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Werte und Einstellungen im Alltagsleben in Ost- und Westdeutschland



Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Fakultät der Universität Potsdam




Seminararbeit


zum Thema:




'Werte und Einstellungen im Alltagsleben in Ost- und Westdeutschland'





Inhaltsverzeichnis


Einleitung                                       



A.Entwicklung der Wertemuster im westlichen Teil Deutschlands


1. Allgemeine Entwicklungslinien hin zu 'demokratischen' Einstellungen

2. Wertewandel in der westdeutschen Gesellschaft

2.1 Wertewandel und Konsum

2.2 Wertewandel und gesamtgesellschaftliche Entwicklungen


B. Wertemuster im Ost-West Vergleich


1. Mentalitätsunterschiede in Ost und West?

2. Erziehung und Autorität

3. Freizeit, Arbeit und Familie


C. Zum Problem der Zuordnung von Ursachen und Wirkungen


1. Situationsbedingte und sozialisationsbedingte Einstellungsdifferenzen

2. Zur Trennung von politischem System und Gesellschaft



Fazit                                           




Literaturverzeichnis                            

















Werte und Einstellungen im Alltagsleben in Ost- und Westdeutschland


Das Ziel der Arbeit besteht darin, herauszufinden, ob im Bereich der Einstellungen im Alltagsleben zwischen ost- und westsozialisierten Menschen signifikante Unterschiede bestehen. Es wird zu beschreiben sein, in welcher Hinsicht sich Ost- und Westbürger voneinander im Wertebereich trennen lassen, und in welchen Punkten auf der anderen Seite weitgehende Übereinstimmung vorherrscht. Außerhalb dessen wird im Rahmen die­ser Arbeit auch die Frage gestellt, wie sehr überhaupt ein bestimmtes politisches System seinen Charakter auf die in ihm lebenden Menschen abfärbt. Dabei wird es namentlich für das totalitäre östliche System nicht immer möglich sein, sauber zwischen der Wirkung des politischen Systems und der des sozialen Umfeldes zu trennen, da es sich teilweise gera­de dadurch kennzeichnet, daß diese Bereiche ineinander überfließen, Staat und Gesell­schaft also eine größere Schnittmenge bilden, als das in Systemen westlicher Prägung der Fall ist. Wie zu zeigen sein wird, führt dieser Umstand bei der Bewertung empirischer Ergebnisse zu einigen Irritationen.

Da es über die Werteorientierungen in der DDR wenige bzw. wenig zuverlässige Daten gibt, wird anfangs der Entwicklung der Einstellungen im Westen viel Aufmerksamkeit gewidmet. Diese Darstellung soll skizzieren, wie sich die konkrete wirtschaftliche und soziale Situation auf das zu Untersuchende ausgewirkt haben. Später wird die Frage zu stellen sein, ob und ggf. inwieweit sich ähnliche Prozesse im anderen Teil des Landes abgespielt haben (könnten).


Ganz bewußt werde ich mich über weite Strecken eng an Beiträgen von Fachleuten hal­ten, um zu verhindern, auf einem mir recht fremden Gebiet eigenen Fehleinschätzungen aufzusitzen. Ich werde es im Gegenzug indes nicht unterlassen, den einen oder anderen fachlicherseits geäußerten Punkt kritisch zu hinterfragen.



A. Entwicklung der Wertemuster im westlichen Teil Deutsch­lands


1. Allgemeine Entwicklungslinien hin zu 'demokratischen' Einstellungen


Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Deutschland und seine Bürger zu einem beliebten Forschungsobjekt. Wird es möglich sein, die Menschen zur Demokratie zu erziehen oder wohnt ihnen eine Affinität zu Autoritäten inne, welche kaum unterbunden werden kann? Deutschland(West) wurde oft als äußerst unstabil gekennzeichnet. Man beobachtete die Entwicklungen der Einstellungen der Deutschen sehr genau. Herrschten in den 50er-Jah­ren noch die skeptischen Stimmen vor, so wurde später deutlich, daß die Bewohner Westdeutschlands Werte und Einstellungen entwickelten, die mit anderen westlichen De­mokratien vergleichbar waren. In seinem Aufsatz: 'Changing political Culture' führt Da­vid P. Conradt einige dieser Entwicklungen auf. So legten die Deutschen auf die Her­ausbildung von Unabhängigkeit und freien Willen bei der Erziehung kontinuierlich mehr Wert. Nach der wichtigsten Aufgabe der Erziehung befragt, gaben 1951 noch 28%, 1976 bereits 51% der Bundesbürger diesem Erziehungsziel die Priorität. Allerdings besteht ein deutlicher Unterschied zwischen den Generationen: Die über 50-jährigen präferieren mit 65% einen autoritären Erziehungsstil, wohingegen das nur 40% der unter 30-jährigen tut. 14% der 13 - 24-jährigen meinte 1975, daß sie ihre Kinder genauso erziehen würden, wie sie erzogen wurden (vgl. Conradt: 1989, 252f.).

Die frühere Unterstellung undemokratischer Familien konnte nicht belegt werden. Conradt schreibt das der allgemeinen sozialökonomischen Entwicklung zu, bei der die Beschäfti­gung der Frauen zunimmt, diese dadurch mehr Macht erhalten und die Familie mithin de­mokratischer strukturiert werden würde (vgl. ebd: S.251).

Auch außerhalb der Familie ließ sich Erfreuliches aufdecken: 1971 sagten 10 - 14-jährige häufiger als in den USA, Schweden und den Niederlanden, daß sie zur unabhängigen Meinungsäußerungen durch die Lehrer ermutigt werden würden (vgl. ebd: S.253).

Neben den Entwicklungen in der Erziehung wurde noch aufgezeigt, daß die Deutschen auf die Frage danach, ob Menschen vertraut werden könne, in zunehmenderweise (1948: 9%; 1976: 39%) mit 'Ja' beantworteten (vgl. ebd: S.254). Dabei waren 1976 keine signifi­kanten Un­terschiede zwischen Alter und sozialer Klasse auszumachen (vgl. ebd: S.256).

Ahnlich stieg auch der Anteil der Menschen, die meinten, daß es mehr gutwillige als böswillige Menschen gäbe: (1949: 33%; 1976: 52%) (vgl. ebd: S.254).

Zur Veränderung der Rolle der Frau schreibt der Autor:

'In 1961, 57 percent of German women wanted to be `only housewives´; by 1973 only 29 percent were satisfied with this role. The proportion who wanted above all to be occu­pationally active increased during this same period from 22 percent to 53 per­cent.'(Conradt, 1989: 260)


2.Wertewandel in der westdeutschen Gesellschaft


Das politische System ist über die Jahrzehnte hinweg unverändert geblieben. Dennoch ist die politische Kultur des Landes heute eine ganz andere als die vor z.B. 40 Jahren. Dieser Abschnitt beschäftigt sich daher mit der Frage, welche gesellschaftlichen und sozialöko­nomischen Entwicklungen diesen Prozeß der Wandlung der Werte beeinflußen oder gar hervorbringen.


2.1 Wertewandel und Konsum

Um den Prozeß des Wertewandels nachzuzeichnen lohnt der Blick auf Konsumverhalten und Werbestrategien vergangener Zeit. Denn: 'Der Konsum ist insoweit immer Ausdruck und Ergebnis eines zu einer Zeit geltenden Normen- und Wertesystems einer Gesell­schaft.' (Rode, 1989: 35)

In der Nachkriegszeit war eine 'Freß-' und 'Klamottenwelle' zu verzeichnen. 75% des Einkommens entfielen auf den Konsum von Essen und Kleidern, 1989 waren es dagegen 33%. Es existierte eine homogene Ausrichtung der Mitglieder der Gesellschaft. Ziel war der Zugewinn von Lebensqualität und das Mittel Aufbau und Erweiterung des geistigen und materiellen Bereiches. Die einhellige Formel lautete: Je mehr Disziplin und Leistung um so mehr Ware. In den Fünfziger Jahren gab es bereits Waren als Zeichen von Lebens­glück: Prestige und Anerkennung erringt man durch Konsum.

Mitte der 50er Jahre tritt zum demonstrativen Konsum eine von der amerikanischen Hip­pie-Kultur beeinflußte neue Bescheidenheit hinzu. Die Gruppe ist das Bedeutende. Hier geht es nicht (mehr) darum zu zeigen, wer am meisten hat. Der Akzent verlagert sich zu dem, was verbindet (z.B. Friedenspfeife). Die neue Generation durchbricht die einstige homogene gesellschaftliche Struktur. Wirtschaftliche und staatliche Institutionen werden in den 60ern in Frage gestellt und ziviler Ungehorsam geübt.

Bis hinein in die 70er hat sich eine ganze Generation heranwachsender Konsumenten an einer 'Konsumaskese' orientiert. Genauer gesagt hat sich bei ihr der Konsum verlagert: 'Statt mehr Klamotten kaufte man mehr Platten' (Rode, 1989: 38). Nebenher aber stieg die Kaufkraft der Deutschen. Die Kombination aus Zeit und Geld zog eine gewaltige Frei­zeit-Industrie nach sich.

Bürgerinitiativen legten den Grundstein zur Verbürgerlichung des Widerstandes. Insge­samt wurden in der Werbung Jugend, Freizeit und junge Geselligkeit stärker akzentuiert. Erste Anzeichen einer Emanzipation sind hier zu finden. Mitte der 70er Jahre begannen einst Studentenbewegte zu den Werten Wohlanständigkeit, Karriere und Leistung zu ten­dieren. Trotzdessen traten insbesondere zu Beginn der 80er vermehrt Frauen-, Ganzheitli­che Medizins-,Ökologie- und Friedensbewegungen auf den Plan. Sie waren die äußeren Zeichen eines Paradigmenwechsels. Diese Gruppen vernetzten sich zusehends und wur­den so zu einem Hauptanstoß zur Bildung der GRÜNEN.

Es war auch die Zeit des berühmten Berichtes von den Grenzen des Wachstums. Es trat eine allmähliche Desillusionierung ein. Es konnte nicht immer so weiter gehen. 'Die Kulturpessimisten gewannen eindeutig die Überhand vor den Fortschrittsgläubigen.' (Rode, 1989: 41) Es entwickelte sich eine Bioszene, man zeigte sich kritisch gegenüber industriell gefertigten Lebensmitteln. Nebenbei beginnt sich in der Werbung ein Trend herauszuschälen, der bis heute Bestand hat: Individualisierungs- und Selbstverwirkli­chungstendenzen in Abenteuer, Freizeit und Konsum. Zudem gab es Ende der 70er Anfang der 80er erste Zeichen eines zunehmenden sozialen Verantwortungsbewußtseins.



Die Trends setzen sich in den 80ern weiter fort: gefragt ist der vernünftige Konsum, aber nicht die Konsumabstinenz. Die Gesellschaft ist auf der Suche nach neuen, besseren Werten, die mehr auf Menschlichkeit und Solidarität zielen. Als Qualitätssiegel gewinnt die Natürlichkeit und Naturbelassenheit an Bedeutung. Die besten Chancen als Anbieter hat, wer ehrlich und aufklärerisch um sein Produkt wirbt. Die dringlichsten Aufgaben werden in den Bereichen Arbeitsplatz, Sicherung sozialer Leistungen, Ökologie und Frie­den gesehen (vgl.: S.43).

Dieser historischen fügt Rode eine Einteilung in drei Generationsgruppen hinzu. Danach ist die Jahrgangsgruppe 1915-1935 durch einen Arbeit-Ethos geprägt. Es herrscht eine Entbehrungsmentalität vor, die das Ergebnis des Erlebens von politischem und wirt­schaftlichen Chaos sei sowie teilweise daraus resultiere, daß man für die Nachkommen spart, 'die es einmal besser haben sollen.' (S.44)

Die Jahrgänge 1935-1955 haben nach Rode ein ambivalentes Verhältnis zum Wohlstand. Ihr Kapital verkonsumieren sie größtenteils selbst, da sie die Frage umtreibt, warum es die Jüngeren denn besser haben sollten als man selbst (vgl.: S. 45).

Bei den Jüngeren (Jahrgänge 1955-1974) stellt der Autor einen Übergang von einem Ar­beits-Ethos zur Job-Mentalität fest. 'Arbeit wird Mittel zum Zweck, zur Realisierung vielfältiger Konsum- und Freizeit-Interessen.' (Ebd.) Diese Generation kennzeichne sich durch einen starken Hang zur Individualität wie auch einer 'Gegenwartsorientierung' und 'Genußmoralität'. ('Hier und jetzt will ich leben!') (Vgl. ebd.)

Ferner deckt Rode eine Entwicklung auf, wonach nicht mehr primär die Kaufkraft einer Bevölkerungsschicht den Konsum bestimmen, sondern sich quer durch alle Schichten Konsumtypen und -stile herausgebildet hätten (vgl.: S.48).


2.2 Wertewandel und gesamtgesellschaftliche Entwicklungen

Hier soll erkundet werden, was sich bei gleichbleibendem politischem System im Zuge einer allgemeinen Modernisierung für den Einzelnen verändert hat.

Ulrich Beck prognostiziert in seinem Buch 'Risikogesellschaft' eine sinkende Bedeutung traditioneller sozialer Einbindungen für den Menschen. Wir seien Augenzeugen eines Ge­sellschaftswandels innerhalb der Moderne, 'in dessen Verlauf die Menschen aus den Sozialformen der industriellen Gesellschaft - Klasse, Schicht, Familie, Geschlechtslagen von Männern und Frauen - freigesetzt werden.' (S. 115) Es entstünden der Tendenz nach 'individualisierte Existenzformen und Existenzlagen, die die Menschen dazu zwingen, sich selbst - um des eigenen materiellen Überlebens willen - zum Zentrum ihrer eigenen Lebensplanungen und Lebensführung zu machen' (S.116/117). Individuen würden 'zum Akteur ihrer marktvermittelten Existenzsicherung und der darauf bezogenen Biographie­planung'(S.119) werden. Systemprobleme würden aufgrund der enttraditionalisierten Le­bensformen, die eine 'neue Unmittelbarkeit von Individuum und Gesellschaft' (S.118) zur Folge habe, als individuelle Probleme erscheinen (z.B. Arbeitslosigkeit). Bezüglich von Form und Sinn der Familie entstehe der Typus der 'Verhandlungsfamilie auf Zeit, in der sich verselbständigende Individuallagen ein widerspruchsvolles Zweckbündnis zum ge­regelten Emotionalitätsaustausch auf Widerruf eingehen.' (Ebd.)

Anstelle der Zugehörigkeit zu einer sozialen Schicht tritt nach Beck nun zunehmend eine Vergesellschaftung neuer, soziokultureller Gemeinsamkeiten z.B. entlang von Moderni­sierungsrisiken auf (vgl.: S.119). Sie kristallisieren sich in den neuen sozialen Bewegun­gen und in Bürgerinitiativen.

Eine Erhöhung der Einkommen der Arbeiterklasse um ein Vielfaches trug dazu bei, daß auch diese Schicht mehr Bewegungsspielräume bekam und somit z. B. die Anschaffung einer Wohnung oder eines Hauses für immer mehr Menschen erschwinglich wurde (vgl.: S.123). 'Das Mehr an Geld wie das Mehr an erwerbsarbeitsfreier Zeit kollidierten mit den traditionalen Tabuzonen klassen- und familienbestimmten Lebens. Das Geld mischt die sozialen Kreise neu und läßt sie im Massenkonsum zugleich verschwimmen.' (S.124) An ihre Stelle treten ungleiche Konsumstile (in Einrichtung, Kleidung usw.), die die 'klassenkulturellen Attribute abgelegt haben.' (S.125) 'Die Lebenswege der Menschen verselbständigen sich gegenüber den Bedingungen und Bindungen, aus denen sie stam­men.' (S.126)

Die Erhöhung der Frauenerwerbstätigkeit führe dazu, daß sich die Machtbeziehungen in Ehe und Familie verädern würden. Selbstverdientes Geld setze die Frauen in die Lage, ihre Einbindung in Familie und Ehe zu lockern (vgl. ebd.). Das Geld, durch welches die Frauen ihre klassische Rolle teilweise verlassen, erzwinge wiederum 'Ausbildung, Mobilität, Eigeninteressenwahrnehmung usw. und verlängert damit den Individualisie­rungsschub in den Familienzusammenhang hinein.' (S.127) Mittels der Bildungsexpansion (insbesondere für Frauen) wurden traditionelle Orientierungen und Lebensweisen durch Lehr- und Lernbedingungen relativiert oder verdrängt (vgl.: S.128f.). Da Bildung dar­über­hinaus mit Selektion zu tun habe, erfordere sie individuelle Aufstiegsorientierun­gen (vgl.: S.129). Bildung sei im Zuge der Bildungsexpansion 'ein notwendiges Mittel gegen den Abstieg' (ebd.) geworden. Im Hinblick auf die Arbeitslosigkeit stellt Beck dar, wie es wachsende Grauzonen zwischen registrierter und nicht registrierter Arbeitslosig­keit gibt (S.146f.). Eine wachsende Anzahl von Menschen macht Erfahrungen mit einer tempo­rären Arbeitslosigkeit, vor der keine Qualifikations und Berufsgruppe mehr Schutz biete (ebd.). 'Arbeitslosigkeit ist in ihrer Verteilung als lebensphasenspezifisches Einzel­schicksal kein Klassen- oder Randgruppenschicksal mehr, sondern generalisiert und nor­malisiert worden.' (S.148)

An die Stelle nach Zielen wie 'ein neues Auto' oder 'ein glückliches Familienleben' ist mittels der jüngeren Generation, der besseren Ausbildung und des höheren Einkommens die 'Selbstverwirklichung', die 'Suche nach der eigenen Identität' getreten. 'Besessen von dem Ziel der Selbstverwirklichung reißen sie [die Menschen] sich selbst aus der Er­de heraus, um nachzusehen, ob ihre Wurzeln auch wirklich gesund sind.' (S.156) Die Selbstfindungsorgien werden indes zum Motor gesellschaftlicher Entwicklung: 'Das po­litische Potential der sich entfaltenden Privatssphäre liegt [] in der Wahrnehmung von Selbstgestaltungsmöglichkeiten, darin, tiefsitzende kulturelle Selbstverständlichkeiten durch die direkte Tat des Andersmachens zu verletzen und zu überwinden.' (S.157)

Weidenfeld/Korte weisen darauf hin, daß diese Tendenzen z.T. komplementäre Gegen­tendenzen provozieren. Sie sprechen von Ambivalenzen in der Grunddisposition der Deutschen wie z.B. zwischen

- autozentrischem Selbstverständnis und neuen Suchbewegungen nach Geborgenheit im Vertrauen;

- hohem Individualisierungsdruck und steigendem Sicherheitsbedürfnissen;

- Pluralisierung der Lebensstile und der Suche nach neuen übergeordneten Loyalitäten und Orientierungsmustern (siehe Weidenfeld/Korte 1991: 84) sowie

- Kinderwunsch und Individualisierungsstreben (vgl. ebd.: S.77).

Der Modernisierungsprozeß wird demzufolge für jeden Einzelnen darin spürbar, daß er eine Spannung zwischen der Hingabe zum traditionellem Lebensstil einerseits und zu 'progressiveren' Lebensformen andererseits auszuhalten hat.



B. Werte- und Einstellungsmuster im Ost-West Vergleich


In Ostdeutschland stellte sich die sozialökonomische Situation für die Bürger anders dar. Das politische System war autoritär ausgerichtet und von einem Weg des Landes zu einer Dienstleistungsgesellschaft konnte nicht die Rede sein. Diese unterschiedlichen 'Rahmenbedingungen' für Einstellungen im Alltag lassen erhebliche Differenzen im Wertebereich zwischen Ost und West vermuten. Diese Hypothese soll nun überprüft wer­den.


1.Mentalitätsunterschiede in Ost und West?


Gebhardt und Kamphausen gehen in ihrem Artikel: 'Mentalitätsunterschiede im vereinig­ten Deutschland? Das Beispiel zweier ländlicher Gemeinden' einen eigenen Weg. Sie haben sich in 'zwei von der Geschichte, der Konfession, der Bevölkerungszahl, der Infra- , Wirtschafts- und So­zialstruktur her' (S.32) ähnlichen Gemeinden im bayrischen und sächsischem Vogtland umgesehen. Den Begriff Mentalität definieren die beiden Autoren dabei folgenderweise:

'Mentalität bezeichnet [] die Summe eingelebter, routinisierter, über Generationen hin­weg stabiler Glaubensüberzeugungen und Sinngewißheiten mit alltäglicher Handlungsre­levanz.' Sie seien in der Regel 'die unreflektierte Grundlage allen sozialen Handelns im alltäglichen Lebensvollzug.' (S.31)

Gebhardt und Kamphausen stellten fest, daß in beiden Gemeinden der Verlust der Sicher­heit sowie die Bedrohung des Eigenen als die vordringlichsten Problembereiche angese­hen werden. Die Autoren finden hier wie dort eine Situation vor, in der 'Fremde' in Ge­stalt von in- und ausländischen Durchreisenden mit einer zunehmenden Abkapselung und einer nostalgischen Verklärung der 'guten alten Zeit' beantwortet wird (vgl.: S.32f.).

In der östlichen Gemeinde haben sich die gravierenden Einschnitte wie folgt ausgewirkt: Der Umgang mit der neuartigen westlichen Bürokratie und die Marktwirtschaft im Allge­meinen werden als Belastung und Bedrohung empfunden. Zudem werden die beginnende soziale Differenzierung und das entstehende Wohlstands­gefälle als gemeinschaftszerstö­rende Faktoren wahrgenommen. (Vgl. S.33) Mit dem Geld verringerte sich die Bereit­schaft, für andere unentgeltlich zu arbeiten, eine Anonymisierung der in Anspruch ge­nommenen Dienste war die Folge (vgl. S.37.).

Laut Gebhardt und Kamphausen ist beiden Gemeinden die grundlegende Einstellung zur Bedeutung von Arbeit, Leistung und Eigentum (was in einem sozialistisch geprägtem Ort überraschen mag) sowie Religion und Heimat gemeinsam (vgl.: S.34). Die Familie gilt in Ost wie West als der entscheidende Ort für das Finden von sozialer Anerkennung, Ge­borgenheit und Sicherheit eines Menschen. Neben der Familie gilt die Dorfgemeinschaft 'als diejenige Instanz, die soziale Verortung ermöglicht und Leitbildfunktion auszuüben vermag.' (S.34) Konforme Einstellungen (negative Einstellung zur Stadt, öffentlich be­kundete Zufriedenheit mit der sozialen Umgebung etc.) werden mit 'Identität' belohnt. 'Diese Orientierung am Ideal der Gemeinschaft ist in beiden Gemeinden durchgängig zu beobachten.' (S.35) Diesem Gemeinschaftstreben steht als unvereinbarer Gegenpol mit zunehmender Anziehungskraft Individualisierungtendenzen entgegen, die sich aus der Entwicklung zur Modernen ergeben (individuelle Wahlfreiheit und materieller Wohl­stand, usw.). 'Dieser Zwiespalt, Unvereinbares vereinen zu wollen, kennzeichnet die Menschen in beiden Gemeinden.' (S.36) Die Sozialwissenschaftler kommen zu dem Er­gebnis, daß beide Gemeinden erstaunlich viele Gemeinsamkeiten aufweisen und ent­deckte Unterschiede nicht als Mentalitätsunterschiede zu bezeichnen sind. Sie konstatie­ren lediglich: 'Der moderne Individualisierungsprozeß und der damit verbundene Wer­tewandel ist in der westdeutschen Gemeinde etwas weiter fortgeschritten als in der ost­deutschen Gemeinde.'(S.39) Man könne von einer Phasenverschiebung auf dem Weg der Modernisierung oder wahlweise von einer 'Kühlschrankfunktion' des sozialistischen Systems sprechen.

Allgemein läßt sich sagen, daß bezüglich der Mentalität eher Unterschiede zwischen ein­zelnen Kulturregionen bestehen und eine pau­schale 'Unterschiedskartographie' in alte und neue Bundesländer von den tatsächlichen Gegebenheiten vieles verwischt, verstärkt oder unterschlägt, das heißt eine derartige Vereinfachung darstellen, daß sie mit einer wahrhaften Beschreibung der Sachbestände allenfalls wenig gemein haben.

Analog zur vermutlich zutreffenderen Einteilung in Kulturkreise läßt sich sagen, daß eine Untersuchung von Mentalitäts- oder Einstellungsunterschieden von Menschen mit dörfli­cher und städtischer Umgebung mehr Differenzen hervorbringen dürfte als die zwischen einem bayrischem und einem sächsischem Dorf.


2. Erziehung und Autorität


Auf welche Weise wirken sich unterschiedliche Systeme auf der Ebene von Ehe und Familie aus? Dieser Frage hat sich u.a. Reuband verschrieben. Dabei äußert er in Anleh­nung an Scheuch die Vermutung, daß es für grundle­gende soziale Institutionen wie die der Familie Beharrungskräfte gibt, und daher auf die­ser Ebene mehr Ahnlichkeiten in vergleichender Perspektive zu entdecken seien als in den 'dazugehörigen' politischen Systemen (vgl.: S.222).



In der Bestandsaufnahme entdeckt der Sozialwissenschaftler in Familie Ost und Familie West viele Gemeinsam- und Ahnlichkeiten: Mit 61% im Osten und 63% im Westen hiel­ten beide die Erziehung der Kinder zu 'Selbständigkeit und freien Willen' als die wich­tigste Erziehungsaufgabe; nur '5% der Ostdeutschen und 9% der Westdeutschen sprachen sich bevorzugt für `Gehorsam und Unterordnung` aus.' (S.223) Eine Schülerumfrage 1990 ergab darüberhinaus, daß ein ähnlich großer Anteil, nämlich 70% im Westen und 65% im Osten, sich nachsichtig erzogen fühlten. Alsdann stellt der Autor mittels zweier Haupindi­katoren das Ausmaß autoritärer Entscheidungsstrukturen in der Familie in zeitlicher Per­spek­tive auf. Reuband kommt zu dem Ergebnis, daß sich der Rückzug der Autorität in der Familie seit 1930 relativ kontinuierlich vollzieht (vgl.: S.227f.). In Bezug auf sein Er­kenntnisinteresse des Vergleiches von Ost und West schreibt er: 'Im Vorkommen autoritä­rer Entscheidungsmuster in der Familie überwiegen die Gemeinsamkeiten mehr als die Unterschiede. Und wenn es Differenzen gibt, belaufen sie sich auf wenige Prozentpunkte.' (S.227/228) Die Beschreibung der autoritären Familiensituation, die dem Einzelnen jede Möglichkeit der Teilnahme nimmt, wie es bsplw. Maaz behaupte, finde sich in den Daten nicht wieder (s.S.230). In beiden Teilen Deutschlands deuteten Indikatoren (z.B. auch Anwendung körperlicher Strafen, Betonung von Pünktlichkeit u.a.) 'hin zu einer Erzie­hung, die dem einzelnen mehr Freiraum für individuelle Rollengestaltung läßt.' (Ebd.) Darüberhinaus gäbe es keinen Hinweis darauf, 'daß sich in der DDR generell ein autori­täreres Sozialisationsmuster herausgebildet' (ebd.) hätte.

Im Gegenzug zum Rückzug repressiver Methoden gewannen über die Zeit die Erziehung mittels Loben der Kinder an Bedeutung (vgl.: S.232). Reuband zieht den folgenden Schluß: 'Unsere Daten machen deutlich, daß das, was bisher als spezifisch für westliche Industriestaaten, insbesondere für die Bundesrepublik, ange­sehen wurde, für diese of­fenbar nicht spezifisch ist. Die DDR scheint - trotz ihrer poli­tisch und ökonomisch gro­ßen Beharrungstendenz - in ihrer Entwicklung dynamischer ge­wesen zu sein als vermutet wurde.' (S.233)


3. Freizeit, Arbeit und Familie


Auf die Frage nach der Wichtigkeit der Bereiche Freizeit, Arbeit und Familie kommen für Ost und West sehr ähnliche Werte heraus. Die größte Differenz wies bei dieser Untersu­chung, bei der die Befragten 100 Punkte auf die drei Bereiche verteilen sollten, der Sek­tor Arbeit auf: Er erhielt im Westen durchschnittlich 36, und im Osten 43 Punkte. Das 'weist auf eine ausgeprägtere Arbeitsorientierung der Ostdeutschen hin.' (Ebd.: S. 21) Allerdings 'lohnt' hier die Aufsplitterung in Geschlechtern. Diese ergibt, daß bei West-frauen der Familienbereich gegenüber dem Arbeitsbereich deutlich dominiert, und Ost-frauen beide Bereiche in etwa gleich wichtig sind (vgl. ebd.). Deutlich unterschiedlich ist der Umgang zwischen den Bereichen Arbeit und Familie. 75 % der westlichen Bevöl­ke­rung sprechen sich dafür aus, daß die Mutter bzw. ein Elternteil zu Hause bleiben soll­te, wenn Kinder unter drei Jahren im Haushalt sind. Das meinen jedoch lediglich 42% im Osten (vgl.: Gerlach, 1995: 642). Dagegen gibt es im Hinblick auf die allgemeine Bedeu­tung der Familie und der Partnerschaft 'einen breiten Konsens.' (Veen/Zelle: S.23)

Im Westen läßt sich zeitlich ein 'stetiger Bedeutungsverlust der Arbeit und der Arbeits­zeit gegenüber der Freizeit' (Gerlach, 1995: 641) nachvollziehen. Während 1962 29% der befragten Berufstätigen die Stunden der Freizeit denen der Arbeit vorzogen, waren es 1990 bereits 42%. Gleichzeitig präferierten lediglich 23% der Ostdeutschen die Stunden der Freizeit (vgl. ebd.). Darüberhinaus ist im Westen der Hedonismus, im Osten die Lei­stungs­orientierung stärker ausgeprägt. Die Aussage: 'Ich möchte mein Leben genießen und mich nicht mehr abmühen als nötig. Man lebt schließlich nur einmal und die Hauptsa­che ist doch, daß man etwas vom Leben hat' stimmten 21% der Ostdeutschen und 42% der Westdeutschen zu (vgl. ebd.)! Im Westen hat gegenüber dem Osten insbesondere im Arbeitsbereich eine 'Verschiebung von den klassischen, puritanischen Tugenden hin zu den kommunikativen Tugenden wie Flexibilität, Ideenreichtum/Kreativität, Kommuni­ka­tionsfreudigkeit' (Rode, 1989: 62) stattgefunden. Im Osten wird dagegen z.B. der Wert Disziplin, 'der im Westen kaum noch Zustimmung erhält' (Gerlach, 1995: 641) von 56 % der Befragten im Osten als sehr wichtig angesehen.


Was angesichts der differierenden Beurteilungen von Tugenden (Disziplin, Pünktlichkeit, Flexibilität etc.) und verschiedener Bewertungen der Bereiche Arbeit und Freizeit über­rascht, ist, daß ganz allgemein im Wertebereich vielerlei Ahnlichkeiten bestehen, ja sogar die Verteilung bestimmter Werte-Typen in der Gesellschaft vergleichbar sind (lt.: M. u. S. Greiffenhagen, 1995: 484).

Insgesamt lassen sich die aufgeführten Vergleiche damit zusammenfassen, daß entgegen der anfangs aufgestellten (und häufig vertretenen) Hypothese die Gleichheiten gegenüber den Ungleichheiten von Ost und West deutlich überwiegen. Damit allerdings mag für manchen Wissenschaftler ein 'Weltbild' zusammenbrechen. Eines, das darin bestand, daß zwei verschiedenartige politische, ökonomische und gesellschaftliche Systeme die Men­schen auch sehr unterschiedlich prägt.



C. Zum Problem der Zuordnung von Ursachen und Wirkungen


1. Situationsbedingte und sozialisationsbedingte Einstellungsdifferenzen


Erstaunlicherweise stellen Kamphausen und Gebhardt u.a. nostalgische Tendenzen auch in der Westgemeinde fest, die sich aus den 'Nebenwirkungen' der Entwicklung zur Mo­dernen ergeben. Vor diesem Hintergrund muß gesagt werden, daß bei einem totalen Um­bruch für die östliche Bevölkerung anstatt eines allmählichen, behutsamen Wechsels im Westen Nostalgie nicht nur verständlich wird, sondern auch nichts über differierende Ko­gnitionsmechanismen in Ost und West auszusagen vermag. Dieses Beispiel soll verdeutli­chen, daß sich einige 'ostspezifischen' Einstellungen (wie z.B. eine gewisse Ent­täuschtheit gegenüber dem neuen System, Rücksehnung nach Vergangenem usw.) alleine aus der sonderlichen Situation, genauer: der erheblichen Konfrontation mit einer neuen Situation der Bürger heraus begreifbar werden. Diese Einstellungen sind also weniger Produkt verschiedener Systeme als vielmehr Produkt der historischen Geschähnisse. Es sind gewissermaßen keine 'echten', sondern situationsbedingte Unterschiede. Diese Trennung bei den Auslösern bestimmter Verhaltensweisen erscheint mir äußerst wichtig. Sie besagt nämlich, daß empirisch gefundene Differenzen nicht uneingeschränkt Rück­schlüsse auf das Einflußvermögen verschiedener politischer Systeme bzw. Gesellschaften erlauben.

Ahnlich problematisch ist der Umgang mit Daten die nahelegen, daß der gemeine Ostbürger materialistischer veranlagt sei als der gemeine Westbürger. Vergegenwärtigt man sich das Kon­sumverhalten der Westbürger insbesondere in den 50er und 60er Jahren (s.o.), so wird man sagen müssen, daß es sich hierbei nicht um einen osttypischen Charakterzug handelt. Es weist vielmehr auf eine konkurdante, aus der Situation heraus zu erklärende, Handlungsweise in Ost und West hin.


2. Zur Trennung von politischem System und Gesellschaft


Problematisch wird es, wenn man Gesellschaft und politisches System voneinander tren­nen will, wie es Reuband (unausgesprochen) tut.

Auf der einen Seite liegt sein Bestreben darin, aufzuzeigen und nachzuweisen, daß politi­sche Regime deutlich we­niger Einfluß auf Ehe und Familie haben als zumeist angenom­men. Was man als spezifisch für den Westen annahm (z.B. Individualisierungsprozesse) konnte nun rückwirkend auch für die DDR festge­stellt werden. Das dient Reuband als Hinweis auf eine geringe Einflußmöglichkeit politischer Systeme bzw. einer gewissen Starrheit des Privaten gegenüber der politischen Struktur eines Landes.

Alsdann versucht er auf der anderen Seite zu erklären, wie es zu die­sen vergleichbaren Abläufen kommen konnte. Dabei verweist er auf Umstände wie Säku­larisierung, hohe Frauenbeschäftigungsrate, Förderung von Bildung für aus Arbeiter­schichten stammende Menschen etc. (vgl. Reuband, 1995: 234ff.), die man selbst (wenn ihre Wirkung auch teilweise unbeabsichtigt gewesen sein mag) auch wiederum als Teil dieses politischen Systems auffassen könnte. Er erstellt also den Beweis, daß die poli­tischen Systeme in Ost und West im Bezug auf die politische Kultur als ähnlich in ihrer Wirkungsweise an­zusehen sind; den Beweis dafür, daß sie wenig Einfluß auf das Private üben, bleibt er schuldig. Er zeigt m.E. auf, warum die Systeme in mancher Hinsicht doch vergleichbar waren bzw. sich ähnlich auswirkten und entgegen seines Anliegens nicht, daß die Ahn­lichkeiten hüben und drüben auf eine Nicht- oder Ge­ringbeeinflussung eines politischen Systems schließen lassen.

Auch diese Diskussion soll zeigen: Es ist äußerst schwierig, die auftretenden Einstellun­gen und ihre Anderungen auf bestimmte Ursachen zurückzuführen. Namentlich beim Um­gang mit den Begriffen des politischen System auf der einen Seite und der Gesellschaft auf der anderen Seite muß beachtet werden, daß diese Ebenen alles andere als voneinan­der losgelöst zu betrachten sind. Daher ist auch eine Aussage mit Vorsicht zu genießen, die aufgrund (vordergründiger) autoritärer politischer Strukturen und weniger autoritären Umgangsformen auf privater Ebene das allgemeine Wirkungspotential auf Letztere gering­schätzt.



Fazit


Seit dem Ende des zweiten Weltkrieges hat sich vieles im Wertebereich und im Leben der Deutschen geändert. Allgemein werden diese Entwicklungen gerade in Bezug auf Indivi­dualisierung, Pluralisierung und steigende Bedeutung der Freizeit gegenüber der Arbeit usw. quasi als Begleiterscheinungen des Überganges eines Staates von einer Industrie- zur einer Dienstleistungsgesellschaft betrachtet. So wird davon ausgegangen, daß 'die den Wertewandel auslösende sozialökonomische Umstrukturierung', die diese Prozesse in­duziert, 'im Bereich der ehemaligen DDR nicht stattgefunden hat.' (Gerlach, 1995: 641) In dieser Lesart sind Unterschiede eine Art Phasenverschiebung, bei der der Osten - als typische Industriegesellschaft zu bezeichnen - dem Westen gewissermaßen nachhinkt. Da­zu gehört auch die Diagnose, daß der Osten im Gegensatz zum Westen materielle Werte stärker betont. Hier halte ich Differenzierungen für angebracht: Zum einen ist der soge­nannte Postmaterialismus teilweise untrennbar mit materialistischen Werten verbunden (Hedonismus kostet viel Geld, man könnte ihn genausogut als 'Materialismus zweiter Stufe' branntmarken ) und erblüht erst im Zuge materiellen Wohlstandes. Zum anderen ist die Gesellschaft im Osten in mancher Hinsicht sogar - wenn man sich denn dieser Denk­schablone bedienen will - 'postmaterieller' als die Westliche. Beispielsweise geben im Osten mehr Menschen als im Westen an, daß die Bereitschaft, sich für andere einzusetzen, für sie ein sehr wichtiges Lebensziel sei (vgl.: ebd.: S.642).

Überhaupt stellt sich die östliche Gesellschaft sehr uneinheitlich dar. Es ist ein bemer­kenswerter Mischtyp aus Elementen, die als typisch für die Industriegesellschaft gelten sowie aus jenen, die eher 'moderneren' Ländern zugeordnet werden würden. (Z.B. der hohe Stand der Säkularisierung und liberale Familienmachtstrukturen gegenüber einer hohen Bewertung von Werten wie Disziplin und relativ geringere Wertschätzung von Meinungsfreiheit etc.) Diese seltsame traditionell-progressive Mischung verkompliziert die Beantwortung der politikwissenschaftlich interessantesten Frage: 'Wie wirken sich ver­schiedene politische Systeme auf der Ebene des Privaten aus?' Die Frage, ob und ggf. wie stark diese Mikroebene gegenüber einem Regime tat­sächlich 'Beharrungsvermögen' aufweist, bleibt unbeantwortet. Erschwert wird die Suche nach Antworten dadurch, daß es in der gegebenen Situation nahezu unmöglich erscheint, Wende-, durch das Politische Sy­stem und durch sonstige Faktoren (z.B. die verschiede­nen Ebenen des Wohlstandes) -be­dingte Einstellungen voneinander zu trennen. Daher halte ich den Ansatz von Geb­hardt/Kamphausen für nachahmenswert. Sie setzen anstelle konkreter Fragen und empiri­scher Vergleiche die Methode der teilnehmenden Beobach­tung. Nicht die Frage nach den Werten, sondern die nach den Mentalitäten steht im Vor­dergrund. Damit umgeht man ein Minenfeld insbesondere bei der Auswertung, was nicht heißt, daß man damit keine Er­gebnisse befordere. Und diese besagen, daß eindeutig die Gemeinsamkeiten überwiegen.



Die Frage nach den Unterschieden zwischen Ost und West haben einigen (wissenschaftlichen) Reiz. Doch muß auch gesagt werden, daß die Kluft bsplw. zwischen Jung und Alt, städtischer und ländlicher Bevölkerung, Armeren und Reichern, Männern und Frauen oder sogar diejenige zwischen Nord- und Süddeutschland in mancher Hinsicht größer ist als die hier Erörterte.









Literaturverzeichnis


Beck, Ulrich 1986: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. 11.Auflage (1995), Frankfurt am Main.

Conradt, David P. 1980: Changing german political culture, in: Almond/Verba: The Civic Culture revisted. 1989. S. 251-265

Fritze, Lothar (1994): Irritationen im deutsch-deutschen Vereinigungsprozeß, abgedruck- ter Vortrag in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Heft 27. S. 3-9.

Gebhardt, Winfried und Kamphausen, Georg (org. 1994): Mentalitätsunterschiede im vereinigten Deutschland? Das Beispiel zweier ländlicher Gemeinden, zusammengefaßt abgedruckt in: Aus Politik und Zeitgeschichte Heft 16/1995. S. 29-39.

Gerlach, Irene 1995: Stichwort 'Wertewandel', in: Andersen, Uwe und Woyke, Wichard (Hrsg.): Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland. 2.Auflage, Bonn. S. 639-642.

Greiffenhagen, Martin und Sylvia 1995: Stichwort 'Politische Kultur', in: Andersen, Uwe und Woyke, Wichard (Hrsg.): Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland. 2.Auflage, Bonn. S. 481-486.

Meyer, Ulrich 1995: Stichwort 'Politische Sozialisation', in: Andersen, Uwe und Woyke, Wichard (Hrsg.): Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland. 2.Auflage, Bonn. S. 486-488

Reuband, Karl-Heinz 1995: Autoritarismus und Familie - Zum Wandel familialer Soziali- sationsbedingungen Jugendlicher in Ost- und Westdeutschland, in: Reuband/Pappi, Franz Urban/Best, Heinrich (Hrsg.): Die Deutsche Gesellschaft in vergleichender Perspektive. Festschrift für Erwin K. Scheuch. Opladen. S. 221-242.

Rode, Friedrich A. 1989: Der Weg zum neuen Konsumenten. Wertewandel in der Wer- bung. Wiesbaden.

Veen, Hans-Joachim und Zelle, Carsten 1994: Zusammenwachsen oder Auseinanderdrif- ten? Eine empirische Analyse der Werthaltungen, der politischen Prioritäten und der nationalen Identifikationen der Ost- und Westdeutschen. Nr. 78 der Reihe: 'Interne Studien' der Konrad-Adenauer-Stiftung. 2.Auflage (1995), Sankt Augustin.

Weidenfeld, Werner und Korte, Karl-Rudolf 1991: Die Deutschen - Profil einer Nation. Stuttgart.




Ein weiteres Signal für eine deutlich veränderte Situation und des Selbstverständnisses der Frauen spricht der Autor an anderer Stelle an. 1952 zeigten sich 11% der Frauen gegenüber 46% der Männer politisch interessiert. 1972 waren das bereits 38%, während der Anteil der Männer 'nur' um 10% wuchs (vgl.: S.260).

Die folgenden Darstellungen basieren auf den von Rode aufgezeichneten Entwicklungen.

Dieser Entwicklung kommt bei Beck eine zentrale Rolle zu, da sie Anzeichen dafür sind, das traditionelle Schichten überhaupt nicht mehr bestehen, mithin jedes Schichtmodell hinfällig wird; s.u.

Sehr ähnlich (im anderen Zusammenhang) Rode, 1989: 59: 'Der gemeinsame Konsum der Familie geht zurück (gemeinsames Essen); an seine Stelle tritt die Satellitenfamilie, in der jeder seinen eigenen Wünschen nachgeht, ißt, wenn er Zeit und Hunger hat, eigene Interessen hat.[] Die Mutter ist nicht mehr `die vernünftige Anschaffungsverantwortliche`, sondern realisiert im Einkaufen persönliche Wünsche [] der anderen Familienmitglieder.'

Vgl. hierzu Weidenfeld/Korte 1991, 83: 'Die Zunahme von situations- und milieuspezifischen Ordnungsmustern statt alter Geborgenheiten hat die Individualisierungstendenzen gefördert und auch mitbedingt.'

Da der Band, in welchem der Artikel veröffentlicht wurde, eine Festschrift für Erwin K. Scheuch zum 65. Geburtstag ist, dienen die darin enthaltenden Artikel ein wenig auch der Heraustellung der herausragenden wissenschaftlichen Arbeiten des Soziologen. Hier speziell geht es darum, daß entgegen der Meinung vieler Sozialwissenschaftler Scheuch mit seiner These (Beharrungsvermögen grundlegender sozialer Institutionen) Recht zu behalten scheint. Im Abschnitt 'Zum Problem der Zuordnung von Ursachen und Wirkungen' werde ich diesen Punkt kritisch würdigen.

Die Hauptindikatoren waren: Erstens: 'Welchen Einfluß hatten Sie in dieser Zeit bei Familienentscheidungen, die Sie selbst betrafen? Hatten Sie viel, etwas oder gar keinen Einfluß?' (S.228) sowie Zweitens: 'Wie war es zu dieser Zeit, wenn eine Entscheidung getroffen wurde, die Ihnen mißfiel. Hatten Sie das Gefühl, sich ohne weiteres beschweren zu können, hatten Sie einige Hemmungen, sich zu beschweren oder war es besser, sich nicht zu beschweren?' (S.229)

Vgl. auch Weidenfeld/Korte, 1991: 78: 'In Ostdeutschland hat der Lebensbereich Arbeit einen wesentlich ausgeprägteren Stellenwert als in Westdeutschland. Die Möglichkeiten der Freizeitgestaltung waren zudem beschränkt.'

Weidenfeld/Korte bevorzugen es dagegen, von einem fließend werdenden Übergang der Bereiche Arbeit und Freizeit zu sprechen. Ihr Erklärungsansatz hierfür lautet: 'Das Bedürfnis nach selbstbestimmten Handeln wächst aus dem Freizeitbereich in die Arbeitswelt hinein, und umgekehrt werden beispielsweise arbeitsspezifische Einstellungen und Zeitplanungen mit in den Freizeitbereich übernommen.' (S.78)

Vgl. hierzu auch: Fritze, 94: 3-9. Der Autor beschreibt, wie die neue Situation auf den 'Ostbürger' wirkt. Auf der einen Seite vermißt er Elemente des alten Lebens (z.B. stärkeres 'Wir-Gefühl'). Auf der anderen Seite fühlt er sich vom Westen unverstanden (da er die DDR nich im erwarteten Maße verdammt) und auch überrollt (z.B. durch die Übernahme der westdeutschen Verwaltungsstrukturen und die Privatisierungsmechanismen). Hinzu kommt noch die vollkommen neue Situation, daß für die Bewohner der neuen Bundesländer zur Zeit eine Rückübertragung wesentlicher Lebensrisiken an den Einzelnen stattfindet, die ein Anwachsen an Unsicherheit erzeugt.

Vgl. auch Gerlach 1995. Sie spricht von einem Wertewandel als Synthese alter und neuer Werte und plädiert für einen Ansatz, der den Wandel nicht als einen Übergang en bloc vom Materialismus zum Postmaterialismus begreift (vgl.: S.640).

Lt Veen/Zelle 1994: 19 stehen 7% Konfessionslosigkeit im Westen 65% im Osten gegenüber.









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