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Klassik als Waffe und Faust als Nationalepos der DDR

Klassik als Waffe und Faust als Nationalepos der DDR

Der 5. August 1945 ist ein heißer Sommertag, erstmals seit Beendigung der Kampfhandlungen hat Generaloberst Wassili Tschuikow, Kommandeur der 8. Gardearmee und zweifacher Held der Sowjetunion, seine weiße Sommeruniform angelegt. An der Ruhestätte Goethes und Schillers ehrt er die großen deutschen Dichter, »die mit ihrem flammenden Wort gegen die schwarzen Mächte des Mittelalters kämpften, welche die Hitlerbanditen auferwecken wollten«. Ein Blasorchester der Roten Armee spielt Chopins »Trauermarsch«, der General läßt zwei riesige Kränze an den Sarkophagen aus Eichenholz niederlegen und verharrt einige Minuten in Schweigen. Zum Abschluß der Zeremonie legen Rotarmisten die Gewehre an und schießen Salut. Offiziere und Mannschaften, Weimarer Künstler, der neue Thüringer Landespräsident Dr. Rudolf Paul und Funktionäre der Thüringer KPD, die in Weimar zu einer Konferenz versammelt sind, nehmen an der kurzen Kundgebung teil. Gut dreißig Jahre später, am 5. Juli 1975, wird der Kulturminister der DDR, Hans-Joachim Hoffmann, in einem Interview mit dem Thüringer SED-Parteiorgan »Das Volk« dann behaupten, der Geist von Weimar sei mit diesen »Salutschüssen der Rotarmisten am Grab Goethes und Schillers« unwiderruflich an die Um zurückgekehrt. Es geht unserem durch die Geschichte vagabundierenden Geist eben nicht viel anders als dem Eaust, von dem Richard Friedenthal, dieser große Ketzer in den Augen der deutschen Goethe-Philologen, einmal meint, die ur sei von Goethe so ambivalent angelegt, daß sie eine Vielfalt der Deutungen erlaubt: »Der >Faust< hat den Sinn, den der Betrachter ihm verleiht.«




Welcher Geist von Weimar kehrt zurück? Mit Kränzen hatte vor Tschuikow auch schon der amerikanische Stadtkommandant Major William M. Brown die beiden Dichter bedacht, und Herder und Wieland gleich dazu. Fotos zeigen ihn, barhäuptig neben der Grabplatte Herders in der Stadtkirche St. Peter und Paul, deren Dach nach dem amerikanischen Bombenangriff im Februar 1945 zerstört ist und, mit Stahlhelm auf dem Kopf, an der Grabstätte Wielands in Oßmann-stedt. Im Zivilberuf ist Brown Pädagoge und Germanist, hat über ein »Faust«-Thcma eine Examensarbeit geschrieben und lehrt als Professor an der Columbia-University in New York. Auf den Fotos neben ihm stets der hochaufgeschossene, schlanke Hans Wahl, der wie Heinrich Lilienfein die Seßhaftigkeit und Anpassungsfähigkeit der geistigen Elite in Weimar personifiziert: Seit 1918 Leiter des Goethe-Nationalmuseums, seit 1928 zugleich Chef des Goethe- und Schiller-Archivs, später auch Vizepräsident der Goethcgesellschaft und Herausgeber des Goethejahrbuchs. Nach dem Abzug der Amerikaner begibt sich Wahl auf die wahrlich schwierige Suche nach besonderen freundschaftlichen Beziehungen des großen Klassikers zum russischen Sieger- und Brudervolk und schreibt im Jahrbuch 1947 über den Anstoß zur Ikonenforschung, den Goethe angeblich gegeben hat. Lilienfein, seit 1920 Generalsekretär der Deutschen Schillerstiftung, ein Freund von Adolf Bartels und Träger nationalsozialistischer Literaturpreise, wird 1952, im vierten Jahr der DDR, sogar Ehrenbürger Weimars.

Daß es der amerikanische Kommandant gewesen ist, der die abenteuerliche Odyssee der Dichtersärge beendet hat, vor denen der Gardeoberst dann Salut schießen läßt, rekonstruiert der Leiter des Thüringer Hauptstaatsarchivs, Volker Wahl (mit Hans Wahl nicht verwandt), nach der Wende im Detail. Begonnen hatte die letzte Irrfahrt Goethes und Schillers mit einem Befehl des Gauleiters, die eichenen Sarkophage zum Schutz vor Luftangriffen in einen Sanitätsluftschutzbunker in Jena zu transportieren. Das geschah als geheime Kommandosache und gegen den Willen der Goethegesellschaft. Die Weimarer Polizei übernahm die Überführung aus der Fürstengruft in die Saale-Stadt, und der verantwortliche Polizeipräsident mußte tiefstes Stillschweigen über den rbleib der Särge geloben. Getreu Hitlers Befehl der verbrannten Erde, gab Sauckel beim Anrücken der Amerikaner dann die Weisung, sie zu zerstören. Zwei Deutsche, der Chefarzt des Lazaretts und ein Jurist, beide übrigens Nationalsozialisten, die im Bunker zufällig auf zwei Riesenkisten gestoßen sind und sie identifiziert haben, hören von dem Sauckel-Befehl, verhüllen die Särge, lassen sie in einen anderen Raum bringen und verstecken sie hinter rbandsschränken und Röntgengeräten. Den entscheidenden Schritt zur Rückführung aber macht Emil Ludwig, Autor der meistgelesenen, von Goethe-Philologen heftig befehdeten Goethe-Biographie der zwanziger Jahre, der Ende April von Bamberg nach Weimar kommt. Der jüdische Autor, 1932 erst in die Schweiz, 1940 nach Amerika emigriert, berichtet als Korrespondent für amerikanische Zeitungen und will seine Deutschlandreise am Wallfahrtsort der deutschen Bildungsbürger mit der Niederlcgung eines Kranzes auf Goethes Sarg beenden. Doch er findet seinen klassischen Schrein leer. Als ihm der Kastellan sagt, die Reliquien seien an irgendeinem bombensicheren Ort, begibt sich Ludwig auf die Suche nach Jena, der Stadt mit den sichersten Bunkern weit und breit. Bei seinen Recherchen stoßt er auf einen der Deutschen, die die Särge vor der Zerstörung bewahrt haben und der ihm das rsteck zeigt. Umgehend gibt Ludwig Major Brown Bescheid, der sie durch einen Militärkonvoi nach Weimar holen läßt. »So hatte ein Nazi die Särge Goethes und Schillers verschleppt«, schreibt Ludwig im Juli 1945 im deutschsprachigen New Yorker »Aufbau«, »ein zweiter wollte sie vernichten, ein dritter hatte sie gerettet, ein aus Deutschland rbannter hatte geholfen, sie wiederzufinden, und eine alliierte Behörde wird mit einer Zeremonie die Heiligtümer dem deutschen Volke wiedergeben.« Am 12. Mai 1945 abends um sechs Uhr kommt es zur feierlichen zweiten Beisetzung Goethes und Schillers in der Fürstengruft, und es geht bei dieser kleinen Zeremonie sehr viel ziviler zu als bei der späteren Kundgebung der Sowjets an Goethes Grab. Hans Wahl spricht und beginnt mit Goethes rsen über Schillers Schädel, den der Geheimrat so lange auf seinem Schreibtisch aufbewahrt hat und der höchstwahrscheinlich gar nicht der seines Dichter-Freundes gewesen ist:

»Geheim Gefäß! Orakelsprüche spendend,
Wie bin ich wert, dich in der Hand zu halten,
Dich höchsten Schatz aus Moder fromm entwendend,
Und in die freie Luft zu freiem Sinnen,
Zum Sonnenlicht andächtig hin mich wendend.«

Als eine der größten Stunden seines Lebens bezeichnet der Major, der den Transport von Jena nach Weimar persönlich überwacht hat, die Heimkehr der Särge. Er spricht übrigens deutsch, zitiert Goethes »Über allen Gipfeln ist Ruh« und gibt dem einzigen Soldaten, der ihn begleitet, das Kommando: »Präsentiert das Gewehr!« »Es folgt eine Minute tiefsten Schweigens«, berichtet ein Augenzeuge. »Die Teilnehmer dieser Feier verlassen still die Halle und treten hinaus in den Frühlingstag Goethe und Schiller sind heimgekehrt, sie sind noch und wieder da!«

Daß Amerikaner etwas für deutsche Kulturgüter in Weimar tun, paßt so wenig in das spätere DDR-Proandakonzept wie die Tatsache, daß die SS-Bewacher in Buchenwald, Weimars Zwillingsort, vor den anrollenden Panzertruppen der III. Armee Pattons panisch die Flucht ergreifen und das Lager sich selbst überlassen. Deshalb entsteht die Legende von der Selbstbefreiung der Buchenwald-Häftlinge, einer heroischen antifaschistischen Saga, die immer weiter ausgeschmückt wird, bis sie schließlich zu jenem verlogenen Mythos gerinnt, nach dem die DDR beinahe nahtlos aus dem innerdeutschen Widerstand gegen Hitler hervorgegangen sei und das politische rmächtnis der eingekerkerten Häftlinge in die Tat umsetze. »Die rnichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung. Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ziel«, heißt es im Schwur von Buchenwald, der kommunistisch inspiriert ist, denn die anvisierte Ausrottung der Wurzeln zielt klar auf die Umwandlung der Gesellschaftsordnung nach sowjetischem Vorbild. So wird dieser Schwur zur Bibel des staatlich verordneten Antifaschismus in der DDR, nicht aber das Buchenwalder Manifest der demokratischen Sozialisten, das zwar ebenfalls die rnichtung des Nationalsozialismus samt seiner Ursachen fordert, aber sich nicht zum Nationalkomitee Freies Deutschland bekennt und nicht Partei für Moskau und Stalin nimmt wie das führende kommunistische Häftlingsaktiv -im Gegenteil. Was der österreichische Sozialist Benedikt Kautsky, was die deutschen Sozialdemokraten Ernst Thape und Hermann Brill, was drei Kommunisten und der Zentrumspolitiker Werner Hilpert unterzeichnen, dieses Programm der Buchenwalder Volksfront, will die Einbettung der künftigen deutschen Republik in eine europäische Staatengemeinschaft; es strebt zwar ein gutes, enges Einvernehmen mit Moskau, aber zugleich die deutsch-französische rsöhnung und den Eintritt Deutschlands in den angelsächsischen Kulturkreis an.

Hermann Brill, der einst Hitler als Gendarmeriekommissar von Hildburghausen vor dem Ausschuß des Thüringer Landtags vernahm, der als Widerstandskämpfer vom Volksgerichtshof zu zwölf Jahren Zuchthaus verurteilt wurde und seine Strafe gegen Kriegsende in Buchenwald verbüßt, tritt für einen unabhängigen, nicht von einer Besatzungsmacht vorgeschriebenen deutschen Weg für den Aufbau eines antifaschistischen Nachkriegsdeutschland ein. Major William Brown ernennt ihn zum Chefberater, zum Attache of the Military Government für den Stadt- und Landkreis Weimar; wenig später avanciert er zum ersten Regierungspräsidenten der Provinz Thüringen. Grund genug für die Sowjets, ihm nach Übernahme der Besatzungsgewalt zu mißtrauen, zumal Brill mit seiner Gründung eines »Bundes Demokratischer Sozialisten« sich nicht in das von der Sowjetischen Militär Administration (SMA) in Berlin verfügte Konzept der Parteiengründung einfügen will. Denn die Kommunisten bestehen zunächst auf der Neugründung einer eigenen Partei, um ihre Kader neu zu formieren. Erst wenn sie sich stark genug fühlen, wünschen sie den Zusammenschluß und werden in der kommenden Einheitspartei dann die Führung übernehmen.

Ganz anders der Buchenwald-Häftling Brill: Er fordert eine einige Arbeiterpartei von Anfang an, allerdings keine des kommunistischen Kaderprinzips, sondern eine mit demokratischer Struktur und freier Diskussion, nicht unähnlich der britischen Labourparty. Mit solchen Vorstellungen stellt er sich zunächst gegen die neu gegründete SPD in Berlin, vor allem aber gegen Walter Ulbricht, der schon einen Tag nach dem Abzug der amerikanischen Besatzung mit dem politischen Berater der SMA, Wladimir Semjonow, nach Weimar kommt und im Hotel »Elephant« mit der Bezirksleitung der KPD konferiert. Als Ulbricht und Brill einander in Weimar begegnen, treffen zwei Welten, zwei Konzepte und zwei alte Gegner aufeinander. Als KP-Bezirksleitcr hatte Ulbricht im Krisenjahr 1923 mit seinen proletarischen Hundertschaften die kommunistische Machtübernahme angestrebt; der Sozialdemokrat Brill hatte seine Pläne jedoch durchkreuzt, die Polizei mit der Aufrechterhaltung der Ordnung beauftragt und die Kommunisten damit überspielt. Jetzt steht der Moskau-Emigrant Ulbricht für das im Kreml entworfene deutschlandpolitische Nachkriegskonzept der Sowjets und der im Lande gebliebene Brill für ein antifaschistisches Aufbauprogramm, das im Widerstand und im Konzentrationslager entstanden ist. Zwar wird aus dem Brillschen Bund Demokratischer Sozialisten unter dem Druck der Sowjets schließlich doch ein thüringischer Landesverband der SPD, aber ihr Vorsitzender Brill, unstreitig Anhänger einer demokratischen Einheit, macht gegen die Zwangseinheit Front, als die Sowjets sie im Winter 1945/46 gegen wachsenden Widerstand in den Reihen der Sozialdemokraten in der Ostzone durchpeitschen. Zweimal vom NKWD verhaftet, bleibt ihm schließlich keine andere Wahl, als im Herbst 1946 in den Westen zu gehen. In Wiesbaden wird er Staatssekretär in der Hessischen Staatskanzlei.

Kaum ist der Krieg beendet, wird der vielgeschundene Mythos Weimar von dem anderen Totalitarismus des Jahrhunderts heimgesucht, instrumentalisiert und mißbraucht. War Schiller einst »Kampfgenosse Hitlers«, wird sein Erbe nun zum »mächtigen Bundesgenossen des revolutionären Rußland«; warb Goethe einst für körperliche Ertüchtigung, Uniformen und olympische Spiele, marschiert er nun als »fortschrittlicher Bürger und Kämpfer für die deutsche Einheit« in den Reihen der kommunistisch gelenkten Nationalen Front; hieß die weltanschauliche Schulungsfeier der NSDAP im Deutschen Nationaltheater einst »Stirb und Werde«, lädt die SED im Januar 1949 dort zur Lenin-Gedächtnisfeier. Wenn Ulbricht und Semjonow schon am 4. Juli 1945 nach Weimar kommen, noch ehe das Gros der sowjetischen Besatzung Quartier bezogen hat, steht dies für die zentrale Bedeutung, welche der Mythos Weimar und die Klassik in den strategischen Plänen von SMA und SED einnehmen sollen. »Hier in Weimar haben wir 1945 mit unserer Kulturpolitik begonnen, von hier hat sie ihren Ausgang genommen«, wird Ulbricht in der Ausstellung »Arbeiterbewegung und Klassik« 1964 in Weimar zitiert. Tatsächlich drängen Semjonow und Ulbricht schon im Juli 1945 auf die Beseitigung der Schäden, welche die klassischen Stätten durch Bombenangriffe erlitten haben - darunter das Goethe- und Schillerhaus und die Stadtkirche, in der Luther und Herder predigten.

Auf einem Empfang nach der Schillerehrung in Weimar 1959 erinnert Ulbricht an seinen ersten Besuch nach dem Krieg: »Der Bürgermeister und auch andere Persönlichkeiten der Stadt waren sehr erstaunt, daß noch vor dem Einzug der sowjetischen Besatzungstruppen in Weimar die Aufgabe gestellt wurde, als erstes die Gedenkstätten unserer großen Nationaldichter wiederherzustellen und der Bevölkerung zugänglich zu machen.« In östlichen Chroniken ist stets die Tatsache vermerkt, daß angloamerikanische Bomber das Werk der Zerstörung verrichteten, die Sowjets erscheinen dagegen stets als Initiatoren des Aufbaus. Rotarmisten greifen zu Hacke und Schaufel und legen das Goethe-Schiller-Denkmal vor dem Nationaltheater frei, das Gauleiter Fritz Sauckel zum Schutz gegen Bomben einmauern ließ. »Die Rote Armee vernichtet die Kulturwerte nicht«, hat Generaloberst Tschuikow an den Särgen Goethes und Schillers mit deutlich antiamerikanischer Spitze gesagt, »sie schützt sie, weil die Rote Armee die Armee des führenden, des kulturellsten Volkes ist« [Hervorhebung von P.M.].
Kein Zweifel, daß sich sowjetische Kulturoffiziere energisch um die Wiederbelebung des Kulturbetriebs bemühen und dabei an Tempo ihre westlichen Alliierten übertreffen. Kein Zweifel aber auch, daß aus den sowjetischen Befreiern schon Ende 1945 stalinistische Unterdrücker geworden sind. Als der Chef der sowjetischen Militär-Administration, Marschall Wassili Danilowitsch Sokolowski am 11. Februar 1949 befiehlt, der zweihundertste Geburtstag Goethes müsse das »größte Ereignis im kulturellen Leben Deutschlands werden«, ist die Zwangsvereinigung längst vollzogen und der Grundstein zu einer neuen deutschen Diktatur gelegt. Oberst Tulpanow, der Einpeitscher der neuen SED, auf Fotos und Wochenschaubildern jener Zeit mühelos als der Mann mit der phänomenalen Glatze, den breiten Schultern und dem brutalen Charme auszumachen, überwacht seit Herbst 1948 ihre Bolschewisierung, damit sie sich zur Partei neuen Typs mausert. Im Auftrag Sokolowskis organisiert und kontrolliert er die Vorbereitung der Goethe-Feiern.

Der Kalte Krieg ist ausgebrochen, und unter Tulpanows Aufsicht und Anleitung wird die Sagengestalt des Geheimrats 1949 gegen den Westen in Stellung gebracht: Es sei grundfalsch, schreibt der Sowjetoberst im August 1949 in Heft 15 der Halbmonatsschrift »Neue Welt«, die im sowjetischen rlag »Tägliche Rundschau« in Berlin erscheint, den größten deutschen Dichter den Anhängern des westlichen Separatstaates und seines »antinationalen, reaktionären Lagers« zu überlassen, das ihn zum Kronzeugen für die Föderalisie-rung und Internationalisierung Deutschlands mache. Um den Autor des »Faust« »für die politischen Ziele des nationalen-demokratischen Lagers« im Osten in Dienst zu nehmen, stellt er die These von Goethe als »Erzieher des deutschen Volkes zu nationalem Selbstbewußtsein«, vom großen Patrioten und »rmittler der fortschrittlichsten Ideen seiner Zeit« gegen die im Westen gängige Interpretation vom Weimarer Weltbürger und Kosmopoliten, der seinen Frieden mit den in Deutschland herrschenden feudalen rhältnissen machte.
rständlich wird dieser unwahrscheinlich grobschlächtige Griff der kommunistischen Proanda nach der deutschen Klassik und vor allem Goethe im Rückblick nur dem, der den vorherrschenden Zeitgeist nach der deutschen Katastrophe in Rechnung stellt. Nichts hat »die Epoche des Faschismus und die Grauen des Krieges so ungebrochen überlebt wie die Klassiker, allen voran Goethe«, schreibt Robert Mandelkow über die west-östlichen Goethe-Bilder nach 1945. Für den Westen gelte eine »fast süchtige Hinwendung zu Goethe als dem höchsten Repräsentanten eines besseren und humanen Deutschland«. Als Beleg zitiert er Frank Thiess, der in seinem Aufsatz »Heimkehr zu Goethe« schrieb: »Ich behaupte und stehe unbedingt zu dieser Behauptung, daß es allein Goethes Geist gewesen ist, der die totale rgiftung und Selbstzerstörung des deutschen Volkes verhinderte. Aus seinem Geiste heraus erfolgte nicht nur der Kampf der besten Emigranten, sondern auch jener Männer und Frauen, die ich der inneren Emigration zuzähle Es ist, wie mir von unzähligen Seiten bestätigt wurde, nie soviel Goethe gelesen worden wie in den letzten zwölf Jahren. An die Tiefe und Menschlichkeit seiner Weisheit klammerten wir uns in der Not unserer schamerfüllten Tage. Aus der kristallenen Reinheit seiner Sprache schöpften wir Mut, wenn die hemmungslosen Flutmassen ungezügelter Sprachverwilderung über uns hinströmten. Aus der Ruhe und Güte seines Wesens glaubten wir des deutschen Volkes besseres Selbst zu erkennen. Aus der unsterblichen Schönheit seiner rse tranken unsere durstigen Kehlen wieder wie aus reinem Quell die Hoffnung, daß er stärker sein werde, stärker sein müsse als die Riesenmaschine, deren Donnern und Rattern den Schlag des deutschen Herzens übertönte.«

Kein Zweifel: Trost und Zuflucht suchen die Deutschen der frühen Nachkriegszeit bei Goethe, sein Werk verschafft die Gewißheit, daß es ein unzerstörbares deutsches Erbe gibt, an das man sich nach dem Sturz aus den schwindelnden Höhen nationalistischer Hybris, rassistischen Herrenmenschentums und Großdeutschlandwahns in tiefste Tiefen klammert wie an einen Renungsring. »Schreiben Sie einen Goethe für Ertrinkende«, hatte Ortega y Gasset 1932 in seinem Aufsatz »Um einen Goethe von innen bittend« gefordert. Als er 1949 über einen »zweihundertjährigen Goethe« in Hamburg spricht, kommt er gerade von einer internationalen Goethe-Tagung in Colorado, an der als einzige Deutsche Ernst Robert Curtius und Karl Reinhardt teilgenommen haben. »Sie kamen wie Schiffbrüchige«, berichtet Ortega, aber nach den Debatten über Goethe seien sie wie verjüngt gewesen: die Falten entwichen ihren Gesichtern, »sie waren wieder sie selbst«.
Hinzu kommt nach 1945 die vermessene Hoffnung, die Rückkehr zu Goethe möge helfen, die Deutschen in den Augen der Welt zu rehabilitieren. Wenn Karl Jaspers, der Frankfurter Goethepreisträger 1947, die unbedingte Vorbildfunktion Goethes bestreitet und in seinem Vortrag »Unsere Zukunft und Goethe« sagt, es dürfe »keine Rechtfertigung durch Berufung auf Goethe geben«, stellt er damals die Ausnahme dar. Trotz Jaspers, der Goethes Ambivalenz in ethischen und metaphysischen Fragen, ja seine Standpunktlosigkeit beklagt, treibt der Goethe-Kult im Nachkriegsdeutschland die seltsamsten Blüten. Der Historiker Friedrich Meinecke ruft zur Gründung von »Goethegemeinden« auf, die Lesungen aus den Werken geradezu zelebrieren sollen, und der Philosoph Fritz Joachim von Rintelen ernennt den Klassiker gar zum Modell des typisch abendländischen Menschen.

Der größte deutsche Dichter als rfechter jenes Kampfbegriffs »Abendland«, in dessen Zeichen sich der Westen kulturpolitisch und proandistisch gegen den Stalinismus formiert - es bedarf nicht erst dieses Stichworts, damit der Osten das Goethejahr zu einer machtvollen Demonstration seiner politischen Ziele nutzt. Die sowjetische Zone und die daraus erwachsende DDR begreifen sich als Pflegestätte der nationalen humanistischen Kultur, wie Walter Ulbricht einmal sagt; das klassische Weimar wird in den Nachkriegsjahren zur wichtigsten kulturpolitischen »Kampfposition« der SED in ganz Deutschland. Die DDR nutzt die Rückbesinnung auf die Klassik als Waffe im ideologischen Kampf »gegen die rsuche der amerikanischen Überfremdung in dem westdeutschen Staat«, wie es in einer späteren Programmerklärung zur rteidigung der deutschen Kultur heißen wird.
Gleich drei Großveranstaltungen in Weimar dienen dem neuen Regime in Ostdeutschland, um im Goethejahr 1949 seinen Alleinvertretungsanspruch auf das »wahre« klassische Erbe im geteilten Deutschland zu unterstreichen und die Klassik zum Zentrum eines neuen Nationalbewußtseins zu machen. Dreimal werden Kränze an den Dichter-Sarkophagen niedergelegt, dreimal werden den Weimarer Großen Eackelzüge gebracht, dreimal blickt die Marmorbüste Goethes aus grünen Lorbeerzweigen auf die Eeiernden. Es beginnt am 21. März mit den Goethetagen der Jugend, als FDJ-Chef Erich Honek-ker im festlich geschmückten Nationaltheater rtreter sowjetischer Komsomolzen begrüßt und vollmundig behauptet, die SED werde das rmächtnis Goethes vollstrecken. Anderntags hält Grotewohl in der Weimarhalle seine Hammer- oder Amboß-Rede, die als eine seiner besten gilt und unverkennbar die Handschrift des Leipziger Germanisten Hans Mayer trägt, der bei ihrer Ausarbeitung die Feder führte und nach dem Bau der Mauer in den Westen gehen wird. Vom tragischen Zwiespalt, der das Leben des größten nationalen Dichters durchzieht, spricht der SED-Vorsitzende, jenem Zwiespalt zwischen der »Prosa seines Lebens und dem Leben seiner Poesie«, in dem er die große Kluft zwischen Geist und Macht erkennt: »Die Macht war geistlos und der Geist war machtlos.« Um diesen Zustand zu überwinden, habe die Parteijugend die Macht in eigene Hände zu nehmen, statt sich von fremden Kräften lenken und mißbrauchen zu lassen. Das Motto dafür entnimmt er Goethes »Kophtischem Lied«:

»Du mußt herrschen und gewinnen
Oder dienen und verlieren,
Leiden oder triumphieren,
Hammer oder Amboß sein.«

Nach der selbstverschuldeten militärischen, politischen und geistigen Katastrophe, in der deutscher Nationalismus und »Drittes Reich« endeten, klingt so schlecht nicht, was Grotewohl da empfiehlt. Nur ist die Jugend, die er als geübter Redner so eindringlich beschwört, in die Rolle des historischen Hammers hineinzuwachsen, längst zum Amboß für eine auf sie einhämmernde totalitäre Ideologie geworden, auch wenn diese sich gern mit humanistischen Gewändern tarnt. Wenige Tage vor seiner Rede hatte die SED in einer Entschließung des Parteivorstands erklärt, daß »durch den realen Humanismus des Marxismus auch die Humanitätsidee der klassischen deutschen Dichter verwirklicht« werde. Nahezu alle Leitthesen, mit denen die SED sich über Jahrzehnte das klassische Erbe dienstbar zu machen sucht, werden in den zahllosen Reden und Artikeln zum Goethejahr 1949 vorweggenommen.
Bei ihrer Erbeancignung Goethes schlägt die SED die merkwürdigsten Kapriolen. Es gehe heute darum, Goethe mit anderen, neuen Augen zu sehen, meint Johannes R. Becher in seiner Festrede zum Goethejahr. Goebbels hatte einst aus dem »West-östlichen Divan« zitiert, was der Dichter Suleiken in den Mund gelegt: »Höchstes Glück der Erdenkinder/ sei nur die Persönlichkeit« - ohne freilich hinzuzufügen, daß Goethe dies sofort relativiert, wenn er den angebeteten Hatem sagen läßt: »Kann wohl sein! so wird gemeinet;/ Doch ich bin auf anderer Spur.« Goethes Erkenntnis, daß »der einzelne nichts ist ohne das Ganze«, wird jetzt für den realen Sozialismus bemüht, auch wenn diese Devise zuvor das Prinzip der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft hatte stützen müssen.

Weil er alles, was er sah, hörte und beobachtete, fleißig gesammelt und verarbeitet hat, wird Goethe in der roten Diktatur zum Vorreiter des Kollektivismus gemacht. Zum Beweis zitiert man Eckermann, der am 17. Februar 1832, wenige Wochen vor Goethes Tod folgende Sätze seines Meisters notierte: »Im Grunde sind wir alle kollektive Wesen, wir mögen uns stellen, wie wir wollen Wir müssen alle empfangen und lernen, sowohl von denen, die vor uns waren, als von denen, die mit uns sind. Selbst das größte Genie würde nicht weit kommen, wenn es alles seinem Innern verdanken wollte.« Sind, so besehen, nicht die meisten großen Schriftsteller und Dichter kollektive Wesen? Doch mit diesem Bekenntnis, meint Anton Ackermann, in frühester Nachkriegszeit einmal der rfechter eines besonderen, doch schnell vergessenen deutschen Wegs zum Sozialismus, im August 1949 in der »Neuen Welt«, ragt Goethe »weit über die größten seiner Zeitgenossen hinaus mit der Einsicht, daß sein Werk nicht die isolierte Leistung eines einzelnen ist, sondern ein Produkt kollektiven Charakters«. Und Grotewohl folgert, daß Goethe sich »in schärfster Weise gegen jede Form des Individualismus gegen jeden Gegensatz des Genies zur Gesellschaft« ausgesprochen habe. Ist dieser Goethe wirklich volkstümlich, hat er sich nicht resignierend eingestanden, daß sein Werk, anders als das Schillers, nicht populär, nicht massenwirksam sei und nur von wenigen gewürdigt werde? Sei's drum. Im März steht in der Thüringer Parteizeitung auf einer Goethe-Sonderseite zu lesen, wie erstaunlich volksnah doch Goethe gewesen sei, denn er habe - zu wem wohl, wenn nicht wiederum zu Eckermann? - von der Notwendigkeit gesprochen, »mundgerecht für die arbeitende Klasse zu schreiben«. Und hat er nicht nach der Schlacht von Valmy jenen berühmten Satz gesagt, von hier und heute gehe eine neue Epoche der Weltgeschichte aus? »Das Valmy unserer Tage«, so das SED-Blatt, »wird geschlagen in den volkseigenen Betrieben unserer Zone, in jeder Mehrleistung unserer Hennecke-Aktivisten.«
Als tausend dieser Henneckes am 8. Juni zur »Weimarfahrt der Aktivisten« aufbrechen, der zweiten großen ranstaltung des Goethejahrs, als in der Ilm-Stadt wiederum die »leuchtenden Fahnen flattern«, zitiert der FDGB-Vorstand im Begrüßungswort Goethe, als habe dieser gut hundertfünfzig Jahre vor der SED zur Sollerfüllung aufgerufen: »Das Muß ist hart, aber beim Muß kann der Mensch allein zeigen, wie's inwendig mit ihm steht. Willkürlich leben kann jeder.« Zwar hätte dieser Spruch ebensogut für den spartanisch-konservativen Geist der preußischen Erziehung herhalten können, doch im Weimar von 1949 gibt Goethe als »kämpfend tätiger und sich ständig entwickelnder Mensch« nun einmal den Aktivisten der Ostzone das Motto vor: »Sich rastlos zu betätigen, und als Pflicht zu erkennen, die Forderungen des Tages zu erfüllen.« Und in vielem sind preußisches oder nationalsozialistisches und das neue stalinistisch-sozialistische Vokabular so fern ja nicht. Gerd Dietrich spricht in seiner Studie über »Politik und Kultur in der SBZ 1945 - 1949« davon, daß die geschickte Nutzung »demagogischer Schemata wie gehabt« Anklang fand und Denkweisen und Charakterzüge aus der Nazizeit der neuen Gesellschaft sehr zupaß kamen - etwa ein großes ideologisches Gläubigkeitsbedürfnis und ein unbedingter Autoritätsglaube. »Das übersteigerte Konzept der [sozialistischen; P.M.] Umerziehung wurde so zur Erziehung für eine neue Diktatur«, schreibt Dietrich, »wenn das auch die Erzieher verleugneten und die Erzogenen nicht wahrhaben wollten.«

Auf das Fortleben alter Vorstellungen in neuem Gewand hafte vor ihm schon Franz Fühmann aufmerksam gemacht, der sich, von Schuldbewußtsein geplagt, vom gläubigen Nationalsozialisten zum treuen Anhänger des neuen Systems gewandelt hatte, bis ihn nach dem Einmarsch in die Tschechoslowakei 1968 tiefste Skepsis überfiel. In seinem Buch »Vor Feuerschlünden. Erfahrungen mit Georg Trakls Gedicht« spricht er vom »Wiedergewinnen politischer Werte durch den Dennoch-Gebrauch des bis ins Mißbrauchtsein Mißbrauchten im Namen revolutionärer Erneuerung: >VolkVaterlandZukunftSinn des Lebens>; >Gemeinnutz>; >OpfermutGlaubenEinsatzKampfHingabewahr< - Es wurde das wichtigste Wort jener Zeit.«
Goethe, der große lebensbejahende Realist, wird für die SED zum Kronzeugen gegen die Moderne, ein Kampf, der der braunen und der roten Diktatur gemeinsam ist und der seit Anfang des Jahrhunderts in Weimar Tradition besitzt. Für die Kunst habe Goethe »die objektiven Gesetze des Maßes und Wertes« gefordert, schreibt Alexander Abusch im Thüringer »Volk« im Januar 1949, er sei für die »rmenschlichung der Kunst und des Lebens« eingetreten und habe das Abstrakte als lebensfremd und kunstfeindlich abgelehnt. Goethe als früher Wegbereiter des sozialistischen Realismus und Bundesgenosse der neuen Diktatoren in der anhebenden Formalismusdebatte? Abusch, der einmal Kulturminister der DDR-Regierung sein wird, schreckt davor nicht zurück: Der Dichter sei Gegner eines »schrankenlosen Subjektivismus« gewesen, als er erklärte, daß »alle im Rückschreiten und in der Auflösung begriffenen Epochen subjektiv sind, dagegen alle fortschreitenden Epochen eine objektive Richtung haben«. Und Johannes R. Becher, einst ein wilder Expressionist, der sich im Moskauer Exil zum Neoklassizisten wandelte, preist Goethes Stil als großes Vorbild des Realismus an: »In der rgegenständlichung liegt die rmenschlichung, und in dem starken Betonen des Konkreten im Künstlerischen, wie es von Goethe geschieht, scheint auch uns sich der Weg zu einer neuen Dichtung zu eröffnen und nicht in einer sterilen Formsuchc und Formpfuscherei.« Die Klassikrezeption der DDR, meint Robert Mandelkow, habe von Beginn an die Funktion gehabt, » regulativ und normsetzend für eine Asthetik des sozialistischen Realismus zu wirken«.

Die Rekrutierung Goethes für die Ziele der SED gipfelt in der Kamne für die östliche Deutschlandpolitik und die deutsche Einheit, die bei den Geburtstagsfeiern in Weimar eine zentrale Rolle spielt. »Goethe als Künder der nationalen Einheit Deutschlands« überschreibt Alexander Dymschitz, wichtigster Kulturoffizier der Sowjetischen Militäradministration, seinen Artikel in Heft 16 der »Neuen Welt«, in dem er den Klassiker gegen die »bösartige und verleumderische Legende« in Schutz nimmt, er habe stets nur vom Menschlichen gesprochen und sei kein Patriot gewesen. »Die Tradition kosmopolitischer Goetheverzerrung ist uralt und hoffnungslos veraltet«, liest man da, und: »Die pseudohumanistischen Redensarten der heutigen kosmopolitischen Deutschen amerikanischer Denkungsart lassen jede Spur von wirklicher Liebe zum Menschen vermissen « Wer weiß, welchen entscheidenden Einfluß die Sowjetische Militäradministration und ihre Kulturoffiziere damals auf den ostzonalen Kulturbund und die Kulturpolitik der im Entstehen begriffenen DDR nehmen, wird die Bedeutung solcher Worte schwerlich unterschätzen können. Dymschitz gibt im August 1949 nur die Losung wieder, die er schon im Frühjahr 1948 ausgegeben hatte, als sich die Kulturabteilung beim Zentral-Sekretariat der SED erstmals mit den Vorbereitungen zum Goethejahr beschäftigte. Hinter dem »kosmopolitischen Geschwätz« vom dem »Menschen überhaupt« sieht er die Ideologie des deutschen Kleinbürgers, »des Knechtes, der vor dem amerikanischen Boss gehorsam den Nacken beugt und bereit ist, für das Linsengericht seines persönlichen Wohlergehens sein Vaterland en gros und en detail zu verkaufen«.

Wie ein Leitmotiv zieht sich die grundfalsche These von Goethe, dem großen Nationalen, durch alle Ehrungen des Ostens in diesem Goethejahr. »Mir ist nicht bange, daß Deutschland nicht eins werde « - dieser Goethesatz, unter dem 23. Oktober 1828 von Eckermann notiert, wird immer neu zitiert und prangt als fette Unterzeile auf der Titelseite des Thüringer »Volks« vom 27. August 1949, dem zweiten Tag der »Goethe-Festtage der deutschen Nation«. Daß Goethe im selben Gespräch mit Eckermann die deutsche Kleinstaaterei und ihre vielen Residenzen verteidigte, weil sie die Kultur beförderten, wird unterschlagen. »Würden sie aber wohl bleiben, was sie sind, wenn sie ihre eigene Souveränität verlieren und irgendeinem großen deutschen Reich als Provinzialstädte einverleibt werden sollten? Ich habe Ursache, daran zu zweifeln.« Goethe hatte sich also über die Folgewirkungen einer möglichen Einheit eher besorgt gezeigt, aber das paßt der SED, die einen neutralen, zentralistischen Nationalstaat anstrebt, natürlich nicht ins Konzept. Dafür steht auf der nämlichen Titelseite oben rechts ein Kasten mit der Überschrift »Einheit ist allmächtig«. Es handelt sich um ein Zitat aus dem »Wilhelm Meister«, aber dort steht es in keinerlei politischem Kontext und lautet: »Einheit ist allmächtig, deshalb keine Spaltung, kein Widerstreit zwischen uns. Insofern wir Grundsätze haben, sind sie uns alle gemein.« Kein Zitat, keine Goethe-Außerung zu Eckermann, Riemer, Soret, dem Erzieher Carl Alexanders, oder wem immer sonst bleiben ausgespart, wenn sie nur in die von Tulpanow und Dymschitz, Ackermann und Abusch vorgegebene Agitprop-Linie passen, auch wenn Kontext und genauer Wortlaut die proandistische Nutzung nur zu oft der Lächerlichkeit preisgeben. Besteht die SED, deren Parteiblatt das »Volk« ja ist, etwa nicht auf heftigstem Widerstreit mit eben jenen »kosmopolitischen Deutschen amerikanischer Denkungsart« im Westen, einem Widerstreit, der nach den zitierten Worten Goethes nicht statthaben soll?

Thomas Mann, in der sowjetischen Zone wie ein Staatsbesucher empfangen und von der Bevölkerung begeistert gefeiert, wird von demselben Blatt als »Dichter des ganzen Deutschland« und »Freund des Humanismus und der Einheit« begrüßt. Zwar fordert er, daß eine Menschheit, die im Begriff sei, »sich auf eine neue Stufe ihrer sozialen Rechte zu erheben«, die »schwer erkämpften und unveräußerlichen Errungenschaften der Menschheit wie Freiheit, Recht und Würde des Individuums« dabei nicht preisgeben dürfe, was man als - freilich milde - Mahnung an die Adresse des neuen Regimes im Osten verstehen mag. Doch reiht er, der die Ostzone grundsätzlich die »sogenannte Ostzone« nennt, sich mit dem, was er in Weimar vorträgt, beinahe nahtlos in die östliche Einheitskamne ein. »Ich kenne keine Zonen«, sagt der Autor der »Lotte in Weimar« in seiner Goethe-Rede, die er am 25. Juli 1949 in der Frankfurter Paulskirche vorgetragen hat und die er am 1. August im Deutschen Nationaltheater wiederholt. »Mein Besuch gilt Deutschland selbst, Deutschland als Ganzem und keinem Besatzungsgebiet. Wer sollte die Einheit Deutschlands gewährleisten und darstellen, wenn nicht ein unabhängiger Schriftsteller, dessen wahre Heimat die freie, von Besatzungen unberührte Sprache ist?« Nachdem er schon von der Stadt Frankfurt mit dem Goethepreis ausgezeichnet wurde, erhält er nun einen »Goethe-Nationalpreis« des Ostens, gestiftet vom »Deutschen Goetheausschuß«, der die Weimarer Feiern vorbereitet hat, gewidmet dem »Erben Goethe-schen Geistes in unserer Zeit, dem großen humanistischen Dichter deutscher Sprache, dem mutigen Kämpfer für den Weltfrieden«. Die Preissumme, zwanzigtausend Ostmark, reicht er umgehend an die evangelische Kirche für den Wiederaufbau der Herderkirche weiter.
Daß die nationalen Goethe-Feiern eine Art symbolischen Auftakt für die Bildung der DDR darstellen, schreibt Kurt Schulmeister 1977 rückblickend in seiner »Geschichte des Kulturbundes«. Und wenn die Deutsche Wirtschaftskommission in Berlin, die auf wirtschaftspolitischem Gebiet die künftige DDR-Regierung vorwegnimmt, für diese Feiern sogenannte Nationalpreise stiftet, paßt dies trefflich zu seiner These. In einer bombastischen Feier werden sie am 25. August 1949 im Deutschen Nationaltheater durch Wilhelm Pieck, den künftigen Präsidenten des Arbeiter- und Bauernstaates, an Wissenschaftler und Künstler, darunter Johannes R. Becher, Heinrich Mann (in Abwesenheit), Friedrich Wolf und Helene Weigel vergeben, aber auch an Arbeitskollektive und natürlich an Adolf Hennecke, den Heros der Aktivisten-Bewegung.

Zum Höhepunkt des Goethejahrs hält Johannes R. Becher anderntags eine Festrede, die an nationalem Pathos schwerlich zu überbieten ist und zahlreiche Ungereimtheiten enthält. Ausgerechnet von Goethe, dem eingefleischten Gegner aller Unordnung und Revolution, der »die demokratischen Kräfte in ihrer Geburtsstunde bekämpfte« (Wilhelm Mommsen), behauptet er, es sei »der Geist der Französischen Revolution, der ihn ergriffen und in seinen wesentlichen Zügen geprägt hat, und dessen rkörperung er geworden ist wie keiner unter allen Deutschen«. Dann wieder heißt es, getreu der Dymschitz-Losung vom großen Patrioten, Goethe habe »die reinigung der deutschen Stämme zu einer Nation« als die »geschichtliche Vollendung seines Lebenswerkes« betrachtet, ja als rwirklichung eines Traumes, den er von »Jugend an durch sein ganzes Leben hindurch träumte«. Eine Goethe-Renaissance ist für Becher Voraussetzung der deutschen Wiedergeburt und eines neuen, stolzen Nationalbewußtseins, das er für erforderlich hält.
In nationalem Sack und deutscher Asche geht der Moskau-Emigrant Becher wahrlich nicht, diese Rolle bleibt dem deutschen Westen vorbehalten, der sich angeblich neofaschistisch formiert und nach Abusch der Gehirnwäsche der »geistigen Marshallisierung« unterzogen wurde. »So tief ist unsere Substanz«, behauptet Becher, »so unabdingbar ist das Beste, das wir Deutsche unser Eigen nennen, verwandt mit dem Wesen Goethes, daß, in diesem Einssein und Aufeinander-Ange-wiesensein, es undenkbar ist, daß ein freiheitliches, friedliches Deutschland erstehen kann, in dem nicht Goethe in allen deutschen Herzen beheimatet wäre.«
Die rbiegung zum Vorkämpfer des Nationalen und der deutschen Einheit hatten schon wilhelminische Goethe-Interpreten versucht und behauptet, Goethe, der zum Kummer Alexander von Humboldts von Napoleon auch nach dessen Niederlagen stets als »meinem Kaiser« sprach, habe napoleonischcr Fremdherrschaft bewußt ein »Reich deutschen Geistes« entgegensetzen wollen. Daß zeitgenössische marxistische Kritiker wie Walter Mehring solche rsuche damals als »rrat an Goethe und der Klassik« denunzierten, stört die SED nicht im geringsten bei dem Vorhaben, welches Robert Mandelkow schlicht die »Restitution eines Goethcbildes« nennt, das in vielen Zügen jenem des 19. Jahrhunderts nach der Reichsgründung gleicht.
Beispielhaft dafür ist auch die reinnahmung des »Faust«, dessen zweiter Teil geradezu zum Nationalcpos der DDR avanciert. »Wenn ihr wissen wollt, wie der Weg vorwärts geht«, so Walter Ulbricht 1958 auf dem III. Kongreß des Nationalrats der Nationalen Front, »dann lest Goethes >Faust< und Marx' kommunistisches Manifeste Dann wißt ihr, wie es weitergeht.« Den »Faust« hatten schon Becher und Grotewohl als Legitimationsfaktor für die Politik der entstehenden DDR bemüht - der »freie Mensch und das freie Volk auf freiem Cirund« sei die Forderung unserer Epoche geworden, proklamiert Becher. Grotewohl zitiert die rse, die Ulbricht dann als Goethesches Leitmotiv für den sozialistischen Aufbau in der Stalin-Allee einmeißeln läßt, im Wortlaut:

»Solch ein Gewimmel möcht ich sehn,
Auf freiem Grund mit freiem Volke stehn!«

Armer, gemarterter, immerzu mißbrauchter Goethe! Es sind dies rse, deren sich auch ein Goebbels gelegentlich bediente, die in keiner programmatischen Rede Honeckers fehlen durften und die schon im Wilhelminismus für die Außenpolitik des Reichs hatten herhalten müssen. Ulbricht träumt gar von einem »Faust III«, den Goethe nicht mehr hat verfassen können, aber den, so der Staatsratsvorsitzende 1962, die Werktätigen und Wissenschaftler der DDR begonnen hätten, mit »ihrem Kampf für Frieden und Sozialismus« Tag für Tag und Zeile für Zeile zu schreiben. Faust als das Ideal des arbeitenden schöpferischen Menschen; Faust der Kolonisator, der dem Meer kostbares Land durch Eindeichung abgewinnt und damit im marxistischen Sinne die Natur dem Menschen unterwirft, um sie zu gestalten; Faust schließlich als Utopist, der als Sterbender die Vision vom freien Volk auf freiem Grunde hat - die Neuaneignung der Faustdichtung für den realen Sozialismus geht so weit, daß Gerhard Scholz, der aus dem schwedischen Exil zurückgekehrte Germanist, Faust selbst für die Bodenreform in Anspruch nimmt. Goethe habe die ur des Faust, heißt es in seinen »Faust-Gesprächen«, die in den Jahren 1964/65 von der Zeitschrift »Forum« veröffentlicht werden, als Exekutor dessen angelegt, was »von den kommenden Klassen vollzogen, konkrethistorisch wird«. Parallelen zum Wilhelminismus, der die Landgewinnungsszene als Eindeichung des Oderbruchs durch Friedrich IL, oder zum Nationalsozialismus, der sie im Sinne der Lebensraum-Politik gedeutet hat und bei der Einweihung eines neuen Adolf-Hitler-Koogs stolz auf den »Faust« verwies, schrecken nicht.

Scholz, seit Mai 1949 Direktor des Goethe-Nationalmuseums und des Goethe- und Schiller-Archivs, ist auch der Begründer eines Goethezeit-Museums, das rechtzeitig zu den Feierlichkeiten zum Goethejahr im Weißen Saal des Schlosses in Weimar eröffnet wird. Nach seinen eigenen Worten versucht es, »die Bedeutung der Klassik in ihrem Ringen um die Einheit der Nation und um eine realistische Kunst museal anschaulich mehr und mehr Werktätigen« nahezubringen. Ein Besucher aus der anderen Welt des Kalten Krieges, Matthias Waiden, der es 1958 als Redakteur der »Welt« besucht, findet darin einen »bösen Bogen« zwischen Goethe und Lenin gespannt. Doch Schüler der Käthe-Kollwitz-Schule I aus Weimar notieren nach einem Gang durch das Museum: »Ich kann mir jetzt die Umwelt Goethes vorstellen. Wie mußten die Bauern schuften und wie hat die Hofgesellschaft gepraßt.« Und: »Ich habe auf den Bildern viele Adlige gesehen, beim Tee, beim Spiel. Auf keinem Bild sah ich sie bei einer Arbeit!« Und als Krönung, weil ja auch dieses Museum im Dienst der SED-Einheitsproanda steht: »Wie schmachvoll empfand Goethe die Grenzen durch Deutschland« (»Die neue Schule« Nr. 48/ 1951).

Natürlich fehlt neben dem realistischen und humanistischen der patriotische Goethe nicht, den man mit dem Satz zitiert: »Deutschland sei eins es sei eins in Liebe zueinander. Und immer eines gegen den auswärtigen Feind.«

Scholz will deutsche Literaturgeschichte der Goethezeit auf der Basis des dialektischen Materialismus zeigen und die klassischen Dichter in ihr zeitgenössisches Milieu stellen. Es geht ihm mit seinem Museum, und er sagt das voller Stolz, um die »Parteinahme für die >Hütten< gegen die >PalästcTraumbild eines neuen Staates< vorschwebte und der eine humanistische Gesellschaft ohne Klassenspaltung ersehnte; Traumbilder, die im Weltbund der sozialistischen Staaten nun zur Wirklichkeit auf Erden wurden.« Abusch sieht die DDR als »Treuhänder des Schiller-Erbes für die ganze Nation« und attak-kiert westdeutsche Schiller-Interpreten, die sich um den Nachweis bemühten, »der Volkstribun Schiller mit humanem Patriotismus« habe nie existiert. Schon eine Woche zuvor wendete sich Hans Dose im Thüringer Parteiblatt gegen den renommierten Germanisten Benno von Wiese. Dieser hatte in der »Stuttgarter Zeitung« vom 21. Februar 1959 von einem »rhängnis« gesprochen, das über Schillers Nachruhm walte: Die einen proklamierten ihn in offensichtlichem Widerspruch zu Schillers eigenen Aussagen als Freiheitsdichter der deutschen Nation, die anderen nähmen gerade dies zum Anlaß, ihm seinen Nachruhm streitig zu machen. Empört fragt Dose daraufhin: »Schiller soll also nicht mehr der Dichter der Freiheit unserer Nation sein?«

Die revolutionären Züge im ostdeutschen Schiller-Bild sind anfangs zurückgenommen, aber sie mehren sich, als im Zeichen der Abgrenzung zum Westen nach dem Bau der Mauer auf dem Boden der DDR eine neue »sozialistische deutsche Nation« entstehen soll. Der Rütli-schwur bleibt in der späten DDR-Zeit unerwähnt, wie auch Bechers Nationalhymne vom »Einig Vaterland« nicht mehr gesungen werden darf.

»Kein Dichter des klassischen deutschen Erbes hat dem Proletariat so nahegestanden wie Schiller«, sagt DDR-Kulturminister Hans-Joachim Hoffmann auf der Festveranstaltung zum 225. Geburtstag Schillers in Weimar. Kommt hier plötzlich Brecht mit seinem Apercu zur Geltung, der Mensch könne nur Mensch bleiben, wenn er Räuber werde? Man schreibt inzwischen 1984, und Hoffmanns Rede enthält keines der früher so gängigen Zitate. Statt des nationalen Schiller preist Hoffmann nun den menschlichen, so als ob Schillers »Seid umschlungen Millionen« eine vage Vorahnung des Sozialismus beinhaltet hätte: »Nicht um Geschichte als solche ging es ihm, sondern um die Selbstbehauptung der Menschheit, um die moralische Integrität und um die Bloßstellung des Barbarischen in der Handlungsweise der selbstzerstörerischen und die Humanität bedrohenden Kräfte.« Kommt die DDR damit dem originalen Schiller wieder näher? Sie käme es, würde Hoffmann ihn nicht im selben Atemzug als Kronzeugen für die internationale kommunistische Friedenskamne mißbrauchen: »Seine Maxime, daß alle Menschen Brüder werden, verbunden mit Ludwig Beethovens Musik, wird noch viele Menschen auf den Weg des Internationalismus, der Solidarität, der uneigennützigen humanistischen Tat begleiten oder sie zu ihm hinführen.« Die Bilder und Visionen Schülers riefen dazu auf, »für den Frieden für immer und in allen Teilen der Welt zu kämpfen. Jawohl, dafür zu kämpfen heißt auch die zu zeigen, die mit dem Krieg gegen die Sowjetunion auf der Erde und im Weltall als Mittel der Politik spielen. Schiller hat sie uns vorgeführt, die Beförderer, die Handlanger und die Opfer der Kriege in Böhmen, in Württemberg, im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg, in Flandern und Brabant, im Dreißigjährigen Krieg, im Befreiungskampf der Niederländer, der Franzosen und der Schweizer «

Nun sind offizielle Reden von Politikern eines, seriöse wissenschaftliche Forschung, die in Weimar natürlich auch im realen Sozialismus betrieben wird und die dem offiziösen Klassikbild der DDR-Aufbau-Phasc oft genug kritisch gegenübersteht, ist etwas völlig anderes. Aus den Giftschränken der Ulbricht-Zeit hat die DDR-Literaturwissenschaft nach und nach vieles hervorgeholt und wieder zu Ansehen gebracht, das entweder als reaktionär, formalistisch oder perversdekadent stigmatisiert und verworfen wurde - etwa die Romantik und schließlich, wenn auch mit erheblicher rspätung gegenüber den Tschechen, sogar Kafka. Doch wann immer sie an die Öffentlichkeit geht, Tagungen oder Symposien abhält, bleibt ihr ein förmlicher Kotau vor der Parteilinie nicht erspart. Und gerade für Weimar, wo Helmut Holtzhauer die 1954 gegründeten »Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur« neunzehn Jahre leitete, gilt nach Hans-Dietrich Dahnke, daß »die literarische Romantik über Jahrzehnte hinweg ein Gegenstand der rneinung und Schmähung« blieb.
Holtzhauer, der Kommunist, Widerstandskämpfer und Zuchthäusler während der Nazizeit, kennt nur eine rigoros-undifferenzierte Traditionslinie, die von der Antike über die Renaissance zur deutschen Klassik führt und von dort direkt zur Arbeiterbewegung und der rwirklichung des Kommunismus. Autoritär setzt er seine Konzeption durch, macht die Forschungs- und Gedenkstätten zwar zu einer Institution sui generis mit weltweiter Ausstrahlung, aber hält sie durch die Enge und Begrenztheit des Ansatzes zugleich »in provinzieller Zurückgebliebenheit und geschichtlicher Sterilität« (Dahnke).

Und Friedrich Nietzsche? Was mit ihm geschieht, erinnert an jene Fotos in sowjetischen Geschichtsbüchern, auf denen verurteilte und verfemte Kampfgenossen Stalins, etwa Trotzki, später Bucharin, einfach ausradiert wurden, obwohl sie an dem geschilderten Geschehen entscheidenden Anteil hatten. Nietzsches Spuren werden im Weimar der Nachkriegszeit getilgt. Nichts darf an ihn erinnern. Von Johannes R. Becher, dem einstigen Nietzscheancr, schon im Moskauer Exil zu einem der Hauptverantwortlichen an der deutschen Misere erklärt, gerät er als »Vordenker, ja geistiger Urheber der Untaten des Faschismus« ins Visier der stalinistischen Kulturoffiziere, wie Manfred Riedel schreibt. Die Sowjets schließen das Nietzsche-Archiv, lassen die Bestände in leerstehende Fabrikräume transportieren und vermachen die Villa Silberblick dem Weimarer Kulturbund, dessen Sekretär Franz Hammer Nietzsches Sterbezimmer als Küche nutzt. Der siebzigjährige Max Ochler, Leiter des Archivs, wird verhaftet und von einem Militärtribunal zu Zwangsarbeit in Sibirien verurteilt, er stirbt jedoch vor der Deportation in einem NKWD-Keller in Weimar. Zwar gelingt es Hans Wahl im Bund mit der Thüringer Regierung, die sowjetische Aktion rückgängig zu machen. Praktisch aber wird das Nietzsche-Archiv nun zu einem Bestandteil des Goethe- und Schiller-Archivs, und Helmut Holtzhauer läßt die längst ruhende Nietzsche-Stiftung Mitte der fünfziger Jahre schließlich auch juristisch auflösen. Manuskripte und Schriftverkehr werden dem Goethe- und Schiller-Archiv, die Bücher der Zentralbibliothek zugeschlagen, die Möbel gehen nach Schloß Fttersburg und das Goethe-Museum erhält die Kunstgegenstände.
Wie der Realsozialismus mit Nietzsche verfährt, kommt einem späten Triumph Alfred Baeumlers und Alfred Rosenbergs gleich: Mit der rnichtung seines Andenkens wird die »nationalsozialistische Nietz-schebanalisierung«, ja die rfälschung Nietzsches durch die Nationalsozialisten von den neuen marxistischen Herren nachträglich für wahr und sakrosankt erklärt. Jeder rsuch einer kritischen Aufarbeitung Nietzsches unterbleibt. Schuld daran tragen nicht nur Becher und die sowjetischen Kulturoffiziere, verantwortlich ist vor allem Georg Lukäcs, dessen Werk »Die Zerstörung der rnunft« für die intellektuelle Nomenklatur der DDR zur Bibel neuen, realsozialistischen Denkens wird. Der deutschschreibende Ungar nimmt den »Willen zur Macht« als bare Münze, hält es für eines der Hauptwerke Nietzsches und geht damit den Märchen und Falsifizierungen der »Naumburger Tugend«, Nietzsches Schwester Elisabeth, auf den Leim.

Zu den rteidigern Nietzsches hatte nach dem Krieg Albert Camus gehört, der sich weigerte, Nietzsche mit Rosenberg zu verwechseln, und erklärte: »Wir müssen die rteidiger Nietzsches sein.« Riedel weist darauf hin, daß es in den siebziger Jahren dann französische, vor allem aber italienische Linke sind, die Nietzsche in der antifaschistischen Tradition von Bataille und Camus mit neuen Augen lesen und als Philosophen der Posrmoderne entdecken. Ihnen, vor allem aber Mazzino Montinari, einem italienischen Kommunisten, der seit Mitte der siebziger Jahre in Weimar lebt und sich um eine historisch-kritische Werkausgabe müht, ist die Rettung Nietzsches vor dem Faschismusverdacht zu verdanken. rsuche Weimarer Goethe-Forscher, Nietzsche in die Erbepflege einer DDR einzubeziehen, die sich inzwischen längst Luther, Friedrich IL und Bismarck geöffnet hatte, werden von Stephan Hermlin unterstützt, scheitern nach der von Harich ausgelösten »Sinn-und-Form«-Debatte über eine östliche Nietzsche-Renaissance aber schließlich am Einspruch des Ministerrats der DDR: Eine Stätte für Nietzsche in Weimar, so der Beschluß, ließe sich mit der Nationalen Mahn- und Gedenkstätte Buchenwald und dem Andenken an die Widerstandskämpfer gegen den Faschismus nicht vereinbaren. Nietzsche bleibt bis zum Ende der DDR Staatsfeind und Unperson. Es gibt keine Nische für Nietzsche in Weimar, wie Riedel schreibt.

Auch das Erbe des Bauhauses hat es nach dem Kriege schwer in der Stadt an der Um, denn die neue Diktatur bekämpft die Moderne wie die vorangegangene. Zwar hält der erste Leiter der neuen Hochschule für Baukunst und bildende Künste, Hermann Henselmann, bei der Eröffnung im August 1946 eine beruhigende Rede. Offen spricht er die Angst vieler Studenten vor dem Diktat durch die Partei, die Furcht vor dem auferzwungenen Realismus an. »Es wäre ganz unmarxistisch«, versichert der neue Direktor, »durch Anordnungen, Diktate, einem Volk eine Kunstrichtung aufzwingen zu wollen. Realismus ist eine Haltung, kein Stil.« Macht er sich damit selber Mut?
Henselmann, Bauhausschüler, überzeugter Kommunist und als Chefarchitekt Großberlins bald der führende Architekt der DDR, sieht sich wenige Jahre nach dieser Antrittsrede von Walter Ulbricht widerlegt. Der Generalsekretär der SED liebt einen rschnitt von Schinkel und stalinistischem Zuckerbäckerstil, was er gegen die Bauhaus-Schule vorbringt, erinnert fatal an jene deutschnationale Polemik der frühen zwanziger Jahre gegen das Flachdach, das angeblich dem Orient vorbehalten bleiben muß: Architekten sollten ja nicht meinen, man könne »in Berlin Häuser bauen, die ebensogut in die südafrikanische Landschaft passen«. So Ulbricht auf dem III. Parteitag der SED im Juli 1950. Vor der Volkskammer erneuert er am 31. Oktober 1951 seinen Angriff gegen die Moderne: »Der Bauhausstil leugnet die Notwendigkeit der schöpferischen Anwendung der fortschrittlichen Elemente des nationalen Architekturerbes.« Und im Dezember desselben Jahres polemisiert er gegen den Kommunisten und zeitweisen Moskau-Emigranten Hannes Meyer, Direktor des Dessauer Bauhauses Ende der zwanziger Jahre, der die Gestalt eines Gebäudes nur durch die Funktion bestimmt sehen wollte: »Die Baukunst wird von den Formalisten ersetzt durch den Glauben an Beton und Stahl und Glas.«
Obschon in Weimar geboren, in Dessau entwickelt und mithin ein urdeutsches Produkt, das die westliche Welt im Sturm erobert hat, ist dieser Bauhaus-Stil, den er gern als Formalismus und Konstruktivismus umschreibt, für Ulbricht ein Zeichen der Überfremdung durch »amerikanische Unkultur«. Er wünscht, daß die DDR-Architekten mit ihren Bauten am klassischen Erbe anknüpfen, und wertet seine Kamne gegen die Moderne als wichtigen »Teil des nationalen Kampfes gegen die rsklavung Westdeutschlands durch das amerikanische Monopolkapital«. Henselmann selbst, der sich dann am Bau der Stalinallee beteiligt, übt in einem Artikel im »Neuen Deutschland« am 4. Dezember 1951 Selbstkritik: »Ich selbst habe die dringliche Aufgabe des Übernehmens des Kulturerbes und damit auch die Rolle der Sowjetarchitektur unterschätzt. Ich habe die klassenmäßige Betrachtung des Konstruktivismus nicht zu Ende geführt.« Erst der Zwang, billiger und schneller zu bauen, bringt dann ein Umdenken in der DDR. Jetzt entstehen jene billigen Plattcnwohnsilos, die nun wahrlich Eigenschaften haben, welche die Ulbrichtsche Kritik gegen westliche Wohnblöcke der Bauhaus-Schule vorgebracht hat - »billigste Machwerke«, die in ihrer »schematischen, freudlosen und nüchternen Einförmigkeit mehr kapitalistischen Fabrikbauten als menschlichen Wohnungen« gleichen.
Von einem Wiederanknüpfen an die lebendigen Traditionen des Bauhauses, von der Henselmann noch 1946 bei Amtsantritt in Weimar ausgegangen war, kann schon 1951 keine Rede mehr sein. Hielt das Bauhaus einst auf die enge rbindung aller werkkünstlerischen Disziplinen und hat die Einheit von Kunst und Architektur angestrebt, wird diese rbindung mit der Ausgliederung der Abteilung bildende Kunst jetzt gekappt. Die »Staatliche Hochschule für Baukunst und bildende Künste« schrumpft auf eine reine Hochschule für Architektur und Bauwesen, die sich dem Ulbrichtschen Formdiktat widerspruchslos zu beugen hat. Erst in der Spätzeit der DDR beginnt mit der Restaurierung der Wandgemälde Oskar Schlemmers ein, freilich zaghaftes, Erinnern an die große Bauhaus-Tradition.







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