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Juden



Juden, im modernen Sprachgebrauch häufig wortgleich mit Hebräern und Israeliten verwendet. In historischer und ethnischer Hinsicht haben die Begriffe jedoch unterschiedliche Bedeutungen. Als allgemeiner geschichtlicher Terminus bezeichnet das Wort Hebräer alle semitischen Nomadenstämme, die um 1500 v. Chr. den östlichen Mittelmeerraum durchzogen. In der jüdischen Geschichte dient er jedoch als Bezeichnung ausschließlich jener Gruppen, die Jahwe als Gottheit anerkannten, und zwar von ihren Ursprüngen an bis zu jener Zeit, als sie das antike Palästina, Kanaan genannt, eroberten und sich - um 1020 v. Chr. - zu einer einzigen, von einem König regierten Nation zusammenschlossen. Die Israeliten gehören indes einer bestimmten ethnischen und nationalen Gruppe zu, die von den Hebräern abstammte und einen gemeinsamen Glauben teilte. Historisch exakt umfaßt der Begriff diese Gemeinschaft von der Eroberung Kanaans bis zur Zerstörung des Königreiches Israel 721 v. Chr. durch den assyrischen König Sargon II. (Regierungszeit 722-705 v. Chr.). Der Name Jude schließlich steht für die kulturellen Nachfahren der beiden erstgenannten Gruppen von der Zeit ihrer Rückkehr aus dem Babylonischen Exil bis in die Gegenwart. Das Wort selbst leitet sich von hebräisch yehudhi ab und galt ursprünglich für die Mitglieder des hebräischen Stammes Juda und später für die Zugehörigkeit zur Provinz Judäa. Das deutsche Wort Jude geht direkt auf lateinisch judaeus, Bewohner Judäas, zurück.



Die heutigen Juden gehören einer ethnischen Gemeinschaft an, die allen Verfolgungen zum Trotz über 19 Jahrhunderte ihre Identität - von der Auflösung der römischen Provinz Judäa 135 bis zur Gründung des Staates Israel 1948 - bewahren konnte. Traditionell gilt als Jude jedes Kind einer jüdischen Mutter, oder wer nach orthodoxer Norm zum Judentum übergetreten ist. Die bemerkenswert dauerhafte jüdische Gruppenidentität erklärt sich aus der Zugehörigkeit zum Judentum, dessen Geschichte sich untrennbar mit jener der Juden selbst verbindet und das jüdische Leben in allen Bereichen prägt. Zu den traditionellen Lehren gehören die Hoffnung und das Vertrauen auf das Kommen eines messianischen Königreiches. Obgleich Reformbewegungen das Judentum seit dem 19. Jahrhundert stark zu verändern begannen, konnte die Gemeinschaft als Ganzes überleben, nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, daß die vorangegangenen Generationen streng nach dem Gesetz lebten und dieses getreu überlieferten. Zu den besonderen Merkmalen des jüdischen Volkes gehören der Respekt und die Hingabe, mit der sich die Menschen dem Lernen und Studieren widmen, da beides als Dienst an Gott gilt.

Die Hebräer in Kanaan

Die biblischen Berichte der hebräischen Genealogie und Geschichte sind in den meisten Punkten glaubwürdig und lassen sich vielfach durch archäologische oder historische Studien bestätigen. In ihrer heutigen Form wurden sie jedoch erst Jahrhunderte nach den dargestellten Ereignissen niedergeschrieben und bedürfen daher der sorgfältigen Interpretation. Obwohl Moses seinen Vater als Aramäer bezeichnet (A.T., Deuteronomium 26, 5), stammen die Israeliten jedoch nicht allein von den Aramäern, sondern auch von Amoritern und Hethitern ab, wobei die typische jüdische Physiognomie, wie sie auf alten babylonischen Wandgemälden erscheint, am deutlichsten jener der Hethiter ähnelt. Die jüdische Sprache gehört zur Gruppe der nordwestlichen semitischen Sprachen.

Die zwölf Stämme

Die Geschichte der Stämme als Nachfahren des Ahnherren Jakob, wie sie das Alte Testament erzählt, muß im Licht des Nationalbewußtseins betrachtet werden, das die jüdischen Verfasser und Herausgeber der historischen Bücher im 6. und 5. Jahrhundert v. Chr. entwickelt hatten. In ihrem Bemühen, einen fortlaufenden und genauen Bericht zu geben, der eine gemeinsame Abstammungslinie schuf, machten diese Autoren zweifellos die Legende zur Geschichte. Gleichwohl besteht kein krasser Widerspruch zwischen biblischer Erzählung und den Ergebnissen der historischen Forschung. Die Schriften sprechen von zwölf hebräischen Stämmen, den Nachfahren der zwölf Söhne Jakobs: Aser, Benjamin, Dan, Gad, Issakar, Joseph, Juda, Levi, Naphtali, Ruben, Simeon und Zebulon. Die Forschung sieht die Jakobsgeschichte als symbolhafte Darstellung an, bei der sich die Stammesgeschichte mit persönlichen Erfahrungen vermischt hat. Zwischen den Stämmen herrschte Blutsverwandtschaft, einige von ihnen, vor allem Ruben, Simeon, Levi und Juda (Söhne derselben Mutter) unterhielten noch engere Beziehungen. Aser und Gad (Kinder von Dienerinnen) gehörten zu den unterworfenen Stämmen. Auch der Bund zwischen Jakob und Laban (A.T., Genesis 31, 44-54) personifiziert die Stammesgeschichte. Wissenschaftler erblicken in ihm einen frühen Vertrag zwischen hebräischen und syrischen Stämmen, die die Grenzen ihrer Weideländer im Norden von Gilead absteckten.

Der alttestamentlichen Tradition sowie der historischen Theorie zufolge kamen die aramäischen Vorfahren Israels aus der Gegend von Ur in Sumer am unteren Euphrat. Zu Beginn des 2. Jahrtausends v. Chr. gelangte eine Gruppe aramäischer Stämme in die Region von Carrhae (heute Harran, Türkei), einer alten babylonischen Kolonie. Einige Jahrhunderte später zogen mehrere Familienverbände weiter in südwestliche Richtung und ließen sich in vereinzelten Gruppen am Jordan nieder. Aus diesen Siedlern entstanden die hebräischen Stämme, die neben den Jahwegläubigen auch die Ammoniter, Moabiter und Edomiter umfaßten.

Der Exodus


Einige der Stämme, die traditionell der Gruppe von Joseph zugerechnet werden, begaben sich zwischen 1694 und 1600 v. Chr. nach Agypten, wo die Hyksoskönige, die semitischen Eroberer Agyptens, herrschten. Bis zu deren Absetzung (um 1570 v. Chr.) lebten die Stämme friedlich zusammen, dann wurden die Hebräer als Fremde verfolgt und zu Sklaven gemacht. Viele Historiker werten den Exodus als erfolgreichen Versuch der gefangenen Hebräer, sich mit verwandten hebräischen Stämmen zu vereinigen. Selbst archäologische Funde von Inschriften in Agypten geben keinerlei Hinweis auf den Auszug, wahrscheinlich deshalb, weil die ägyptischen Hebräer höchstens einige tausend Menschen zählten und ihr Weggang kein großes Aufsehen erregte.

Im Gegensatz dazu mißt die jüdische Geschichte dem Exodus große Bedeutung bei. Moses hatte auf dem heiligen Berg Sinai den Bund mit Jahwe geschlossen und damit den Grundstein für den jüdischen Glauben gelegt, mit dem sich auch nomadentypische Vorstellungen von Eigentum, individuellem Recht, Sexualmoral und der Gleichheit aller Mitglieder der Gemeinschaft verbanden. Die Freiheitsliebe, die ebenfalls zu den hervorstechenden Charakteristika der wandernden Semiten zählte, und der Gedanke eines gesetzgebenden, königlichen Schöpfergottes bildeten die übrigen Merkmale der Religion und späteren politischen Theorie Israels.

Die Eroberung Kanaans im 2. Jahrtausend v. Chr. kam nicht allein durch militärische Siege, sondern ebenso durch Hochzeiten und Bündnisse zustande. Überdies nutzten die Invasoren die Gelegenheit, ihre Macht ungestört zu entfalten. Die Position der Agypter, Hethiter und Sumerer war geschwächt, Assyrien besaß zwar alle Voraussetzungen zu einer Großmacht, hatte seine Kräfte jedoch noch nicht gesammelt. Unter Moses' Nachfolger Josua überquerten die Stämme Jahwes den Jordan, nahmen Jericho sowie die umliegende Ebene ein und siedelten sich im Westen Palästinas an. Zwar vermochten sie die Zahl der Kanaaniter nicht aufzuwiegen, doch fühlten sie sich durch ihren religiösen Bund und ihre gemeinsame Abstammung vereint. In der Zeit der Richter, der großen militärischen und zivilen Führer, sicherten die Israeliten ihr Land. Sie schlugen Angriffe der Moabiter, Midianiter und vor allem der Philister zurück, die aus der Agäis gekommen waren.

Das Königreich

Mit der Thronbesteigung Sauls, des ersten israelitischen Königs, vollzog sich um 1020 v. Chr. der Zusammenschluß der Stämme zu einer politischen Einheit. Sauls Nachfolger David erweiterte die Grenzen des Reiches.

Das Königreich unter David


David eroberte Jerusalem, die stärkste Bastion Palästinas, und machte es zu seiner Hauptstadt. Unter seinem Oberbefehl brach die israelitische Armee die Macht der Philister und nahm Edom, Ammon sowie Moab ein. David strukturierte auch den Gottesdienst neu, regelte die Pflichten der Priesterschaft und machte die Religion der Israeliten zum vorherrschenden Kult in Palästina. Bei seinem Tod waren alle benachbarten Länder entweder unterworfen oder durch Freundschaftsverträge an Israel gebunden.

Salomos Herrschaft

Davids Sohn und Nachfolger Salomo machte sich einen Namen als Erbauer des Tempels von Jerusalem, der sich zum Symbol des israelitischen Glanzes und Ruhmes entwickelte. Salomo besaß große Macht und führte das Reich zur wirtschaftlichen Blüte. Er vereinheitlichte die Verwaltung des Reiches und förderte Handel und Industrie, indem er Handelsstraßen nach Afrika, Asien, Arabien und Kleinasien bauen ließ. Da er bemüht war, die politische Stellung des Königreiches zu stärken, heiratete er zahlreiche einflußreiche Frauen aus benachbarten Fürstentümern. Salomos aufwendiger Lebensstil und die Umsetzung seiner bildungspolitischen Ziele, die sich aus verschiedenen Funden in Meggido ableiten lassen, verschlangen jedoch große Geldsummen und erforderten ein riesiges Heer von Sklaven. Zwangsarbeit und hohe Steuern lösten Unzufriedenheit in der Bevölkerung aus und führten zur politischen Instabilität. Im Südosten unternahmen die Edomiter eine erfolgreiche Revolte, und der Bezirk von Damaskus im Nordwesten befreite sich von der Hegemonie der Israeliten. Salomos Hang zum Luxus und die Ausbeutung seiner Untertanen widersprachen der nomadischen Tradition der Israeliten, in der Zusammengehörigkeit und Verbundenheit zu den höchsten Prinzipien zählten, so daß sich nach dem Tod des Königs, um 922 v. Chr., das Reich spaltete.

Das geteilte Reich


Nach Salomos Tod kehrte Jerobeam, der nach einer fehlgeschlagenen Verschwörung gegen den Herrscher im Exil gelebt hatte, aus Agypten zurück. Eine von ihm geführte Abordnung forderte von Salomos Sohn und Nachfolger Rehabeam die Garantie für Reformen, was dieser jedoch ablehnte. In der nun folgenden Auseinandersetzung fand Jerobeam Unterstützung durch den ägyptischen König Scheschonk I. (Regierungszeit 946-913 v. Chr.), der mit biblischem Namen Schischak hieß. Er drang in Rehabeams Königreich ein, plünderte und raubte schließlich den Tempel aus. Das Reich wurde geteilt, und als Jerobeam I. trat der Rebell die Herrschaft über die nördlichen Landesteile an. Nach biblischer Überlieferung gehörten zum Königreich Israel zehn der zwölf Stämme, nämlich alle mit Ausnahme von Juda und Benjamin. Rehabeam regierte im Süden das spätere Königreich Juda. Es umfaßte ein Gebiet von rund 775 Quadratkilometern und hatte nur noch eine untergeordnete Bedeutung. In Dan und Bethel errichteten die Israeliten eigene Heiligtümer, und obgleich die Bewohner beider Staaten sich nach wie vor als Volk fühlten, blieben sie politisch getrennt.

In den nächsten beiden Jahrhunderten prägten eine Vielzahl von Kämpfen zwischen Kleinstaaten die jüdische Geschichte. So führten Israel, Juda, Moab, Edom und Damaskus Krieg gegeneinander. Zu Beginn des 9. Jahrhunderts v. Chr. erlangte Israel unter König Omri (Regierungszeit 876-869 v. Chr.) einen Teil seiner alten Macht zurück. Um 870 v. Chr. gründete Omri Samaria als Hauptstadt Israels und leitete eine Phase des Friedens ein. Unter Ahab, seinem Sohn und Thronfolger, wurde das Reich durch einen innenpolitischen Streit um religiöse Fragen zerrüttet. Ahabs Frau Isebel, eine Prinzessin von Tyrus, förderte den Baalkult und stellte dadurch die alleinige Verehrung Jahwes in Frage. Dies führte zu einem religiös wie auch politisch motivierten Sturm der Entrüstung. Eine Reihe von Propheten versuchte, das Gewissen des Volkes wachzurütteln. So riefen im Nordreich Elia, Elisa, Amos und Hosea dazu auf, zu den Werten und Traditionen zurückzukehren, die sich in der Nomadenzeit entwickelt hatten. In Juda kämpften Jesaja und Micha gegen Idolatrie und Prunksucht. Im 8. Jahrhundert v. Chr. hatte Assyrien sich zur entscheidenden Macht im Mittleren Osten emporgeschwungen und stand nun an den Grenzen der geschwächten Reiche.

Über ein Jahrhundert lang hatten die Assyrer danach getrachtet, Palästina zu erobern. 853 v. Chr. kam es zu einer ersten großen Invasion unter der Führung von König Schalmaneser III. (Regierungszeit 859-824 v. Chr.). In der Schlacht von Karkar gelang es indes einem Verbund kleiner Staaten (Israel eingeschlossen) unter Ben-hadad I., dem König von Damaskus (gestorben um 841 v. Chr.), den Angriff zurückzuschlagen. Assyrien zog sich zurück, doch seine Truppen bedrohten weiterhin die Grenzen zu Palästina. Als 734 v. Chr. die wachsenden Streitigkeiten unter den betroffenen Ländern eine erneute Koalition ausschlossen, nahm die assyrische Armee unter Tiglat-Pileser III. (Regierungszeit 745-727 v. Chr.) Israel ein. Nur die Bastion von Samaria konnte sich bis 721 v. Chr. halten, ehe die Assyrer sie stürmten und die Stadt besetzten. Sie zerstörten das Königreich Israel und verschleppten viele seiner Einwohner. In Samaria wurden Einwanderer aus Mesopotamien angesiedelt, die die Religion der Israeliten annahmen und eine unter dem Namen Samariter bekannte Glaubensgemeinschaft bildeten. Das Königreich Juda mußte zwar an die Assyrer Tribut entrichten, konnte seine nominelle Unabhängigkeit aber weitere 135 Jahre wahren.

Die Zerstörung Jerusalems durch Nebukadnezar

Im darauffolgenden Jahrhundert behielt Juda seine Identität, während sich die Macht im Mittleren Osten von Assyrien nach Agypten und schließlich zum wiedererblühten babylonischen Reich der Chaldäer verschob. Hatte sich Juda schon den Assyrern nicht unterworfen, so weigerte es sich erst recht, die Herrschaft der Chaldäer anzuerkennen. 598 v. Chr. zog Nebukadnezar II., der über Chaldäa regierte, gegen die aufsässigen Judäer ins Feld und eroberte Jerusalem. Die Mehrzahl der besiegten Adligen, Krieger und Handwerker brachte er nach Babylon und ernannte Zedekia zum König über Juda. 588 v. Chr. führte dieser eine Revolte gegen die Chaldäer an. Zwei Jahre später eroberten die Soldaten Nebukadnezars Juda und legten Jerusalem in Schutt und Asche. Alle Judäer, die im Verdacht standen, an dem Aufruhr beteiligt gewesen zu sein, verschleppten sie nach Babylon. Eine kleine Gruppe floh nach Agypten und nahm - gegen dessen Willen - den Propheten Jeremia mit. Nur die arme Landbevölkerung blieb in der Heimat. Das Babylonische Exil beendete, abgesehen von einer kurzen Spanne über vier Jahrhunderte später, die politische Unabhängigkeit des alten Israel.

Das unterworfene Judäa

Als die Chaldäer Juda auflösten, lebten die Judäer in Agypten, Babylon und unter der bäuerlichen Bevölkerung Palästinas.

Leben in Babylon

Die größte und bedeutendste Gemeinschaft war in Babylon. Hier gründeten die Verbannten gemeinsam mit 597 v. Chr. aus Judäa verschleppten Glaubensbrüdern und anderen, die sich während der Zerstörung Israels 721 v. Chr. hier niedergelassen hatten, eine blühende Kolonie. Unter der Führung des Priesters und Reformers Ezechiel bewahrte die Gemeinde ihre Identität, indem sie das politische Israel durch das religiöse ersetzte. Neu eingeführte Rituale und Liturgien regelten das Leben in der Fremde. Schriftsteller begannen, die israelitischen Traditionen zu sammeln und zu den späteren biblischen Büchern zusammenzustellen. Gebetsversammlungen nahmen den Platz des früheren Tempeldienstes ein. Ein anonymer Prophet, der im Alten Testament Deuterojesaja genannt wird, da seine Worte den zweiten Teil des Buches Jesaja bilden, bereitete die Gläubigen auf ein neues Leben in einem wiederaufgebauten Jerusalem vor.

Rückkehr nach Jerusalem

539 v. Chr. wurde Babylon von Cyrus dem Großen, dem Begründer des Persischen Reiches, erobert. Im darauffolgenden Jahr gab er ein Edikt heraus, das den Juden die Freiheit schenkte. 42 000 Mitglieder der babylonischen Gemeinde bereiteten ihre Rückkehr nach Palästina vor und machten sich, versehen mit Spenden der in Babylon verbleibenden Israeliten und Geschenken von Cyrus selbst, auf den Weg. Serubbabel, ein Fürst aus dem Hause David, führte den Zug nach Jerusalem. Noch immer waren die Spuren der chaldäischen Kriege deutlich zu sehen, und die Heimkehrer schienen angesichts der riesigen Aufgabe, die sie erwartete, der Verzweiflung nahe. Sie drohten in Apathie zu verfallen, doch gelang es den Propheten Haggai und Sacharja, ihnen vor Augen zu führen, daß ihre Arbeit belohnt werde. So machten sich die Juden an den Wiederaufbau und weihten 516 v. Chr. den zweiten Tempel ein. Dieses Datum gilt daher nach jüdischer Auffassung auch als eigentliches Ende des Babylonischen Exils, das insgesamt 70 Jahre, von 586 bis 516 v. Chr., dauerte.

Der jüdische Hohepriester übernahm die Regierung über die Provinz Juda oder Judäa, die von nun an den Status einer Theokratie innehatte. Die Konsolidierung des Landes ging nur langsam vonstatten. 445 v. Chr. betraute man daher Nehemia, einen jüdischen Günstling des persischen Königs Artaxerxes I. (Regierungszeit 465-425 v. Chr.), mit den Aufbauarbeiten. Unter seiner Leitung erblühte Jerusalem wieder zu einer bedeutenden Metropole. Zeitgleich entsandte der Überlieferung zufolge die babylonische Gemeinde, die von der mangelnden religiösen Begeisterung der Juden gehört hatte, den berühmten Schriftgelehrten Esra nach Judäa, um auch religiöse Reformen in Angriff zu nehmen. Da die Person von Artaxerxes im Buch Esra nicht notwendig mit jener zur Zeit des Nehemia übereinstimmt, könnte der Prophet jedoch auch 398 oder 397 v. Chr. nach Judäa zurückgereist sein. Mitte des 4. Jahrhunderts hatte sich Judäa in einen gut organisierten Staat verwandelt, in dem eine mächtige Priesterschaft die wesentlichen Glaubensinhalte festlegte und kontrollierte. Die Gesetzesbücher der Thora regelten jeden Aspekt des jüdischen Lebens, und die Schrift- oder Rechtsgelehrten gaben den Texten ihre endgültige Form. Zugleich wuchs der Wohlstand. In nur 150 Jahren hatten sich die Juden den verschiedensten Gegebenheiten angepaßt und sich dabei von einer politischen Einheit zu einem religiös motivierten Volk gewandelt.

Die Diaspora

Im ausgehenden 4. Jahrhundert v. Chr. stieg Mazedonien unter Alexander dem Großen zu einer bedeutenden Macht auf. Nach der Unterwerfung Persiens 331 v. Chr. gehörte Judäa zu den Provinzen Alexanders. Der Überlieferung zufolge schenkte Alexander den Juden seine besondere Aufmerksamkeit. Tausende von ihnen siedelten sich nach der Gründung von Alexandria in Agypten an. Als die Handelsverbindungen innerhalb des riesigen Reiches zunahmen, ließen sich viele Juden an den Ufern des Schwarzen Meeres, auf den griechischen Inseln und an den Mittelmeerküsten nieder. Die Abwanderungstendenzen nahmen so starke Ausmaße an, daß man die neuen Gemeinden als Diaspora (griechisch diaspora: Zerstreuung) bezeichnete. Weit entfernt von den Zentren des jüdischen Lebens in Judäa setzte sich bei den Emigranten die griechische gegenüber der hebräischen Sprache durch, und die Einwanderer übernahmen griechische Sitten und Vorstellungen. Im 3. Jahrhundert v. Chr. wurde der Pentateuch ins Griechische übersetzt. Diese Septuaginta, die später auch die anderen Teile der hebräischen Bibel umfaßte, bildete nun die religiöse Grundlage der Diasporajuden. Der Hellenismus, die griechische Lebensart und Kultur, gewann ebenfalls mehr und mehr an Einfluß.

Nach Alexanders Tod 323 v. Chr. bedrohten die Griechen das Judentum politisch und kulturell. Alexanders Generäle teilten das Reich untereinander auf, und der ägyptische König Ptolemäus I. marschierte in Judäa ein. Als Handelsroute nach Arabien besaß das jüdische Gebiet strategische Bedeutung und geriet daher zum Streitobjekt zwischen Agypten und den in Syrien herrschenden Seleukiden. 198 v. Chr. siegte Antiochus I. von Syrien in der Schlacht bei Paneas über Agypten und verleibte Judäa seinem Reich ein. Die seleukidischen Könige versuchten nun mit aller Macht, das Judentum durch den Hellenismus zu ersetzen. Ihren Höhepunkt erreichte die Hellenisierung unter Antiochus IV., der den jüdischen Glauben 168 v. Chr. für gesetzeswidrig erklärte und den Altar Jahwes im Tempel von Jerusalem dem Zeus weihte.

Die Zeit der Hasmonäer


Die Juden beantworteten die Entweihung ihres Heiligtums im gleichen Jahr mit einem Aufstand, angeführt von dem jüdischen Priester Mattathias und seinen Söhnen, den Makkabäern. Nach einem erbitterten Kampf schlugen die jüdischen Truppen das syrische Heer. Die Dynastie der Hasmonäer oder Makkabäer übernahm die Regierung und ernannte sich zu Königen des unabhängigen jüdischen Staates.

Unter den Hasmonäern konzentrierten sich die Juden darauf, ihren Glauben von fremden Einflüssen zu befreien. Die Ansichten der beiden wichtigsten neu entstandenen Fraktionen, der Sadduzäer und der Pharisäer, unterschieden sich sowohl in religiöser als auch in politischer Hinsicht grundlegend voneinander. Daneben gab es noch die Essener, ein mönchsartiger Orden. Die Hasmonäer richteten das Synedrium ein, einen aus 71 hochrangigen Persönlichkeiten bestehenden Obersten Gerichtshof, der über zivilrechtliche und religiöse Fragen entschied. Das Königreich dehnte sich aus und umfaßte unter Johannes I. Hyrkan auch Samaria und Edom, das zu dieser Zeit Idumäa genannt wurde. Ihre Bewohner wurden dazu gezwungen, das Judentum anzunehmen.

Auch in der hasmonäischen Zeit kam es zu größeren inneren Konflikten. Im letzten Jahrhundert v. Chr. brach ein Streit zwischen den Brüdern Hyrkan II. und Aristobul II. aus, die beide Anspruch auf den Thron erhoben. Antipater, ein Idumäer, der Hyrkan zu unterstützen schien, nutzte die Auseinandersetzung für seine Zwecke und verbündete sich mit dem römischen General Pompeius. Dieser marschierte 62 v. Chr. in Jerusalem ein, und ab 47 v. Chr. übernahm Antipater das Amt des Prokurators für die Provinz Judäa, die fortan direkt Rom unterstellt war. Antipaters Sohn, Herodes der Große, bestieg den Thron 37 v. Chr.

Die Entstehung des Christentums

Religiöse und politische Aufstände prägten das letzte Jahrhundert des alten jüdischen Staates. Zu Beginn des christlichen Zeitalters umfaßte die gesamte jüdische Bevölkerung in der Alten Welt rund acht Millionen Menschen, die, von Judäa abgesehen, vor allem in Alexandria, Nordafrika, Babylon, Antiochien, Ephesus und Rom lebten. Neben dem Einfluß des Hellenismus war es diese breite Streuung, die verschiedene antijüdische Bewegungen hervorbrachte. Eine von ihnen richtete sich gegen alle Juden und zielte insbesondere auf die jüdische Handelstätigkeit, die religiösen Unterschiede und die politischen Privilegien, die viele Juden in hohen Amtern für sich in Anspruch nahmen. Eine zweite Gruppierung entwickelte sich aus dem Judentum selbst, das Christentum. Die Zahl der hellenistischen Juden, die Jesus (hebräisch Yeshua oder Josua) für den verheißenen Messias hielten, überstieg bei weitem die der hebräischen Juden, die sich zu Jesus bekannten. Auch zahlreiche Heiden bekehrten sich zum neuen Glauben, als die Jünger Jesu in der Alten Welt zu missionieren begannen. Das Christentum galt zunächst als jüdische Sekte, doch als zunehmend Heidenchristen hinzukamen, konzentrierte sich ihr Glaube immer stärker auf die Person und das Wirken Jesu. Die Judenchristen blieben dagegen den wesentlichen jüdischen Inhalten und Vorschriften treu. Als Antwort auf diese Bedrohungen faßten die Juden ihre Gebote noch strenger und erlaubten keinerlei Abweichung von der Tradition.

Der große Aufstand


Im 1. Jahrhundert n. Chr. mündeten die religiösen Konflikte in blutige Kämpfe. Die römischen Herrscher über Judäa regierten als Despoten und achteten die jüdische Religion gering. 66 n. Chr. führten die Zeloten einen Aufstand gegen Rom. Kaiser Nero entsandte den römischen General und späteren Kaiser Vespasian, der die Revolte zwischen 70 und 73 n. Chr. niederschlug und Jerusalem mitsamt dem Tempel zerstörte. Als letzte Bastion fiel Masada im Jahr 73 n. Chr.

Formell existierte Judäa auch weiterhin. Das Zentrum der jüdischen Lehre verlagerte sich unter der Leitung des großen Weisen Jochanan ben Zakkai nach Jabne (Jamnia, heute Yavne, Israel). In der nächsten Generation bleib es in Judäa aufgrund der strikten römischen Kontrolle weitgehend friedlich. Dann ordnete Kaiser Hadrian den Wiederaufbau Jerusalems als Stadt an, die zu Ehren Jupiters den Namen Aelia Capitolina tragen sollte, und erließ ein Edikt, das die Beschneidung verbot.

Bar Kochba

Als Reaktion auf die Demütigung der Juden kam es in Judäa unter Simon Bar Kochba zu einem gewaltsamen Aufstand. Von 132 bis 135 wehrten sich die Juden erfolglos gegen die römische Besatzungsmacht, die jedoch ihre Vorherrschaft halten konnte. Auf Anordnung des Kaisers wurde die Provinz in Syrien-Palästina umbenannt. In Jerusalem wurden römische Kulte eingeführt, und jeder Jude, der sich zu seinem Glauben bekannte, wurde mit dem Tod bestraft.

Der Fall Judäas vergrößerte die Kluft zwischen Juden und Christen. Die Juden betrachteten den Verlust als Katastrophe, während die Christen ihn als Zeichen Gottes werteten, der sich vom jüdischen Volk losgesagt habe, und sich nun als die wahren Träger der Gnade sahen. In den ersten drei Jahrhunderten der christlichen Zeitrechnung gewann das Christentum zunehmend an Bedeutung. Nachdem Kaiser Konstantin der Große den neuen Glauben 313 zur Staatsreligion erklärt hatte, wuchs die feindliche Gesinnung gegenüber den Juden, die sich fortan immer wieder Verfolgungen ausgesetzt sahen.

Die Juden nach dem Exil

Trotz der Zerstörung des zweiten jüdischen Staates und der zunehmend antijüdisch gesinnten Umwelt vermochten die Juden ihre Identität und ihre Traditionen im Zuge eines tiefgreifenden kulturellen Wandels zu bewahren.

Die religiöse Entwicklung im Exil

Als Antwort auf den Bruch, den die Entstehung des Christentums bewirkte, entwickelte sich das Judentum zu seiner bleibenden Form. Die Kontinuität beruhte auf der gemeinsamen Sprache, einem literarischen Erbe, das Bestandteil der jüdischen Erziehung wurde, auf einem klar strukturierten Gemeindeleben mit festem Zusammenhalt und der stetigen Hoffnung auf zukünftige Erlösung.

Während der ersten sechs Jahrhunderte des Exils verfaßten die Rabbiner und Schriftgelehrten mit der Mischna und der Gemara den großen Korpus der mündlichen Gesetze und religiösen Auslegungen, den Talmud. Unter der Herrschaft der Parther, ab 227 dann unter der der Sassaniden oder Neuperser, entwickelten sich Akademien in Palästina, vor allem in Galiläa und Babylonien, zu den wichtigsten Zentren der jüdischen Glaubenslehre. Bereits seit dem 6. Jahrhundert v. Chr. gab es in Babylonien eine bedeutende jüdische Gemeinde, die nun einen immer stärkeren Einfluß auf die im Exil lebenden Juden ausübte. Ein Exilarch stand der babylonischen Kolonie als Oberhaupt vor. Die beiden dortigen Studienstätten in Sura und Pumbedita genossen unter den Juden hohes Ansehen. Die Lehrer, die im 1. und 2. Jahrhundert an der Kodifizierung und Erweiterung der Mischna arbeiteten, hießen Tannaiten (von aramäisch: lehren). Auf sie folgten im 3. Jahrhundert die Amoräer (aramäisch: Sprecher), die sich mit der Gemara befaßten und im 5. Jahrhundert von den Saboräern (aramäisch: nachdenken) abgelöst wurden. Mit der Komplettierung der Gemara, die den Kommentar zur Mischna bildete, erhielt der Talmud zu Beginn des 6. Jahrhunderts seine endgültige Fassung. Der unvollständigere palästinische oder Jerusalemer Talmud erhielt seine heutige Gestalt bereits ein Jahrhundert früher. Die führenden Vertreter der babylonischen Schulen nannten sich Gaonen (Plural des hebräischen Wortes gaon: Vorzüglichkeit). Ihre Antworten zu Fragen des Glaubens wurden zum Teil in die religiöse Praxis aufgenommen.

Islamische Toleranz

Der aufkommende Islam stellte für die jüdischen Gemeinden Babyloniens keine größere Bedrohung dar. 637 eroberten die Muslime Mesopotamien und erhoben den Islam zur Staatsreligion. Der Kodex Omar, den Kalif Omar I. verkündete, erlegte den Juden eine Reihe formeller Beschränkungen auf. So durften sie keine politischen Amter bekleiden und keine Muslime als Dienstboten beschäftigen. Auch war es ihnen verboten, Waffen zu tragen, Synagogen zu bauen und Gottesdienste mit lauter Stimme abzuhalten. Darüber hinaus mußten sie als Erkennungszeichen gelbe Flicken an ihren Armeln tragen. Die Kalifen von Bagdad fühlten sich indes nicht an das Gesetz gebunden und gestatteten den Juden, ihre Autonomie weitgehend zu bewahren.

Diese Phase der islamischen Toleranz zeichnete sich durch eine gute Kooperation zwischen Muslimen und Juden aus und begünstigte die Entwicklung einer auf griechischen, muslimischen und jüdischen Elementen basierenden Kultur zu einer Zeit, da in Europa noch das finsterste Mittelalter herrschte.

Die Juden im mittelalterlichen Europa

Mitte des 10. Jahrhunderts verlagerte sich das Zentrum der weltlichen und religiösen jüdischen Lehre von Mesopotamien ins maurische Spanien. Schon vor der Expansion des Römischen Reiches hatte es hier jüdische Kolonien gegeben. Diese sahen sich immer wieder Verfolgungen ausgesetzt, insbesondere nachdem die Westgotenkönige sich im 6. Jahrhundert zum Christentum bekehrt hatten. Der Eroberungszug der Muslime bedeutete für die Juden eine Zeit des Friedens. Sie bekleideten nun wichtige Amter als Staatsmänner, Arzte, Bankiers und Gelehrte.

Die Epoche des Friedens endete Mitte des 13. Jahrhunderts, als die Macht der Muslime auf der Iberischen Halbinsel schwand. Unter den katholischen Königen erwartete die Juden das Schicksal ihrer Glaubensbrüder und -schwestern im übrigen Europa. Im gesamten Mittelalter waren Judenverfolgungen in christlichen Ländern an der Tagesordnung. Während der Kreuzzüge wurden Tausende von Juden zum Opfer der ausziehenden Kämpfer. 1215 berief Papst Innozenz III. das 4. Laterankonzil ein, das eine an den Kodex Omar erinnernde Restriktionspolitik den Juden gegenüber verkündete und sie zwang, sich öffentlich kenntlich zu machen. In ganz Europa grenzte man die Juden aus. In den Städten mußten sie fortan in Ghettos leben und durften sich nicht mehr frei bewegen. Im 13. und 14. Jahrhundert füllten die europäischen Könige ihre Schatzkammern mit konfisziertem jüdischen Eigentum, dessen rechtmäßige Besitzer sie vertrieben. 1290 enteignete König Edward I. von England die Juden und verwies sie des Landes.

1394 folgte Karl VI. von Frankreich seinem Beispiel. Als im 14. Jahrhundert der Schwarze Tod in Europa wütete, mußten abermals zahlreiche Juden sterben, weil die Christen sie für die Urheber der Seuche hielten. In Spanien führten die von der Kirche ausgehenden Verfolgungen dazu, daß die Juden scharenweise konvertierten, um ihr Leben zu retten. In vielen Fällen waren diese Bekehrungen rein äußerlich, insbesondere bei den Marranen; die sich zwar zum Katholizismus bekannten, insgeheim aber weiter ihrem früheren Glauben anhingen. Ab 1478 verfolgte die spanische Inquisition diese Gruppe, und 1492 wurden alle Juden aus dem Land vertrieben. 1497 folgte die Ausweisung aus Portugal.

Die Emigranten aus Westeuropa fanden im östlichen Teil des Kontinents Zuflucht. Tausende von spanischen Juden flohen in die europäische Türkei, wo zu der Zeit eine Politik der islamischen Toleranz herrschte. Im 16. Jahrhundert befand sich die größte jüdische Gemeinde Europas in Konstantinopel. Die meisten Juden, die in England, Frankreich, Deutschland und der Schweiz verfolgt wurden, ließen sich in Polen und Rußland nieder. Um 1648 betrug ihre Zahl in Polen über 500 000, die innerhalb des Königreiches ihre Autonomie bewahrten und das Land zu einem Zentrum des jüdischen Lebens machten. Zwischen 1648 und 1658 kam es zu Verfolgungen in der Ukraine, die nach dem Aufstand des Kosakenführers Chjelmnizki (um 1595-1657) einsetzten. Als auch jüdische Gemeinden in Polen zerstört wurden, war das jüdische Volk auch im osteuropäischen Raum in seiner Existenz bedroht. Von nun an durften die Juden eine Vielzahl von Berufen nicht mehr ausüben. Handwerk, Landwirtschaft und Handel in großem Umfang blieb ihnen verschlossen, so daß sie sich auf den Kleinhandel beschränken mußten.

Die Juden in der Neuzeit

Ende des 16. Jahrhunderts existierten nur noch Überreste der alten jüdischen Gemeinden in Westeuropa.

Reformation und Französische Revolution

Als nach der protestantischen Reformation die politische und soziale Freiheit allmählich zunahm, wuchs auch die Toleranz gegenüber den Juden. Erste Anzeichen gab es in England, wo der Commonwealth unter Oliver Cromwell den Juden ab 1650 die Einwanderung anbot. Einflußreiche Männer wie der Philosoph John Locke und der Missionar Roger Williams luden sie auch ein, sich in den englischen Kolonien Nordamerikas niederzulassen. In Frankreich verlieh die Nationalversammlung den Juden im Rahmen der Demokratisierung nach der Französischen Revolution 1791 das Wahlrecht. Nach 1815 verschärfte sich die Situation allerdings wieder, weil die Staaten, die Napoleon unterworfen hatte, die von ihm eingeführten Neuerungen rückgängig machten, um dem Liberalismus einen Riegel vorzuschieben. Dieser Rückwärtstrend hielt indes nur wenige Jahrzehnte an, und um 1860 waren die Juden in ganz Westeuropa vollwertige Mitglieder der Gesellschaft.

Osteuropäische Politik

In Osteuropa kehrte sich zur gleichen Zeit die Toleranzpolitik gegenüber den Juden um. Rußland und Polen ließen die Juden verfolgen, um liberalen Tendenzen keinen Vorschub zu leisten. Die Lage der Juden gestaltete sich nun ähnlich wie im mittelalterlichen Europa, insbesondere nach der Teilung Polens, dessen Osthälfte zwischen 1772 und 1796 zum Russischen Reich gehörte. Die meisten polnischen Juden lebten in dem Gebiet, das nun zu Rußland zählte und mußten harte Restriktionen erdulden. Sie durften nur in abgegrenzten Ghettos leben und konnten zahlreiche Bildungs- und Berufswege nicht mehr einschlagen. Darüber hinaus gestattete und finanzierte die zaristische Regierung in Abständen Massaker an den Juden. Diese Pogrome sollten die Aufmerksamkeit der russischen Bevölkerung von ihrer Unzufriedenheit mit dem Feudalsystem ablenken, das bis ins ausgehende 19. Jahrhundert fortbestand. Das Regime ergriff noch weitere Maßnahmen, indem es die Juden zu isolieren und jede Form der politischen Einflußnahme zu unterbinden versuchte. Vor allem befürchtete man, die Juden könnten aufrührerische Ideen aus Westeuropa nach Rußland tragen. Die Verfolgungen dauerten bis zum Beginn der Russischen Revolution 1917. Zwischen 1890 und dem Ende des 1. Weltkrieges emigrierten als Folge der Pogrome rund zwei Millionen Juden aus Rußland in die Vereinigten Staaten. Andere Kolonien ehemaliger osteuropäischer Juden entstanden in Kanada, Südamerika (insbesondere Argentinien) sowie in Palästina.

Die Juden in der westlichen Hemisphäre

Die jüdische Emigration in die westliche Welt begann direkt nach Gründung der ersten amerikanischen Kolonien. Zahlreiche Sefarden spanischer oder portugiesischer Abstammung ließen sich zunächst in Brasilien nieder, doch war nur Marranen der Aufenthalt erlaubt, und die Verfolgung durch die Inquisition führte dazu, daß die Juden das Land wieder verließen. 1654 gründeten die ersten brasilianischen Marranen eine Gemeinde in der niederländischen Kolonie Neuamsterdam (heute New York City), wo sie sich offen zu ihrem Glauben bekennen konnten. Zur Zeit der Amerikanischen Unabhängigkeitskriege, um 1780, belief sich die Zahl der in den Vereinigten Staaten lebenden Juden auf schätzungsweise 2 000. Die Immigranten des 19. Jahrhunderts kamen zum größten Teil aus Deutschland, nach 1815 als Konsequenz der antijüdischen Stimmung, die auf das Ende der Napoleonischen Ara folgte, und nach den Revolutionen von 1848 einsetzte. Um 1880 gab es in den USA annähernd 250 000 Juden. Während der nächsten vierzig Jahre reisten nochmals drei Millionen Juden ein, vor allem aus Osteuropa. Der große Strom versiegte erst 1924 mit der Einführung der Einwanderungsbeschränkungen.

Das Leben in Europa


Die Gleichstellung der Juden hatte religiöse, kulturelle und politische Auswirkungen. Allmählich nahmen die Juden den ihnen zustehenden Platz in der modernen Welt ein, und die Mauer, die das orthodoxe Judentum als Schutz gegen äußere Einflüsse oder Bedrohungen errichtet hatte, geriet ins Wanken. Einen besonders starken Einfluß übte Moses Mendelssohn aus, der die Grundsätze des Judentums, sowohl im religiösen als auch im profanen Bereich, bekannt machte. Er übersetzte den Pentateuch ins Deutsche und wies auf die Bedeutung der kulturellen Verbindungen zwischen den Juden und ihrer andersgläubigen Umwelt hin. Damit öffnete er den Weg für die vielfältigen Beiträge, die Juden fortan innerhalb ihrer eigenen Gemeinschaften und in der übrigen Welt leisten sollten. Das in Deutschland entstandene Reformjudentum berief sich ebenfalls auf die Lehren Mendelssohns. In jener Zeit wandten sich viele jüdische Familien ganz von ihrem Glauben ab und traten zum Christentum über, um ihre Möglichkeiten auf kulturellem und öffentlichem Gebiet zu vergrößern. Zu jener Gruppe gehörte Mendelssohns Enkel, der berühmte Komponist Felix Mendelssohn. Auch einer der größten deutschen Dichter, Heinrich Heine, war jüdischer Abstammung und behielt seine Liebe zum Judentum bei, obgleich er sich zum Christentum bekehrte. Der britische Staatsmann Benjamin Disraeli war ebenfalls ein Sohn konvertierter Juden.

Zu den bedeutenden Juden, die - in allen westeuropäischen Ländern und in den Vereinigten Staaten - auf ihren Gebieten die Welt voranbrachten, zählten Karl Marx, der Urvater des Sozialismus und Kommunismus, und Sigmund Freud, der Begründer der Psychoanalyse. In Frankreich und Deutschland verfaßten Henri Bergson sowie Hermann Cohen und Martin Buber bedeutende philosophische Werke. Jüdische Maler wie Amedeo Modigliani aus Italien, Camille Pissarro (von portugiesisch-französischer Herkunft) und der in Rußland geborene Marc Chagall sowie die Bildhauer Jakob Epstein aus den USA und Jacques Lipchitz aus Litauen erwarben sich ein internationales Renommee. Albert Einsteins Relativitätslehre revolutionierte die Theorie der Physik und Mathematik. Die jüdische Gemeinde selbst erlebte im 19. Jahrhundert eine kulturelle Renaissance. Die Haskala ("Erleuchtung") begann in Osteuropa. Die Juden schrieben verstärkt Texte in hebräischer Sprache und studierten die Lehren von Darwin oder Thomas Huxley. Gedichte, Romane und Geschichtsbücher entstanden, und das Hebräische entwickelte sich allmählich wieder zur lebenden Sprache. Das osteuropäische Jiddisch erfuhr eine Aufwertung, nachdem Autoren wie Mendele Moscher Setorim, Schalom Aleichem, Juda Leb Peretz und Schalom Asch es in ihren Werken verwendet hatten. Die spezifisch jüdische Kulturerneuerung der Haskala weckte durch die intensive Beschäftigung mit dem jüdischen Erbe neue Hoffnungen auf eine Heimkehr nach Palästina.

Der Antisemitismus

Die weltpolitischen Ereignisse des ausgehenden 19. Jahrhunderts gaben den durch die Haskala ausgelösten Erwartungen neue Nahrung. In Deutschland und Frankreich fand die antijüdische Gesinnung erneut Anhänger. Der Antisemitismus lehnte jedoch nicht in erster Linie die Religion, sondern die angeblichen Rassenmerkmale der zu den Semitenvölkern gehörenden Juden ab. In Deutschland, Frankreich, Österreich und Ungarn schlossen sich politische Gruppen zusammen, um die Juden von hochrangigen Positionen auszuschließen. In Frankreich erreichte der Antisemitismus mit der Dreyfus-Affäre ihren vorläufigen Höhepunkt. Diese begann mit der auf falschen Zeugnissen beruhenden Verurteilung des jüdischen Offiziers Alfred Dreyfus. Einer der Beobachter des Verfahrens, der österreichische Schriftsteller Theodor Herzl, gelangte zu der Überzeugung, daß nur ein jüdischer Nationalstaat das Problem des Antisemitismus dauerhaft lösen könne. 1896 begründete Herzl den Zionismus, eine politische und soziale Bewegung, die das Ziel hatte, einen eigenen jüdischen Staates zu schaffen.

Während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und besonders in den Zwischenkriegsjahren nahm der Antisemitismus in der europäischen Politik, vor allem in Deutschland, stark zu. Der Nationalsozialismus, der in den zwanziger und dreißiger Jahren aufkam, war antisemitisch und richtete sich gegen alle Juden, auch jene, die sich selbst nicht mehr als Juden betrachteten, sondern sich als assimilierte Mitglieder verschiedener nationaler Gruppen fühlten. Die Nationalsozialisten ermordeten in den zwölf Jahren ihrer Herrschaft rund sechs Millionen Juden. Die meisten von ihnen kamen in Konzentrationslagern in Deutschland oder in von Deutschen besetzten Gebieten ums Leben. Die Zeit der Verfolgung und systematischen Vernichtung europäischer Juden ging unter dem Namen Holocaust in die Geschichte ein.[1]

Judentum, Religion des Volkes Israel sowie Bezeichnung der religiösen und ethnischen Gruppen, die zu diesem Volk gehören. Das Judentum, aus dem Christentum und Islam hervorgingen, ist die älteste monotheistische Religion.

Der Begriff kam nach dem Babylonischen Exil als jüdische Selbstbezeichnung auf, nachdem sich bis zu diesem Zeitpunkt das Volk Israel selbst Israeliten genannt hatte. Im Althebräischen existierten die Begriffe "Judentum" und "Religion" nicht. Die Juden sprachen von der Thora, dem von Gott offenbarten Gesetz Israels. Dieses enthält sowohl Weisungen, die sich auf den jüdischen Glauben beziehen, als auch solche, die den Lebenswandel (Halacha) betreffen und Verhaltensregeln in bezug auf jüdische Gesetze, Moral und praktisches Verhalten bieten. In seiner ursprünglichen historischen Form (und in den orthodoxen Ausprägungen der heutigen Zeit) stellte das Judentum ein einheitliches Kultursystem dar, das die gesamte individuelle und kollektive Existenz umfaßte. Alle wesentlichen Bestandteile unterlagen dabei der Heiligung. Da die meisten Juden seit dem 7. Jahrhundert inmitten christlicher oder islamischer Kulturen lebten, flossen im Lauf der Geschichte Elemente dieser beiden Religionen ins Judentum ein.

Obgleich die Wurzeln des Judentums im Mittleren Osten liegen, gab es im Lauf seiner Geschichte in fast allen Teilen der Welt jüdische Gemeinden, die aufgrund freiwilliger oder erzwungener Migrationen von Juden entstanden. 1993 belief sich die Gesamtzahl der jüdischen Weltbevölkerung auf rund 18 Millionen Menschen, von denen etwa 6,8 Millionen in den USA leben, über 3,6 Millionen in Israel und fast zwei Millionen in der GUS, den größten jüdischen Siedlungszentren. Annähernd 1,5 Millionen Juden verteilen sich über ganz Europa, die meisten davon in Frankreich und Großbritannien, etwa 28 000 leben in der Bundesrepublik Deutschland, weitere 300 000 im verbleibenden Teil Nordamerikas und 600 000 in den übrigen asiatischen Ländern. Ungefähr 1,1 Millionen Juden wohnen in Mittel- und Südamerika, 350 000 in Afrika.

Grundlegende Lehren und Schriften

Bedeutendster Grundzug des Judentums ist sein unbedingter Monotheismus. Zu allen Zeiten gingen die Juden davon aus, daß ein einziger transzendenter Gott die Welt erschaffen hat und ihre Geschicke lenkt. Mit dem Monotheismus verbindet sich die teleologische Vorstellung, daß die eine göttliche Intelligenz die Welt verstehbar und auf ein Ziel hin geschaffen hat. Jeder menschlichen Erfahrung und jedem Ereignis wohnt eine Bedeutung inne. Traditionsbewußte Juden erkennen Gottes Geist sowohl in der natürlichen Ordnung, wie sie in der Schöpfung zum Ausdruck kommt, als auch im geschichtlichen Prozeß, in dem Gott sich selbst offenbart. So zeigte sich derselbe Gott, der die Welt geschaffen hatte, den Israeliten am Berge Sinai. Außerungen seines Willens, den er seinem Volk Israel kundtut, finden sich in der Thora, der "Weisung", die Gebote (Mizvot) enthält, welche den Umgang der Menschen untereinander und ihr Verhältnis zu Gott regeln.

Der Bund

Die Juden gehen davon aus, daß zwischen Gott und dem Volk Israel ein Bund (Berit), eine Art vertragliche Übereinkunft, bestehe. Der Tradition zufolge trat Gott auf dem Berge Sinai in eine besondere Beziehung zu den Israeliten. Diese betrachten Gott als ihren alleinigen, obersten König und Gesetzgeber, dessen Regeln sie gehorchen, während Gott seinerseits Israel als sein auserwähltes Volk ansieht. Sowohl die Autoren der Bibel als auch spätere jüdische Traditionen stellten diesen Bund in einen universellen Zusammenhang. Danach repräsentierte das in Israel institutionalisierte Priesterkönigtum die mit den göttlichen Gesetzen übereinstimmende ideale soziale Ordnung, die als Modell für die gesamte Menschheit dienen könnte. Damit käme Israel im Verhältnis zwischen Gott und den Menschen eine Mittlerfunktion zu.

Der Gedanke des Bundes bestimmt zugleich die traditionelle Perspektive des Judentums in bezug auf Natur und Geschichte. Da Israels Wohlergehen von der Einhaltung der Gebote abhängt, resultieren sowohl Naturereignisse als auch historische Begebenheiten, die Israel unmittelbar betreffen, aus seinem eigenen Verhalten. Handeln und Schicksal stehen also in einem direkten kausalen Zusammenhang. Damit verschärft sich das Theodizeeproblem, die Frage nach dem Sinn des Leides, die untrennbar mit der Geschichte des jüdischen Volkes verbunden ist. So befaßt sich u. a. das Buch Hiob mit der Frage, wie man angesichts von Ungerechtigkeit von einem gerechten und gütigen Gott sprechen kann. Zu Zeiten versuchten die Theologen eine Lösung herbeizuführen, indem sie auf das göttliche Gericht verwiesen, das nach dem Tod Wohlverhalten belohnt, Sünden bestraft und auf diese Weise die im Leben erlittene Ungerechtigkeit ausgleicht. Auch das Joch der Fremdherrschaft und des Exils fern vom Gelobten Land würden am Ende der Zeiten gesühnt. Sichtbares Zeichen hierfür wäre die Ankunft des Messias (mashiah: der Gesalbte), ein Sohn aus dem Hause König Davids, der von Gott ausgesandt wurde, um das Volk Israel zu erretten und ihm sein Land zurückzugeben. Der Messianismus, die Erwartung der Ankunft eines Heilbringers, die jeweils in Phasen äußerer Bedrängnis neue Nahrung erhielt, gehört seit frühester Zeit unmittelbar zur jüdischen Vorstellungswelt. Sie wurde in Krisenzeiten von einigen Gruppen, wie Pharisäern und Schriftgelehrten, mit der Überzeugung verbunden, der einzelne Jude könnte das Nahen des Erlösers beschleunigen, indem er die Schrift genau studiere und die göttlichen Gebote strikt einhalte.

Die rabbinische Tradition


Alle Traditionen des Judentums wurzeln in der Bibel. Diese trägt auch den Namen Tanchach, ein Akronym (Kunstwort, das aus den Anfangsbuchstaben mehrerer Wörter gebildet wird) für ihre drei Bestandteile: Thora (die fünf Bücher Mose), Nebiim (die prophetischen Schriften) und Ketubim (weitere Texte). Es wäre jedoch verfehlt, das Judentum ausschließlich als eine "Religion des Alten Testaments" zu betrachten. In seiner heutigen Form geht es letztlich auf die rabbinische Bewegung im Palästina und Babylon der ersten Jahrhunderte christlicher Zeitrechnung zurück, weshalb man es auch als rabbinisches Judentum bezeichnet. Das Wort rabbi kommt aus der aramäischen und hebräischen Sprache und bedeutet "mein Lehrer". So wurden die jüdischen Schriftgelehrten bezeichnet, die sich auch mit der Tradition auskannten. Sie behaupteten, Gott habe Moses auf dem Berg Sinai nicht nur die beschriebenen Gesetzestafeln, sondern überdies eine mündliche Thora gegeben, die in Form einer ununterbrochenen Kette von Meister zu Schüler überliefert worden sei und nun von den Rabbis bewahrt werde. Eine Zusammenfassung der mündlichen Tora bietet nach ihrer Meinung die Mischna ("durch Wiederholung lehren und lernen"), das früheste rabbinische Dokument, das Ende des 3. Jahrhunderts in Palästina entstand. Der im 6. Jahrhundert verfaßte siehe Talmud ("Lernen, Lehre"), auf den sich das rabbinische Judentum gründet, umfaßt die Mischna sowie die ergänzenden Auslegungen der Gemara (aramäisches Wort gleicher Bedeutung), auf die sich zwei Schulen in Babylonien und Palästina konzentrierten.

Die frühen rabbinischen Schriften schließen auch exegetische und homiletische Kommentare zur Bibel (siehe Midrasch) sowie einige aramäische Übersetzungen des Pentateuch und weitere Bücher zur Schrift (siehe Targum) ein. Mittelalterliche rabbinische Werke beeinhalten Kodifizierungen des Talmud. Höchste Autorität genießt in diesem Zusammenhang das im 16. Jahrhundert veröffentlichte Kompendium Sulhan Aruk (Gedeckter Tisch) von Joseph ben Ephraim Karo. Das Studium der Thora umfaßt nicht nur den Pentateuch, sondern die gesamte rabbinische Literatur.

Gottesdienst und Kult



Gläubige Juden verstehen das gesamte Leben als Dienst an Gott. Der Spruch "Ich habe den Herrn allezeit vor Augen" (Altes Testament, Psalm 16, 8), der auf der Vorderwand zahlreicher Synagogen steht, kennzeichnet die traditionelle jüdische Frömmigkeit.

Gebete und Riten

Orthodoxe Juden beten dreimal am Tag: am Morgen (schaharit), am Nachmittag (minha) und am Abend (maarib). Zu diesen Zeiten brachte man früher Opfergaben im Tempel von Jerusalem dar, so daß das Gebet in gewissem Sinne den Tempeldienst nach der Zerstörung des Gotteshauses fortsetzt.

Als einzig festes Element enthalten alle jüdischen Gottesdienste eine Reihe von Benediktionen, im Stehen verrichtete, hymnische Gebete. Dazu gehören die Tepilla (Gebet) oder Amida (stehend), auch Schemone Esre (Achtzehngebet) genannt. An Wochentagen besteht dieses heute aus 19 Benediktionen, die 13 Bitten um Wohlergehen und messianische Erfüllung umfassen. Am Sabbat und an Festtagen werden die Bitten durch dem Anlaß entsprechende Gebete ersetzt, die täglichen Bitten. Zu den Morgen- und Abendgebeten gehört überdies die Shema. Jeder Gottesdienst schließt mit zwei messianischen Gebeten, dem Alenu sowie der Kaddisch, einer aramäischen Doxologie. Als Zeichen seiner Ergebenheit trägt der erwachsene männliche Vorbeter während des Morgengebets einen Gebetsmantel (tallit) mit Quasten (sisit) sowie das Tefillin, an einem Ledergehäuse befestigte Gebetsriemen. Beide leiten sich aus Passagen der Schrift ab. Am Türpfosten eines Hauses erinnern die amulettartigen Mezuza an Gottes Allgegenwart. Als Zeichen des Respekts vor Gott bedecken die Juden ihren Kopf während des Gebets mit einem Hut oder einem Gebetskäppchen (kippa; jiddisch: yarmulke). Fromme Juden halten ihren Kopf sogar ständig bedeckt, um auf Gottes stetige Präsenz zu verweisen.

Thora


Das Studium der Thora, in der sich nach jüdischer Auffassung der Wille Gottes offenbart, zählt im rabbinischen Judentum ebenfalls zum Dienst an Gott. Während des täglichen Morgengebets rezitieren die Gläubigen Stellen aus der Heiligen Schrift und dem Talmud. Am Montag- und Donnerstagmorgen erfolgt das Entnehmen der Thora (der fünf Bücher Mose) aus dem Schrein am Kopf der Synagoge im Rahmen einer feierlichen Prozession vor dem Gottesdienst. Die wichtigsten liturgischen Lesungen der Thora finden am Sabbat und an Festtagen statt. Im Verlauf eines Jahres wird der gesamte Pentateuch am Sabbat rezitiert. Der Zyklus beginnt im Herbst am Ende des Laubhüttenfestes. Die einzelnen Lesungen beinhalten die für den jeweiligen Tag vorgesehenen Themen und Gebete, die am Sabbat und an Feiertagen durch Rezitationen aus den Prophetenbüchern ergänzt werden. Das öffentliche Rezitieren der Schrift macht einen Großteil des Gottesdienstes aus und stellte ursprünglich wohl auch die eigentliche Aufgabe der Synagoge dar.

Benediktionen

Über die üblichen Gebete hinaus rezitieren gläubige Juden im Verlauf des Tages eine Vielzahl von Benediktionen. Nach jüdischer Auffassung gehört die Erde Gott, und die Menschen verwalten sie nur als Bauern oder Gärtner. Ehe sie ihre Früchte ernten, danken sie Gott, den sie als ihren eigentlichen Besitzer ansehen.

Speisegebote

Die jüdischen Speisegebote gehen auf den Tempelkult zurück. Der häusliche Eßtisch wird analog zum Altar des Herrn aufgebaut. Bestimmte Tiere gelten als unrein und dürfen daher nicht gegessen werden (Altes Testament, Deuteronomium 14, 3-21). Hierzu zählen Schweine und Fische ohne Flossen oder Schuppen. Erlaubt (koscher) ist das Fleisch von Tieren mit gespaltenen Hufen, die ihr Futter wiederkäuen, jedoch nur, wenn der Schlachter strenge Regeln beachtet und das gesamte Blut vor dem Verzehr vollständig entfernt hat. Fleisch und Milchprodukte dürfen nicht zusammen verzehrt werden.

Der Sabbat

Der liturgische Kalender der Juden richtet seine Zeiteinteilung nach den Vorschriften der Thora und den Traditionen des Tempelkultes. Am siebten Tag, dem Sabbat, soll die Arbeit ruhen. An diesem Tag erweisen die Juden ihrem Schöpfer die Ehre. Sie verbringen den Sabbat mit Gebeten, Bibelstudien, Erholung und beim gemeinsamen Mahl im Familienkreis. Wie an Festtagen gibt es auch am Sabbat einen zusätzlichen (musaf) Gottesdienst in der Synagoge, der mit einer Opferhandlung in Verbindung steht, die früher im Tempel ausgeführt wurde.

Feste

Das jüdische Jahr umfaßt fünf große und zwei kleine Feste. Drei der Hauptfeiern wurzeln in der bäuerlichen Kultur und folgen dem Rhythmus der Jahreszeiten. Passah, das Frühlingsfest, markiert den Beginn der Gerstenernte, die 50 Tage später mit dem Wochenfest (Fest der Schnitternte) endete. Durch das Lesefest wird die Herbsternte gefeiert, der eine zehntägige Phase der allgemeinen Reinigung vorausgeht. Passah erinnert an den Exodus aus Agypten, Shawuot an die Übergabe der Gesetzestafeln auf dem Berge Sinai, weshalb zu diesem Anlaß die feierliche Verlesung der Zehn Gebote in der Synagoge gehört. Die zehn Tage währende Bußzeit vor dem Herbstfest beginnt mit Rosh Haschana, der Neujahrsfeier, und endet mit Jom Kippur, dem Versöhnungstag. Nach alter Tradition wird die Welt an jedem Neujahrstag gerichtet und der Bund am Versöhnungstag von neuem besiegelt. Am Neujahrstag ruft ein Widderhorn (schofar) das Volk zur Buße auf. Der Versöhnungstag, der heiligste Tag des jüdischen Kalenders, dient dem Fasten, dem Gebet und der Beichte. Seine Liturgie beginnt mit dem Klagegesang des Kol Nidre und schließt eine Erinnerung an den Ritus dieses Tages (avoda) im Tempel ein.

Die beiden kleineren Feste, Chanukka und Purim, entstanden später als die fünf vom Pentateuch vorgeschriebenen Feiern. Chanukka, das Tempelweihfest, feiert den Aufstand der Makkabäer gegen den syrischen König Antiochus IV. 165 v. Chr. und die anschließende Weihe des zweiten Tempels. An Purim (Losfest) wird die Befreiung der persischen Juden durch Esther und Mordekai gefeiert. Auf dem Höhepunkt dieses Festes, das einen Monat vor Passah stattfindet, wird die betreffende Schriftrolle (megilla) in der Synagoge verlesen. Vier Fastentage, die Ereignisse im Rahmen der Belagerung und Zerstörung der beiden Tempel in den Jahren 586 v. Chr. und 70 n. Chr. wachrufen, vervollständigen das liturgische Jahr. Der wichtigste trägt den Namen Tishah b'Ab und erinnert an die zweimalige Zerstörung des Tempels.

Besondere Gelegenheiten

Im Alter von acht Tagen werden jüdische Knaben durch den Ritus der Beschneidung (berit mila) offiziell in den Bund Abrahams aufgenommen. Mit 13 Jahren erreichen sie die Volljährigkeit und übernehmen von da an selbst die Verantwortung für die Beachtung aller Gebote (Bar-Mizwa). Auch dürfen sie dann zum ersten Mal in der Synagoge aus der Thora vorlesen. Mädchen sind mit zwölf volljährig und feiern dies in modernen, liberalen Synagogen mit dem gleichen Ritus wie die Jungen. Im 19. Jahrhundert führte die Reformbewegung die Konfirmation für junge Männer und Frauen ein. Sie findet während des Wochenfestes statt und beinhaltet ein Bekenntnis zu dem am Berge Sinai geoffenbarten Glauben. Den nächsten Wendepunkt im Leben eines gläubigen Juden stellt die Hochzeit (kidduschin: Heiligung) dar. Die sieben Vermählungsbenediktionen schließen Bittgebete für den Wiederaufbau von Jerusalem und die Rückkehr des jüdischen Volkes nach Zion ein. Desgleichen bettet der jüdische Bestattungsritus die Hoffnung auf die Auferstehung des Toten in ein Gebet für die Erlösung des gesamten Volkes ein. Fromme Juden lassen sich in ihrem tallit (Gebetsmantel) begraben.

Geschichte

Biblisches und archäologisches Quellenmaterial liefern die frühesten Informationen zur Geschichte des Judentums (siehe Bibel; Juden). Zunächst war Israel nicht mono-, sondern henotheistisch, d. h., die Israeliten beteten selbst zwar nur einen Gott an, schlossen jedoch die Existenz weiterer Götter bei anderen Völkern nicht aus.

In der Zeit vor dem Babylonischen Exil bestand Israel zunächst als Verbund von Stämmen und später als Königreich. Die Befreiung von der ägyptischen Sklaverei sowie die Eroberung und Besiedlung Kanaans (des Landes Israel) wurden als Gründungsereignis gefeiert. Die Gläubigen huldigten Jahwe, dem Gott der Patriarchen, der die Israeliten aus der Knechtschaft ins Gelobte Land geführt hatte. Der Kult orientierte sich an den geographischen und klimatischen Gegebenheiten und an den jahreszeitlich bedingten Tätigkeiten der Agrargesellschaft. Die Menschen glaubten, daß Jahwe den Regen und eine reiche Ernte sende und verstanden Hungersnöte und Seuchen als Strafen für das Sünden des Volkes Israel. Der Lebensunterhalt hing demnach von Gott ab, dem die Israeliten opferten, um ihre Dankbarkeit zu bekunden und ihn versöhnlich zu stimmen. Der Kult konzentrierte sich auf das königliche Heiligtum in Jerusalem, zu dem später die nördlichen Tempel in Bethel und Dan hinzukamen. In dieser Zeit traten die Propheten auf, die soziale Ungerechtigkeit sowie synkretistische Praktiken sowohl an den nördlichen (israelitischen) als auch den südlichen (judäischen) Heiligtümer kritisierten. Sie lehnten nicht den Opferkult an sich ab, sondern griffen das selbstgefällige Vertrauen auf seine Wirkung an, das die Moral der Eigenverantwortung untergrabe. Als fremde Eroberer zuerst das nördliche und dann das südliche Königreich zerstörten, schienen sich ihre Warnungen zu bewahrheiten.

Das Babylonische Exil

Das Babylonische Exil der Judäer, das 586 v. Chr. begann, markiert einen Wendpunkt in der Religion der Israeliten. Die gesamte vorangegangene Geschichte Israels erfuhr im Licht der Ereignisse von 586 eine Neuinterpretation, die die Basis für den traditionellen biblischen Pentateuch, die prophetischen und die geschichtlichen Bücher, schuf. Die Propheten Ezechiel und Deuterojesaja vertraten die Auffassung, daß Jahwe die Israeliten mit dem Babylonischen Exil für ihre Sünden strafen wollte und sie aus der Gefangenschaft befreien werde, falls sie Reue zeigten. Zu dieser Zeit entstand der Monotheismus, der den Gott Israels zum Herrscher über die gesamte Weltgeschichte und das Schicksal aller Völker erklärte. Als Kyros der Große 539 v. Chr. Babylon einnahm und die Heimkehr der unterjochten Stämme sowie den Wiederaufbau örtlicher Tempel gestattete, schien sich die messianische Hoffnung der im Exil lebenden Israeliten auf ein erneuertes judäisches Königreich unter der Führung eines Nachkommen aus dem Hause König Davids zu erfüllen. Die Perser ließen jedoch die Wiedereinrichtung der Monarchie nicht zu, sondern erlaubten lediglich einen Tempelstaat mit dem Hohenpriester als Oberhaupt.

Die makkabäische und die römische Epoche

Mit den Eroberungszügen Alexanders des Großen 331 v. Chr. gewann die griechische Kultur an Boden und begann die angestammten Religionen zurückzudrängen. Der Kampf der Makkabäer in der Zeit zwischen 165 und 142 v. Chr. begann als Bürgerkrieg, der mit der Unabhängigkeit Judäas von Syrien endete. Die politischen und kulturellen Umwälzungen wirkten sich auch auf die Religion aus. Die frühesten Apokalyptischen Schriften stammen aus jener Epoche und deuteten die Kriege der damaligen Zeit als Teil eines kosmischen Konflikts zwischen guten und bösen Kräften, die mit dem Sieg der Heerscharen Gottes enden würden. Erstmals verhießen Texte den rechtgläubigen Juden die leibliche Auferstehung zur Zeit des Jüngsten Gerichts. Zuvor hatte es nur die Vorstellung von einem Weiterleben des einzelnen in seinen Nachfahren und im Schattenreich des Sheol gegeben.

Der Sieg der Makkabäer leitete eine achtzigjährige Phase der politischen Eigenständigkeit Judäas ein, löste jedoch nicht die religiösen Konflikte. Mitglieder der Hasmonäer, jener Priesterfamilie, die die Revolte angeführt hatte, ernannten sich selbst zu Erbkönigen und Hohenpriestern, obgleich sie nicht aus der alten Priesterkaste stammten. Dies löste den Widerstand verschiedener religiöser Gruppen aus, u. a. der Gemeinschaft von Qumran, die die Forschung vor allem durch die spektakulären Funde der Qumran-Rollen kennt. Die Gemeinschaft, die von abgespaltenen Priestern geführt wurde, vertrat die Auffassung, daß die Hasmonäer den Tempel in Jerusalem entweiht hätten, und betrachtete sich selbst als gereinigten Tempel.

Vermutlich ist die Gemeinschaft von Qumran identisch mit den Essenern, die bei dem jüdischen Historiker Flavius Josephus und anderen antiken Autoren erwähnt werden. Josephus beschreibt auch zwei weitere Gruppen, die Sadduzäer und die Pharisäer, über die jedoch kein authentisches Quellenmaterial vorliegt. Wie die Qumrangemeinde setzten die Pharisäer ihre eigenen Traditionen in bezug auf die biblischen Gesetze fort, die ihnen die Sadduzäer streitig machten. Die Pharisäer bereiteten den Rabbinismus vor, der nach 70 n. Chr. entstand. Alle religiösen Parteien dieser Periode, besonders aber jene, die sich der Tempelverwaltung widersetzten, beriefen sich auf die Autorität der Heiligen Schrift, die sie mit jeweils eigenen Interpretationen füllten.

Als die Eroberung Pälästinas durch die Römer Mitte des 1. Jahrhunderts v. Chr. der politischen Unabhängigkeit Judäas ein Ende gesetzt hatte, wuchs die messianisch-apokalyptische Begeisterung und gipfelte in einem Aufstand gegen Rom in den Jahren 66 bis 70.

Entwicklung des rabbinischen Judentums


Die Zerstörung des zweiten Tempels durch die Römer im Jahr 70 und die Unterdrückung der von Simon Bar Kochba geführten messianischen Revolte (132-135) bedeutete für das Judentum eine Katastrophe. Sie bereitete der Herrschaft der Priester ein Ende und führte zur Entstehung des Rabbinismus. Da das jüdische Volk die Kontrolle über sein politisches Schicksal verloren hatte, betonten die Rabbiner die Bedeutung der Gemeinschaft und der spirituellen Zusammengehörigkeit. Sie lehrten, daß jeder einzelne Jude seine Errettung durch ein Leben nach den Gesetzen der Thora, durch Bibelstudium, Gebet und Einhaltung der traditionellen Gebote erwirken könne, während das gesamte Volk Israel noch auf die messianische Erlösung durch Gott selbst warte. Einige Rabbiner glaubten, der Messias werde kommen, sobald alle Juden sich an die Thora hielten. Allmählich nahmen die Synagogen, die bereits vor 70 n. Chr. existiert hatten, und die Rabbinerschulen den Platz des zerstörten Tempels ein.

Das Judentum im Mittelalter

Die Rabbinisierung des gesamten Judentums, die wachsenden Diasporagemeinden in Europa und im übrigen Mittelmeerraum eingeschlossen, vollzog sich nur sehr langsam, da es sich mit der scharfen Opposition der Karaiten und anderer antirabbinisch gesinnter Bewegungen auseinandersetzen mußte. Der Eroberungszug, den die muslimischen Araber im 7. Jahrhundert im Mittleren Osten führten, erleichterte jedoch die Verbreitung eines einheitlichen rabbinischen Judentums. In der Nähe des abbassidischen Kalifatssitzes in Bagdad versuchten die Führer der babylonischen Rabbinerschulen (Geonen, Plural von gaon: Vorzüglichkeit), die jüdischen Gesetze, Bräuche und liturgischen Elemente in Übereinstimmung mit ihren eigenen Praktiken zu standardisieren. Auf diese Weise ging die höchste Autorität von Palästina auf Babylon über, und der dortige Talmud entwickelte sich zum maßgeblichen rabbinischen Kanon.

Die kulturelle Hegemonie des Islam bewirkte, daß sich das rabbinische Judentum die griechische Philosophie über die Kommentare muslimischer Autoren erschloß. Die rabbinischen Intellektuellen sahen im antiken Denken eine Möglichkeit, ihre Religion gegen die Angriffe islamischer Theologen zu verteidigen und zugleich ihren Glaubensbrüdern zu demonstrieren, daß sich die Offenbarungen Gottes und die jüdischen Gesetze mit der Vernunft vereinbaren ließen. Die mittelalterliche jüdische Philosophie befaßt sich daher zumeist mit den Eigenschaften Gottes, mit Wundern, Prophezeiungen (Offenbarungen) und den Geboten. Der babylonische Geone Saadja ben Joseph verfaßte im 9. Jahrhundert die bedeutendste philosophische Interpretation des Judentums, im 12. Jahrhundert gefolgt von Judah Ha-Levi und Moses ben Maimon (Maimonides). Auch die Fortschritte der systematischen Logik beeinflußten die rabbinische Rechtslehre in der muslimischen Welt und kamen in zahlreichen nachtalmudischen Kodizes, nicht zuletzt in der berühmten Mischne Thora von Maimonides, zum Ausdruck.

Das mittelalterliche Judentum entwickelte sich in zwei unterschiedlichen Kulturen, der sefardischen, die sich auf das maurische Spanien konzentrierte, und der aschkenasischen, die im Heiligen Römischen Reich blühte (siehe Aschkenasim). Sowohl die Philosophie als auch die Gesetzessammlungen beider Bereiche widersprachen sich, zumal die Aschkenasim das genaue Studium des babylonischen Talmud für unabdingbar hielten. Im 11. Jahrhundert begründete Salomo ben Isaak (Raschi) von Troyes die große rheinländische Talmudschule und begann, Kommentare zum Talmud zu schreiben. Seine Enkel und Schüler, die Tosaphisten, setzten diese Tradition fort und verfaßten die Werke des Tosaphoth (der "Ergänzungen" zu Raschis Talmudkommentaren).

Im Lauf des Mittelalters wurde das Judentum immer wieder von mystischen und ethisch-pietistischen Bewegungen erneuert. Die höchste Bedeutung erlangten der "askenasische Chassidismus", eine pietistische Strömung des 12. Jahrhunderts, und die Kabbala, eine spanische Ausprägung des 13. Jahrhunderts. Letztere brachte u. a. das einflußreiche Werk Sefer Ha-zohar (Buch des Glanzes) von Moses de León hervor.

Die Kabbala, eine esoterische theosophische Strömung, nahm Elemente der Gnostik und des Neuplatonismus auf. Sie beschrieb die dynamische Natur Gottes und bot eine symbolische Interpretation der Thora und der Gebote. Die Kabbala war ein kleiner elitärer Gelehrtenkreis, der sich nach der Vertreibung der Juden aus dem Spanien der katholischen Könige 1492 zur Volksbewegung entwickelte. Die mythische, messianische Neuauslegung der Kabala, die Isaak Luria von Safed vornahm, trug zusätzlich zu deren Verbreitung bei. Die lurianische Kabbala eröffnete den Verbannten eine kosmische Erklärung für ihr Leid und teilte ihnen die Hauptrolle im universellen Erlösungsdrama zu.

Lurias Gedanken bereiteten den Weg für eine weitere messianische Strömung, die um Sabbatai Zevi entstand und im 17. Jahrhundert das gesamte jüdische Volk ergriff. Sie prägte auch die polnische Erweckungsbewegung des 18. Jahrhunderts, den Chassidismus. Auf der Grundlage der Lehren von Israel Baal Shem Tov lehrte dieser, daß arme, ungebildete Juden durch glühende und stürmische Hingabe Gott besser dienen könnten als die Talmudisten. Die folgende Auseinandersetzung mit dem Rabbinismus wurde schließlich von einer ernsthafteren Bedrohung für beide Gruppen überschattet: Das Zeitalter der Aufklärung und die vielfältigen Modernisierungsbewegungen, die es ins Leben rief, beeinflußten auch das Judentum.

Neuere Tendenzen

Um die Position des jüdischen Volkes in Europa zu festigen, das stets unter einer massiven Feindschaft der Umwelt litt, bemühten die Juden sich in West- wie in Osteuropa, ihren Status neu zu formulieren. Insbesondere in Deutschland verstand sich das Judentum, ähnlich dem Protestantismus, als religiöses Bekenntnis. Die deutsche Reformbewegung gab ihre Hoffnung auf eine Rückkehr nach Zion (in die jüdische Heimat) auf, kürzte den Gottesdienst, hielt Predigten in der Landessprache und verwarf zahlreiche jüdische Gesetze und Sitten als überholt. In vielerlei Hinsicht entsprach die Arbeit des Rabbiners nun der des protestantischen Geistlichen. Frühe jüdische Reformtheologen wie Abraham Geiger oder Samuel Holdheim, die unter dem Einfluß von Immanuel Kant und G. W. F. Hegel standen, legten vor allem Wert auf ethische Fragen und vertrauten auf den menschlichen Fortschritt. Konservative Reformer wie Zacharias Frankel forderten die Beibehaltung der hebräischen Sprache und der wichtigsten Traditionen, während die moderne Orthodoxie unter Führung von Samson R. Hirsch versuchte, das überkommene Judentum mit modernen Inhalten zu verbinden.

In Osteuropa, wo die Juden eine große soziale Gruppe bildeten, trug die Modernisierung des Judentums die Züge eines kulturellen und ethnischen Nationalismus. Wie die übrigen nationalen Bewegungen des Ostens forderten die Juden die Wiedereinführung ihrer Nationalsprache, des Hebräischen. Zeitgleich entstand eine moderne, weltliche Literatur und Kultur. Der Zionismus, der seine theoretische Begründung durch Leo Pinsker in Rußland und Theodor Herzl in Österreich fand und sich die Schaffung einer modernen jüdischen Gesellschaft in Israel zum Ziel gesetzt hatte, fand in Osteuropa starken Rückhalt. Er war eine politische und soziale Bewegung, die jedoch im traditionellen jüdischen Messianismus wurzelte und 1948 zur Gründung des Staates Israel führte.

Judentum in Amerika

Die heutige jüdische Gemeinde Amerikas besteht zum größten Teil aus den Nachfahren mitteleuropäischer Juden, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts emigrierten, aus osteuropäischen Juden, die zwischen 1881 und 1924 einwanderten, sowie aus Flüchtlingen und Überlebenden des Holocaust. Die verschiedenen Strömungen des Judentums in Amerika, die sich zu einer reformorientierten, einer konservativen und einer orthodoxen Richtung zusammenfassen lassen, bildeten sich im Zuge der Anpassung dieser Emigrantengruppen an das Leben in den Vereinigten Staaten und der wechselseitigen Einflüsse, die sie aufeinander ausübten. Das Judentum ist in den USA ähnlich organisiert wie die kongregationalistischen christlichen Kirchen, die ein hohes Maß an Autonomie wahren, obgleich sie formell nationalen Bewegungen angeschlossen sind.

Reformjudentum


Als erste Gruppe bildete sich das reformorientierte Judentum, das anfänglich weitgehend von deutschstämmigen Auswanderern getragen wurde. Es stand u. a. unter dem Einfluß des liberalen amerikanischen Protestantismus, insbesondere der Social-Gospel-Bewegung. Diese Strömung, die einst als Bastion des religösen Rationalismus fungierte, legt seit den vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts größeren Wert auf die jüdische Identität und die damit verbundene traditionelle Kultur. Ihrem Anspruch nach blieb sie jedoch stets liberal und demokratisch gesinnt.

Konservatives Judentum

Die Vertreter dieser Richtung, die in der Volksfrömmigkeit des modernisierungsfreudigen osteuropäischen Judentums wurzeln, betonen die Bedeutung der Gemeinschaft. Sie respektieren die traditionellen jüdischen Gesetze und üben ihren Glauben aus, indem sie zugleich eine flexible Haltung zur Halacha zeigen. Der jüdische Rekonstruktionismus verficht einen religiösen Naturalismus, will aber auch die jüdische Identität und Kultur bewahren.

Orthodoxie

Die amerikanische Orthodoxie entspricht weniger einer Bewegung als einem ganzen Spektrum traditionalistisch gesinnter Gruppen. Die Bandbreite reicht von modernen Orthodoxen, die althergebrachte Strukturen ins moderne Leben einzubinden hoffen, bis zu einigen chassadistischen Gemeinschaften, die weltabgekehrt leben. Die jüdische Orthodoxie wurde insbesondere durch die Einwanderung traditionalistischer und chassidistischer Überlebender des Holocaust gestärkt.

Bedeutung Israels

Von großer Bedeutung für die Geschichte des Judentums ist der Holocaust, der zur Gründung des Staates Israel beitrug. In der Vorstellung vieler Juden verbinden sich Holocaust und Staatsbildung zu zwei aneinander gekoppelten, tiefreligiösen Symbolen, die für Tod und Wiedergeburt stehen. Seit der Gründung des Staates bilden den reformerischen und den konservativen Strömungen zwei verschiedene Pole, wobei orthodoxe Rabbiner eine besondere Stellung in den religiösen Institutionen Israels einnehmen. Darüber hinaus üben religiös-orthodoxe Gruppen durch die Nationalreligiöse Partei Einfluß auf die politischen Entscheidungen aus.[2]

udentum, konservatives, traditionalistische Bewegung der Juden. Während Zacharias Frankel als geistiger Vater des konservativen Judentums gilt, übte Salomon Schechter, der am Jewish Theological Seminary of America tätig war, zu Beginn des 20. Jahrhunderts einen entscheidenden Einfluß auf die Bewegung aus. Konservative Juden, die der Halacha eine zentrale Stellung beimessen, sind jedoch verglichen mit den Befürwortern des orthodoxen Judentums eher bereit, ihre Vorschriften den sich verändernden sozialen und wirtschaftlichen Umständen anzupassen. Dabei betonen sie die Tatsache, daß sich das Judentum in den entscheidendsten Phasen seiner Geschichte, trotz eines regen Austausches mit den umgebenden Kulturen, seinen Grundethos bewahrt habe. Auch erkennen sie die Ergebnisse der modernen Exegese an. Als 1980 eine Mehrheit für die Priesterweihe der Frau stimmte, stellten einige der führenden Rabbiner fest, daß diese Entscheidung die Vorschriften der Halacha verletze, spalteten sich schließlich von der Bewegung ab und bildeten die Vereinigung für traditionelles Judentum.

Bedeutung erlangte das konservative Judentum in Israel und Großbritannien, wo es unter seinem hebräischen Namen "Masorti" bekannt ist. Zwar griff die Bewegung auch auf andere Gebiete über, ihre Anhängerschaft stellt jedoch nur in Nordamerika einen bedeutenden Anteil an den Besuchern der Synagogen (nämlich ungefähr ein Drittel) dar.[3]

Reformjudentum, seit dem 19. Jahrhundert bestehende Erneuerungsbewegung unter den Juden. Im frühen 19. Jahrhundert bemühten sich deutsche Reformer, wie z. B. Israel Jacobson, um eine Neubelebung des öffentlichen Gottesdienstes, indem sie seine Bedeutung erhöhten, veraltete Praktiken abschafften, Gebete und eine wöchentlich stattfindende Predigt in der Landessprache einführten sowie Chor- und Orgelmusik und die Konfirmation ins Programm aufnahmen. Zwar suchten sie sich durch eine Berufung auf die traditionelle Autorität zu rechtfertigen, es wurde jedoch schon bald offenbar, daß sie sich nicht an Normen und Formulierungen des Talmud gebunden sahen. In diesem Sinne schafften sie Gebete zugunsten eines persönlichen Messias ab und führten die kritisch-historische Leseweise jüdischer Texte, einschließlich der Bibel, ein.

Die klassischen Formulierungen der Reformen entstanden innerhalb des amerikanischen Judentums unter der Leitung von Isaac Mayer Wise auf den "öffentlichen Foren" in Philadelphia (1869) und Pittsburg (1885). Auf dem 1937 abgehaltenen Columbus Forum wurde eine größere Ausgewogenheit zwischen den allgemeinen und besonderen Aspekten des Judaismus sowie eine Bejahung des Zionismus erreicht.

Das San Francisco Forum von 1976 behandelte die Auswirkungen des Holocaust und der Existenz des Staates Israel. Das Hebrew Union College ordinierte Sally Priesand als erstes weibliches Mitglied des Rabbinats zum Rabbi (1972). Die Einstellung den Mischehen gegenüber lockerte sich, und im Jahre 1983 wurde von der Central Conference of American Rabbis der Beschluß erlassen, daß jeder, der ein jüdisches Elternteil nachweisen könne, als Jude anerkannt werden solle.

In den Vereinigten Staaten macht der Anteil der reformierten Juden etwa 35 Prozent und in Großbritannien 15 Prozent der jeweiligen Synagogengemeinschaft aus. In Israel ist das reformierte Judentum zwar aktiv, wird jedoch offiziell nicht anerkannt.

Die Begriffe "Liberales" und "Reformiertes" Judentum werden in den meisten Ländern synonym verwendet. Allerdings bezieht sich in Großbritannien der Begriff "Liberal" auf die um 1909 von Lily Montagu und Claude Montefiore gegründete Bewegung, die sich von dem Reformjudentum durch ihre radikal fortschrittlichen Anschauungen bezüglich Tradition und Ritus unterscheidet.[4]

Judentum, orthodoxes, streng religiöse Glaubensrichtung der Juden. Der Begriff "orthodox" wurde zum ersten Mal 1807 von deutschen Reformatoren zur Bezeichnung ihrer traditionalistischen Gegner verwendet. Innerhalb des Judentums bezeichnet er jene Gläubigen, die die Halacha (jüdische Gesetzeslehre) als verbindlich ansehen. In Israel ist sie die einzige offiziell anerkannte Richtung des Judentums und verleiht ihren Gesetzesgelehrten, den Rabbinern, das alleinige Recht der Eheschließung sowie Statusbestimmungen der Juden. Außerhalb Nordamerikas ist die große Mehrheit des Weltjudentums, das einer religiösen Organisation angehört, dem orthodoxen Judentum zuzurechnen.

Die "moderne" oder "zentristische" Orthodoxie (Neo-Orthodoxie), als deren Begründer Samson Raphael Hirsch mit seinen Untersuchungen zu Thora und die Landessitte gelten kann, strebt eine Synthese zwischen Tradition und zeitgenössischer Kultur an. Die litauischen Yeshivot (Talmudschulen), die den Wert eines intensiven Studiums des Talmud betonten, die Musarbewegung Israel Salanters, die der ethischen und geistigen Disziplin jedes einzelnen große Bedeutung beimaßen, die Chassidim, die eine mystische Meditation und eine lebendige Frömmigkeit pflegten sowie die Tradition der Sephardim trugen zur Vielfalt der zeitgenössischen jüdischen Orthodoxie bei.

Obwohl es einige jüdische Organisationen gibt, die das orthodoxe Judentum vertreten wie z. B. das israelische Hauptrabbinat, die Konferenz Europäischer Rabbiner und den Rabbinische Rat von Amerika, existiert kein allumfassendes leitendes Organ. Die Vorschriften der Halacha werden von den einzelnen "Thoraweisen", die für ihre Gelehrsamkeit und Frömmigkeit bekannt sind, ausgelegt. Diese Vorschriften umfassen u. a. rituelle Angelegenheiten, Fragen zur Erhaltung des Friedens sowie der medizinischen Ethik, der Bürgerrechte und des gesellschaftlichen Status der Frau. Nach orthodoxer Auffassung legen die Weisen die Thora im Geiste der jeweiligen Generation aus. Das Gesetz gilt als von Gott geschaffen und ewig gültig.[5]

Jüdische Kunst und Architektur Kunstgegenstände und Architektur, die im Dienste des jüdischen Glaubens stehen oder in Verbindung mit den kulturellen Traditionen des Judentums entstanden sind. Von der althäbräischen Kunst Palästinas bis heute wird jüdische Kunst und Architektur unter gläubigen Juden auf der ganzen Welt gepflegt.

Antikes Palästina

Jüdische religiöse Bauten, Keramik und Siegel aus biblischer und römischer Zeit, weisen Ahnlichkeiten mit der Kunst Phöniziens, Babyloniens und Assyriens auf (siehe Mesopotamische Kunst und Architektur). Das wichtigste Ereignis in der Geschichte der frühen jüdischen Architektur war die Errichtung des Salomotempels im 10. Jahrhundert v. Chr. durch den Phönizier Hiram von Tyrus. Von diesem Bauwerk sind heute keine Spuren mehr erhalten. Zu den archäologischen Funden aus dieser Zeit zählen aber öffentliche Gebäude in Megiddo und der Palast von Ahab (9. Jahrhundert v. Chr.) in Samaria.

Während der römischen Zeit, unter der Herrschaft Herodes des Großen, wurden in Palästina zahlreiche Gebäude im römischen Stil erbaut. Das bedeutendste Bauwerk war der Tempel des Herodes in Jerusalem (1. Jahrhundert v. Chr.). Die berühmte Westmauer des Tempels, auch Klagemauer genannt, ist ein Teil der ursprünglichen Außenmauer. Das Amphitheater in Caeserea und die Feste Masada stammen ebenfalls aus dieser Zeit. Viele Synagogen entstanden in Palästina, aber auch an anderen Orten, besonders nach der Zerstörung des Herodestempels 70 n. Chr. und der Zerstreuung der Juden durch die römischen Eroberer. Die Synagogen wurden nach dem Vorbild der römischen Basiliken erbaut. Viele Merkmale, wie der Altarraum für die Aufbewahrung der Thorarollen am Kopfende und getrennte Bereiche für Männer und Frauen, finden sich in den frühen christlichen Kirchen wieder und sind noch heute in der Ostkirche üblich. Die Synagogen waren mit in Stein gehauenen Kapitellen und Friesen geschmückt. Die Synagoge von Dura-Europos (1. Jahrhundert n. Chr.) in Syrien ist mit Wandmalerei im hellenistisch-persischen Stil (siehe Griechische Kunst und Architektur), welche alttestamentliche Szenen darstellen, ausgestaltet. Viele Synagogen waren mit wunderschönen Mosaiken im römischen und byzantinischen Stil ausgelegt, so die Synagoge von Betalpha in Galiläa (6. Jahrhundert) und die Synagoge des antiken Sardis (heute in der Türkei).

Die Juden begruben ihre Toten in geschnitzten Sarkophagen, die denen der Römer glichen, und setzten sie in Grabkammern oder Katakomben bei. Ein bekanntes Beispiel ist die riesige Grabstätte Bet She'Arim (1.-4. Jh. n. Chr.) in Israel. Die Wände der Grabkammern waren manchmal mit religiösen Symbolen wie der Menora (siebenarmiger Leuchter) bemalt oder behauen.

Mittelalter und Neuzeit

Im Mittelalter und in der Renaissance bauten die Juden in Europa, Nordafrika und im Nahen Osten Synagogen und Schulen im ortsgebundenen Stil. Zwei der wenigen noch erhaltenen frühen Bauten sind die zweischiffige gotische Synagoge Altneuschule in Prag (Tschechien), die älteste bis jetzt benutzte Synagoge überhaupt, und das heutige Sephardische Museum von El Tránsito in Toledo (Spanien), das im Mudéjar-Stil (von muslimischen Künstlern nach dem Ende der arabischen Herrschaft dem christlichen Spanien angepaßte Kunstrichtung) erbaut wurde (beide 14. Jh.). Etwas später datieren die Synagoge von Venedig (Italien; 16. Jh.), die im Barockstil wiedererbaut wurde und die im Georgian Style erbaute Synagoge in Newport, Rhode Island. Die größten Synagogen wurden im 19. Jahrhundert im Neorenaissance- und Neobarockstil (Berlin) oder in orientalischer Manier (Synagoge in Sankt Petersburg) errichtet. Die deutschen Synagogen wurden fast alle zwischen 1936 und 1945 von den Nationalsozialisten zerstört. Einige wurden in der Nachkriegszeit in einem zeitgenössischen weltlichen Stil wieder errichtet.

Die Juden verzierten auch das Alte Testament und andere religiöse Schriften mit Buchmalereien. Im Nahen Osten wurden in solchen Verzierungen keine Tiere und Menschen dargestellt, was auf den Einfluß des Ikonoklasmus, der Bilderstürmerei im 8. und 9. Jahrhundert in Konstantinopel (siehe Byzantinische Kunst und Architektur) zurückzuführen ist. In Spanien und Deutschland hingegen schufen die Künstler reiche figurative Gemälde, besonders auf den Büchern für das Pessahfest. Es handelte sich dabei um Darstellungen alttestamentlicher Szenen und jüdischer Symbole im jeweiligen regionalen Stil.

Das jüdische Kunsthandwerk brachte, besonders in Osteuropa, feines, reich ornamentiertes Silber für den rituellen Gebrauch in Synagogen und im Haus hervor, darunter Weinkelche, Platten, Menoras (siebenarmige Leuchter), Gewürzdosen und Hanukkalampen (neunarmige Kerzenleuchter). Im 20. Jahrhundert tendierte man bei der Gestaltung rituellen jüdischen Silbers zu einem schlichteren Stil.

Im 20. Jahrhundert ist in Europa und den USA die orientalisch geprägte jüdische Kunst zu Gunsten einer internationalen, in die Moderne integrierten Kunst und Architektur verschwunden. Zahlreiche Künstler versuchten sich auf zeitgenössische Inhalte der jüdischen Kultur zu beziehen. Der in Rußland geborene Maler Marc Chagall und Jacques Lipchitz, ein französischer Bildhauer litauischer Abstammung, schufen Werke, die sich mit jüdischen Themen aus Geschichte und Mythologie befassen. Bedeutend sind heute zahlreiche Entwürfe jüdischer Künstler und Architekten, die sich mit der jüngeren Geschichte des jüdischen Volkes befassen. Verwiesen sei auf das Denkmal für Walter Benjamin von Dani Karavan bei Gerona (Katalonien). Der amerikanische Architekt Daniel Libeskind (siehe Dekonstruktivismus) setzte sich mit dem Problem auseinander, in Deutschland ein Denkmal zu errichten, das an die Judenvernichtung im Nationalsozialismus erinnern soll. Von ihm stammt auch der Entwurf für das Jüdische Museum in Berlin und ein Konzept für die Bebauung des Konzentrationslagers Sachsenhausen bei Berlin.[6]

Jüdische Musik, Musik stellt in der jüdischen Tradition einen essentiellen Bestandteil jeder freudigen Gelegenheit dar und spielt eine wichtige Rolle bei der Religionsausübung.

Musik in der Bibel


Musik erscheint erstmals in der Schöpfungsgeschichte: Neben Jabal tritt Jubal als der Vater aller Leier- und Flötenspieler auf. Zusätzlich weist der Eigenname Jubal auf eine dritte Kategorie hin. Demnach waren gezupfte Saiteninstrumente, Hörner, Trommeln sowie Schlagzeuge aus Bronze und Handtrommeln bekannt. Die Instrumente waren verschiedenen Ständen, wie Priestern, Leviten und Laien zugewiesen. Ein typisches Saiteninstrument des Altertums war der Kinnor, das traditionelle Instrument König Davids. Andere Saiteninstrumente hießen Nevel (Harfe) sowie Asor (Zither). Verpönt waren Instrumente wie Ugab (Schilfrohrflöte) und Halil, eine Art Oboe, die in Israel wie in Griechenland orgiastische Bezüge hatte. Als rituelle Instrumente für Tempeldienste dienten Hasora (Trompete) und das Schofar, ein Widderhorn ohne Mundstück, das auch heute noch seine Rolle in jüdischen Riten hat. Zu den Perkussionsinstrumenten gehörten Tof (ein Tambourin-ähnlicher Rahmen, der von Frauen gespielt wurde), die Glocke Pa'amon und Msiltayim (Becken).

Musik in der Synagoge




Im Anschluß an die Diaspora und die spätere Zerstörung der Tempel durch die Römer 70 n. Chr. wuchs die Bedeutung der Synagoge für das Judentum stetig. Die rein liturgische Monodie entwickelte die drei Gesangsstile der Psalmodie, Lectio und Hymnodik. Die liturgischen Texte wurden bei der Psalmodie von Priestern gesungen, wozu ein professionelles Orchester als Begleitung verzierte Versionen der gesungenen Melodien spielte. Das Singen in der Gemeinde unterlag einem antiphonischen Prinzip: Die Priester oder ein professionelles Chorensemble sangen einen Teil, die Gemeinde sang einen anderen, wobei sich der Rhythmus nach den Silbenakzenten richtete. Bei der Lectio wandelte sich die liturgische Praxis der Kantillation (Singen der Heiligen Schrift), die aus dem 5. Jahrhundert v. Chr. stammt und von priesterlichen Musikern ausgeübt wurde, zur Aufgabe eines einzelnen Laienmitglieds der Gemeinde (etwa 1. Jahrhundert n. Chr.). Instrumentale Begleitung wurde daraufhin verboten. Die Responsorien innerhalb des liturgischen Ablaufs wurden gänzlich von den männlichen Gemeindemitgliedern übernommen. Kantillation und der Wunsch, daß sie nach den Regeln ausgeübt werden sollte, führte zu den Anfängen eines Notationssystems während des 5. Jahrhunderts n. Chr. und zur Bewahrung alten Liedgutes, z. B. bei den jemenitischen Juden. Die Forschung im Bereich des jemenitischen und babylonischen Cantus hat die enge Verwandtschaft des christlichen Sprechgesangs zu dem älteren jüdischen Modell aufgedeckt.

Neue Formen entstanden, z. B. Hymnodik und nachbiblische Gebetsmodi, die auf arabischen Metren und Rhythmen beruhten, deren Ausübung ausgebildeter Musiker bedurfte. Aus diesem Bedarf heraus entwickelte sich im frühen Mittelalter das Amt des Hazan oder Kantors.

Die vorrangige Aufgabe des Kantors bestand im Vortrag der nun komplizierteren Liturgie, die ab dem 8. Jahrhundert durch Improvisationen erweitert wurde. Über viele Jahrhunderte hinweg nahm diese Praxis in zunehmendem Maß auch Elemente nichtjüdischer Lieder als auch römisch-katholischer und protestantischer Hymnenmelodien auf und hatte eine äußerst ausgearbeitete Kanoralmelodik zum Ergebnis, die nur noch geringen Bezug zu den ursprünglichen, alten Gebetsweisen hatte.

Aus dem ornamentativen Kantorstil gingen die ekstatischen Niggunim, textlose Hymnen hervor, die in der Tradition der esoterischen, aus dem 16. Jahrhundert stammenden mystischen Lehre der Kabbala standen, sowie ihrer geistigen Nachfolge im 18. und 19. Jahrhundert, des Chassidismus. Obwohl sie aus einem Impuls einer religiösen Doktrin entstanden waren, die Wert auf den spontanen und emotional ausdrucksstarken gesanglichen Vortrag von Gebetstexten legte, degenerierten die Niggunim im Lauf der Zeit wegen der ungenauen Überlieferung sowie der unprofessionellen Versuche, die ursprünglichen jüdischen Melodien mit europäischer Kunstmusik zu vermischen. Die chassidischen Lieder und Tänze sind für die Wissenschaft von größtem Interesse.

Ab etwa dem 15. Jahrhundert trugen Volksmusikgruppen (Klezmerim) in den osteuropäischen jüdischen Ghettos bei Synagogengottesdiensten und bei weltlichen Festivitäten mittlerweile schriftlich aufgezeichnete Musik vor.

Die Reformbewegung

Versuche, die Liturgie zu reformieren, gab es bereits im 19. Jahrhundert, allen voran von dem ausgebildeten Komponisten Salomon Sulzer, Chefkantor der Wiener jüdischen Gemeinde. Sulzer erkannte die orientalischen Wurzeln der jüdischen Musik und bemühte sich um einen gestrafften liturgischen Gottesdienst.

Im 20. Jahrhundert schufen europäisch- und amerikanisch-jüdische Komponisten, darunter auch der Schweiz-Amerikaner Ernest Bloch und der Franzose Darius Milhaud, kombinierte Orchester- und Chorsätze für den Synagogendienst. Andere Komponisten, wie z. B. Leonard Bernstein in seiner Kaddish Symphony (1961-1963), verarbeiteten jüdische Gebetsmelodien und weltliche Volksmelodien, während Steve Reich in seinem Werk Tehilim (1981), der Vertonung von drei Psalmen, die Verbindung zwischen minimalistischen Prozeduren und einem melodischen Idiom sucht, das Anklänge an jüdische Volksmusik zeigt. Im Gegensatz dazu haben sich andere jüdische Komponisten der jüdischen Thematik in einer gänzlich westlich geprägten Tonsprache zugewandt, so etwa Arnold Schönberg in seiner Oper Moses und Aron (1930 -1932) und Aaron Copland in seinem Klaviertrio Vitebsk (1927).

In Israel haben sich Vermischungen aus den religiösen Volksliedern des orientalischen Judentums mit seinen Anklängen an arabische Musik sowie aus arabischer Musik selbst und den Liedern der europäischen Juden ergeben. Das heißt, ein Großteil der israelischen Musik verbindet traditionelle, orientalische Elemente mit zeitgenössischer westlicher Musik.[7]




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