden der "Himmelsleiter" ist dann nichts anderes als ein irrelevantes, automatenhaftes Kopieren, zu dem der Poet immerhin die mechanischen Voraussetzungen haben muß (s. 6. Vigilie). ''Ganz oben'' und ''ganz unten'' auf der ''Himmelsleiter'' gehören zusammen: der eigentliche Poet ist Seher und Automat: Ambivalenz und Doppelgängertum auch hier.

3. Die Ambivalenz von Atlantis

a) Vielleicht kann sich aber der Erzähler - entsprechend der durchgängigen Ambivalenz - auch glücklich preisen, daß seine Schau wieder in ''durchbohrenden und zerreißenden jähen Schmerz'' umgeschlagen ist. Denn nur so wird verhindert, daß es ihm auf Dauer so geht wie dem Anselmus, der ja aus der Dialektik von Schauen und Kopieren herausgefallen ist und keine Bücher mehr schreiben kann, der überhaupt nicht - entgegen Jochen Schmidts Ansicht - zum wirklichen Dichter geworden ist, sondern in seinem ''Leben in der Poesie'' eher mit dem wahnsinnigen Serapion zu vergleichen ist.

Eigentlich ist es erstaunlich, daß der ''Goldne Topf" in vielen Interpretationen v.a. unter dem Gesichtspunkt der Entwicklung des Anselmus und deren Idealisierung betrachtet und damit so interpretiert wird, als handle es sich um ein Märchen von Novalis. In seiner Hoffmann-Biographie weist Safranski auf eine Parallele zwischen dem Schicksal des Anselmus und dem des Elis Fröbom in Hoffmanns Erzählung "Die Bergwerke zu Falun" (1818) hin (Rüdiger Safranski, E.T.A. Hoffmann. Das Leben eines skeptischen Phantasten, München/Wien 1984, S.322). Der Bergmann Elis Fröbom flieht am Hochzeitstag aus der Umarmung seiner Braut und fährt in den Berg ein, weil er im Bereich der Erd- und Berg-Elementargeister der "Suggestion des Wunderbaren" in Gestalt der "Bergkönigin" erlegen ist, entsprechend der Verlockung des Anselmus durch Serpentina, die Tochter des Feuer-Elementargeistes. Der "Fall" des Elis Fröbom endet buchstäblich im Kristall: er wird im Berg verschüttet und viele Jahre später in Vitriolwasser "kristallisiert" wiedergefunden. Also nicht nur das Untergehen in den prosaischen bürgerlichen Verhältnissen bedeutet das Gefangensein im ''Kristall''; Safranski sagt: ''Auch das Versinken im Wunderbaren, das die Brücken zur Realität abbricht, führt ins 'gläserne Gefängnis', das lehrt diese Erzählung. [...] Ist aber dann Atlantis nicht auch ein 'gläsernes Gefängnis', in dem Anselmus, nunmehr von der 'prosaischen' Wirklichkeit gänzlich getrennt, eingesperrt ist?'' (a.a.O.) E.T.A. Hoffmann lehnt die Verabsolutierung des Utopischen ebenso ab wie die Ideologie der bürgerlichen Gesellschaft seiner Zeit. Es geht ihm um das ''Dazwischen'' (Safranski). Und das repräsentiert im " Goldnen Topf" (abgesehen vom Archivarius) der Erzähler.

b) Die Szene der Atlantis-Vision weist direkt auf des Novalis ''Märchen von Hyazinth und Rosenblüte'' aus den ''Lehrlingen zu Sais'' (1798) hin: Von Hyazinth, den der Traum ins Allerheiligste des Tempels führt, heißt es dort: ''... da schwand auch der letzte irdische Anflug, wie in Luft verzehrt, und er stand vor der himmlischen Jungfrau, da hob er den leichten, glänzenden Schleier, und Rosenblütchen [seine eigentlich gar nicht himmlische, sondern bürgerlich-normale Freundin aus früherer Zeit] sank in seine Arme.'' Im ''Goldnen Topf'' würde das bedeuten, daß sich in Atlantis die mythische Serpentina nun doch als die bürgerliche Veronika herausstellen und daß Anselmus mit Serpentina-Veronika ins alltägliche Leben zurückkehren würde. Denn ''Hyazinth lebte nachher noch lange mit Rosenblütchen unter seinen frohen Eltern und Gespielen'', und auch die ''unzähligen Enkel'' fehlen nicht. (Novalis, Schriften. Erster Band, Hrsg.v. P. Kluckhohn und R. Samuel. Darmstadt 1960, S. 95)

Dieser Vergleich macht sehr prägnant den Unterschied zwischen Früh- und Spätromantik deutlich: Bei Novalis gelingt noch, wenigstens auf der Ebene des Märchens, der Kunst, die Vermittlung von Traumwelt und Realität, Innen und Außen, Kunst und Bürgertum und ist damit letztlich wohl noch im Sinne einer an Schiller orientierten ästhetischen Erziehung im Zusammenhang der dreischrittigen Geschichtsphilosophie zu verstehen: Das Märchen kann dem Leser als Modell einer Romantisierung und Potenzierung der gesellschaftlichen Verhältnisse dienen. Hoffmann beläßt Anselmus mit Serpentina in Atlantis und beordert stattdessen den Anselmus-Doppelgänger Registrator Heerbrand zu Veronika, die auf diese Weise doch noch ihren feudalistisch-bürgerlichen Traum,''Frau Hofrat'' zu werden, erfüllt bekommt. Statt Vermittlung: Aufspaltung in einerseits bürgerliche, andererseits phantastische Einseitigkeit - und der Erzähler hin- und hergerissen zwischen beiden Polen und dadurch innerlich zerrissen.

4. Der serapiontische goldne Topf

a) Der Erzähler will also in das Gemüt seines Lesers den phosphorischen Feuerfunken fallen lassen. Was er damit meint, hat er schon zu Beginn der 4. Vigilie verkündet: Zum erstenmal wagt er sich dort an die Oberfläche der Erzählung, in einer direkten Anrede ''geradezu [an] dich selbst, günstiger Leser'' (34,5), und stellt sein Ziel in Form einer kleinen Poetik dar: Der Erzähler drückt hier die Befürchtung aus, der Leser werde ihm nicht ''glauben", da er ja, aus der Perspektive des ''gemeinen Lebens'' gesehen, nichts anderes tue, als ''das alltägliche Leben ganz gewöhnlicher Menschen [solcher, die ''noch jetzt in Dresden umherwandeln''] ins Blaue hinauszurücken'' (35,11f.). Dieses verzaubernde Verfahren löst Bedenken aus, weil sich der Erzähler hier im Umgang mit seinen Figuren der magischen Kausalität des angedichteten Verliebt-, Krank-, Wahnsinnig-, Betrunken- oder ''Magnetisiert"- (also Hypnotisiert-) Seins bedient, ebenfalls der angedichteten Einbildung und Sinnestäuschung, schließlich auch einiger erzählerischer Taschenspielertricks, alles um den veränderten Zustand ''gewöhnlicher Menschen'' glaubhaft erscheinen zu lassen. Dies wäre aber letztlich nichts anderes als das magische Metallspiegelverfahren der Hexe, die - wie Serpentina kommentiert - ''alle Mittel aufbietet, von außen hinein ins Innere zu wirken'' (90,6f.), und die damit im Bereich des psychologisch-rational Erklärbaren bleibt. Aber dem von außen nach innen wirkenden Verfahren geht beim Erzähler zuerst die innere, durch nichts Äußeres veranlaßte Schau des - an Novalis erinnernden - ''feenhaften Reichs voller Wunder'' voraus, ''wo die ernste Göttin ihren Schleier lüftet, daß wir ihr Anlitz zu schauen wähnen'' (35,19ff.), und dann die Anamnesis, der Versuch, in diesem phantastischen und mythischen Traumreich genau ''die bekannten Gestalten, wie sie täglich [...] um dich herwandeln, wiederzuerkennen''. Erst wenn er sie innerlich dort erschaut hat, darf der Erzähler sie im Vorgang des Erzählens auch wirklich in Dresden aufgreifen und ''ins Blaue'' projizieren, also verwandeln, verzaubern. Dem Leser aber wird vom Erzähler angeraten, dieses ''serapiontische Prinzip" seinerseits anzuwenden, während und nach der Lektüre: ''Versuche es, geneigter Leser, [...] in diesem Reiche, das uns der Geist so oft, wenigstens im Traume aufschließt, [...] die [dir] bekannten alltäglichen Gestalten wiederzuerkennen" - in erster Linie ja wohl dich selbst.

b) So hält der Erzähler dem Leser statt eines magischen Metallspiegels den "Goldnen Topf" entgegen. Das Märchen erzählt nicht nur von dem Goldnen Topf, es ist der Goldne Topf. Dem Leser mag es dann so ergehen wie dem Anselmus, als er den spiegelblanken Topf zum erstenmal erblickt: ''Es war, als spielten in tausend schimmernden Reflexen allerlei Gestalten auf dem strahlend polierten Golde - manchmal sah er sich selbst mit sehnsüchtig ausgebreiteten Armen'' (62,19ff.). Aber schon in der mythischen Urzeit hat der Erdgeist und Spender dieses Goldnen Topfs dessen Bestimmung festgelegt: "in seinem Glanze soll sich unser wundervolles Reich, wie es jetzt im Einklang mit der ganzen Natur besteht, in blendendem herrlichen Widerschein abspiegeln'' (88,22ff.). Wir sind also wieder bei der zweifachen Spiegelung angelangt: Auf der spiegelblanken Fläche des ''Goldnen Topfs" können die Lebensgeschichte des Lesers wie die des Erzählers/Autors darin koinzidieren, daß sie sich selbst und die Ereignisse der konkreten Welt um sich herum im mythischen Geschehen des "wundervollen Reichs'' wiedererkennen.

Aber was erkennen sie eigentlich in diesem Spiegel? Anders gefragt: Welchen Sinn soll die Lektüre des Goldenen Topfes haben - das Sichhineinbegeben des Lesers in das Märchen der doppelten Spiegelung?

5. Der Phosphorus-Mythos

a) Der Phosphorus-Mythos und seine romantisch-naturphilosophische Bedeutung kommt heutigen Lesern wohl so fremd vor wie dem Registrator Heerbrand. Man redet dann vielleicht nicht von "orientalischem'', aber von romantischem ''Schwulst'' (28,32). Aber schon dem rationalistischen Registrator läßt der Erzähler den Archivarius Lindhorst entgegnen, der Mythos sei ''das Wahrhaftigste'' überhaupt, er sei "nichts weniger als ungereimt od er auch nur allegorisch gemeint, sondern buchstäblich wahr" (29,5/7/18ff.).

Das ist die buchstäbliche Wahrheit Jakob Böhmes, der in der seit Tieck und Novalis zu einem Kult-Buch der Romantiker gewordenen "Aurora oder Morgenröte im Aufgang" schreibt: "Ich trage in meinem Wissen nicht erst Buchstaben zusammen aus vielen Büchern, sondern ich habe den Buchstaben in mir, liegt doch Himmel und Erde mit allen Wesen, dazu Gott selber, im Menschen. Soll er denn in dem Buche nicht lesen dürfen, das er selber ist?'' (Zitiert nach: Chr. Helferich, "Geschichte der Philosophie. Stuttgart 1985, S. 113). Das innere Buch, das der Erzähler und der Leser selber sind, das übrigens auch bei Novalis in dem ''Märchen von Hyazinth und Rosenblüte'' vorkommt (und z.B. in dem Gedicht ''An Tieck'', dort mit Bezug auf Böhme) - dieses ''Buch'' enthält einen Mythos, der einen anders gearteten Wahrheitsanspruch erhebt als die empirische Erkenntnis.

b) Von den Büchern der romantischen Mythologen Görres, Creuzer und Kanne hat E.T.A. Hoffmann wahrscheinlich v.a. das ''Pantheum der ältesten Naturphilosophie'' (1811) von Joh. Arn. Kanne gekannt (von U. Stadler, a.a.O. S. 72ff., vermutet, aber nicht belegt). Unmittelbar vor der Beschäftigung mit dem "Goldnen Topf" hat er mit großer Begeisterung G.H. Schuberts "Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaften'' gelesen. Der Hintergrund der Schellingschen Naturphilosophie verbindet die sich als Historiker verstehenden romantischen Mythologen mit den Naturwissenschaftlern. Ihre gemeinsame Überzeugung ist ein polar-dualistischer entwicklungsgeschichtlicher Pantheismus und darin der Glaube, wie ihn J.A. Kanne formuliert, ''das Erste ist das Wahre'', das naturgeschichtlich und historisch Ursprüngliche sei also das Geglückte und einzig Glückbringende, aber es sei eigentlich unwiederbringlich verloren. Zwischen Schuberts ''Ansichten'' 1808 und E.T.A. Hoffmanns "Goldnem Topf" 1814 verläuft nun die Scheidelinie zwischen Noch-Optimismus und Resignation in der Frage der Möglichkeit eines realen, geschichtlich-gesellschaftlichen Glückszustands des Menschen. Pantheismus schlägt bei E.T.A. Hoffmann um in Nur-noch-Poesie, Kunst der Moderne, eine Position bereits der Autonomie der Kunst als Abgehobenheit von der gesellschaftlichen Lebenspraxis, der Lebenspraxis der Gegenwart und der Zukunft; das romantische Programm einer Vermittlung von Idealität und Realität durch die Kunst wird abgelöst von einem Programm der ständigen Verwandlung des einen in das andere und umgekehrt, auf der Basis einer fundamentalen Ambivalenz.

c) Schubert schreibt in den ''Ansichten": "Es ist ein ewiges Naturgesetz, daß [...] die vergängliche Form der Dinge untergeht, wenn ein neues, höheres Streben in ihnen erwacht, und daß nicht die Zeit, nicht die Außenwelt, sondern die Psyche selber ihre Hülle zerstört, wenn die Schwingen eines neuen, freyeren Daseyns sich in ihr entfalten.'' So wird ''ein scheinbares Streben der Dinge nach ihrer eignen Vernichtung'' ''gerade [in] den seeligsten und geistigsten Augenblicken des Lebens" sichtbar.

''Jedoch [...] eben die Gluth jener zerstörenden Augenblicke, für die bisherige Form des Daseyns zu erhaben, erzeugt den Keim eines neuen höheren Lebens in der Asche des untergegangenen vorigen...'' Das ist Schuberts Lehre von den "kosmischen Momenten" im weltgeschichtlichen Geschehen und im Leben des einzelnen, in denen sich also Leben als Tod und Tod als Leben herausstellen, Liebe als Vernichtung und Vernichtetsein als Glücksgarantie.

Schubert greift in diesem Zusammenhang die alten mystischen und alchimistischen Spekulationen über den in allem Materiellen verborgenen Feuerstoff Phosphor und die mythische Gestalt des ''Phosphorus'' auf, ''welcher schon im Alterthum als eine Fackel des Todes und der Liebe verehrt war. [...] So erschienen Liebe und Tod , das seeligste Streben des Gemüths und der Untergang des Individuums vereint.'' (G.H. Schubert, Von der Nachtseite der Naturwissenschaft, Dresden 1808, S. 69 ff.)

d) Das ist also E.T.A. Hoffmanns Mythos, die Erzählung vom Untergang des Geistes, des Lebens, der Erkenntnis und der Liebe (darum geht es bei Phosphorus und Feuerlilie und beim Salamander) und von der Auferstehung von Leben und Liebe aus Tod oder Qual (darum geht es bei Anselmus und Serpentina). Der eine, in sich doppelte Mythos wiederholt sich in allem Geschehen, er spiegelt sich hinein in die Lebensgeschichte jedes einzelnen und in jede geschichtliche Epoche, es gibt - trotz aller nach wie vor sehnsüchtig-spielerisch zitierten Formeln vom Goldenen Zeitalter und vom ''heiligen Einklang aller Wesen'', vom ''Einklang mit der Natur" - keine Möglichkeit, aus diesem ewigen Kreislauf auszubrechen, ans Ende zu kommen. Ein Leben in Atlantis bedeutet, von der Ebene des nicht-phantastischen bürgerlichen Lebens aus gesehen - und auch diese Perspektive ist gültig -, allemal entweder den Tod wie bei Elis Fröbom oder den sanften Wahnsinn wie beim Einsiedler Serapion. Jede erzählte Geschichte muß an irgendeiner Stelle des Kreislaufs aufhören; im einen Fall mag die Erzählung mit dem "Leben in der Poesie" enden (Anselmus im "Goldnen Topf"), im anderen Fall (z.B. des Nathanael im "Sandmann") mit dem Untergang. Und schließlich ist ja im "Goldnen Topf" des Anselmus Glück identisch mit dem Unglück des Erzählers.

Alles bedeutet auch sein genaues Gegenteil: der Mythologe Kanne spricht von "Enantiosemie". Das ist also ein zutiefst relativistischer Mythos, der von Schopenhauers nur wenige Jahre späterem pessimistischem Konzept nicht weit entfernt ist. Immer noch wird allerdings von einer Entwicklung zu ''höherem Sein'' (z.B. 36) gesprochen. Schubert, sein Freund Kanne und E.T.A. Hoffmann haben das wohl privat für ihre Existenz nach ihrem Tode erwartet. Es gibt genug Zeugnisse für eine solche private Frömmigkeit, z.B. den jeden Leser zutiefst berührenden Brief Hoffmanns an den Freund Speyer aus dem Jahr 1820 im Zusammenhang mit der immer noch nicht erkalteten Liebe zu Julia Marc: der Tod wird wohl endgültig die ständige Wiederkehr des Gleichen durchbrechen, ''beim letzen Hauch des Lebens'' gelangt "die entfesselte Psyche" zur "Schau" "im wahrhaftigen Seyn". Das also ist an die Stelle des 20 Jahre vorher entworfenen geschichtsphilosophischen Konzepts der Frühromantik getreten.

Bis zu diesem vielleicht endgültigen "höheren Sein" muß das Leben noch ausgehalten werden. Und hier ist dann der "Trost der Phantasie", der Kunst gefragt.

6. Der im Kunstwerk aufgehobene Wiederholungszwang

a) Die universale Geltung des Phosphorus-Luzifer-Mythos, die im "Goldnen Topf" wie in den anderen Erzählungen von E.T.A. Hoffmann fast Seite für Seite variantenreich inszenierte Spiegelung der einen, immer aus zwei gegensätzlichen Perspektiven zu betrachtenden und zu bewertenden Urszene, würde einen in den Wahnsinn führenden Wiederholungszwang bedeuten, wenn sie nicht jeweils vom Erzähler aus freien Stücken inszeniert wäre. Das genau ist wohl der springende Punkt in Hoffmanns Poetik- und Kunstauffassung: Der Poet, der nun einmal nicht mehr an die Vermittlung der Gegensätze glauben kann, dem nichts anderes übrig bleibt, als sich auf der imaginären Linie des "Dazwischen" balancierend einzurichten, führt seinem Publikum in seinem Balanceakt ein Feuerwerk phantastischer Verwandlungen, immer neuer ''kosmischer Momente'' des Übergangs von Schwermut in Seligkeit, von Liebestollheit in Zerstörung vor, zeigt fremde und eigene Sehnsucht und Verzweiflung und entzündet so in seinen Zuschauern den ''Funken'' der Liebe oder des Gedankens, je nachdem, den ''Feuerstoff des Salamanders'', von dem Serpentina spricht (87,20) und auf den alles ankommt: Geist, Phantasie, mystische Imagination - und Ironie. Die ironische Konfrontation des Phantastischen und wenigstens in der Formel noch utopisch Vorgestellten mit der banalen bürgerlichen Realität bringt Autor, Erzähler und Leser immer wieder zum Lachen, zu einem meist vorsichtigen, nicht befreienden Lachen, das letztlich nichts anderes ist - wie Hoffmann ''den Braunen" in den "Seltsamen Leiden eines Theater-Direktors" (in den “Fantasie- und Nachtstücken") sagen läßt - als "nur der Schmerzeslaut der Sehnsucht nach der Heimat, die im Innern sich regt".

b) Solche Leute wie der Konrektor Paulmann werden dann satirisch behandelt, nicht weil sie Bürger sind und eine nette Normalexistenz im "Linkischen Paradies" lieben, sondern weil sie unfähig zur Verwandlung sind. Und das Äpfelweib ist nicht etwa deshalb eine Hexe, weil es böse ist, sondern weil es seine schwarze Magie einsetzt, um andere an ihre gegenwärtige statische Existenz festzubannen. Anselmus steht im Mittelpunkt des Märchens, weil er - horizontal - eine Entwicklung mit mehreren Verwandlungs- und Rückverwandlungsphasen durchmacht. Und der Archivarius Lindhorst steht im Mittelpunkt, weil er vertikal, ohne Entwicklung, das Prinzip der Verwandlung verkörpert, indem er überwechselt vom bürgerlichen Archivarius zum Mythenerzähler, zum mythischen Geisterfürsten, zum ambivalenten Zwischenwesen, zum Geier und Adler, zum alkoholischen Geist im Pokal, und indem er andere zur Verwandlung anstiftet. So ist er eine Spiegelung des Erzählers, der im Rahmen der Handlung alle Verwandlungen inszeniert, beim Leser für Verwandlungen sorgt und sich zum Schluß selber wandelt.

c) (Zusammenfassung:) "Der goldne Topf. Ein Märchen aus der neuen Zeit": Jedenfalls ein Stück romantischer Transzendentalpoesie, in dem sich die Poesie mit sich selbst, die Phantasie mit ihrem eigenen Schicksal beschäftigt, weil die Frage danach noch die einzig relevante Frage ist. Das Goldene Zeitaler der Zukunft ist auf den Goldnen Topf reduziert, also auf das Kunstwerk. Das ist nur konsequent, denn in der Gegenwart hat "die Zeit", das zum mythischen Wesen avancierte Zeitgeschehen, die Rolle der Phantasie usurpiert; "die Zeit" hat die Phantasie-"Leistungen'' der bisherigen Poesie offensichtlich bei weitem übertroffen und bei ihrem "Publikum" einen ungeheuren Erfolg errungen. "Diese Zeit [... - heißt es in "Der Dey von Elba in Paris", a.a.O. S. 479] überflügelte mit dem Ungeheuren, was sie geschehen ließ, unsre kühnste Einbildungskraft, sie hob uns gewaltsam empor und, gewohnt an die schwindelnde Höhe, glauben wir nun schon zu sinken, wenn wir nicht immer und immer aufsteigen.'' Das ist also solch ein "kosmischer Moment", die Blütezeit der dämonisch-phantastischen Realität, die aber wie jede Blütezeit ''ihre eigne Vernichtung" bereits in sich trägt. Und da ist dann doch wieder die Poesie absolut herausgefordert: der Untergang der phantastischen Realität muß eine Auferstehung der phantastischen Idealität werden, einer Phantasie, die eine radikale, in der normalen Wirklichkeit nicht mehr zu verwertende Alternative zu bieten hat. Da sieht Hoffmann seine Aufgabe. Und so hebt der Erzähler seine Leser nicht ''gewaltsam'' empor, wie Napoleon und andere die Menschen ihrer Zeit emporgerissen haben, sondern mit "zauberhafter Leichtigkeit'', nicht in ''schwindelnde Höhen'', sondern auf der am Boden stehenden Himmelsleiter des Märchens mit der Kraft der spielenden und ironischen Phantasie. Abgesehen von einem Tiefpunkt vor der Vollendung seiner Erzählung (123f.), hält der Erzähler des "Goldnen Topfs" diese Leichtigkeit, weit oben auf der Himmelsleiter, durch - und ist am Ende doch wieder ganz unten auf der Leiter angekommen, in "schöpferischer Qual".










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