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Das historisch-politische Europa



Das historisch-politische Europa

Die These der Reichsübertragungen
Europa ist weder historisch noch politisch zu allen Zeiten dasselbe gewesen. Aufgrund der Feststellung dieser inneren Vielfalt und Gegensätzlichkeit hat Sloterdijk eine neue Leitidee der europäischen Geschichte entwickelt. Er fasst diese als eine Art Weitergabe des römischen Imperiums auf und schreibt: "Die quintessentielle europabildende Funktion besteht in einem Mechanismus der Reichsübertragung. Europa setzt sich in Gang und hält sich in Bewegung in dem Maße, wie es ihm gelingt, das Reich, das r ihm war, das römische, zu reklamieren, zu reinszenieren und zu transformieren (2002, S. 3k). Sloterdijk eröffnet die Reihe dieser Reichsübertragungen mit dem Fränkischen Reich, als Karl der Große im Jahr 800 in Rom die Kaiserkrone des Römischen Reiches m Papst aufs Haupt gesetzt erhielt, womit das Erbe eines antiken Charismas und der christlichen Insignien weitergegeben wurde (2002, S. 37). Eine weitere Etappe der Reichsaneignungen führte nach Wien zur Habsburgermonarchie (Abb.1.9). Diese blieb jedoch nach Slo-terdijks Auffassung nur eine mitteleuropäischkontinentale Angelegenheit, "ein Nebenschauplatz der Geschichte, während im eigentlichen globalen Ausgriff Europas im Entdeckungszeitalter das imperiale Motiv zunächst auf das katholische Weltreich der Spanier überging, dem das Weltreich der Briten folgte. Gegen diese trat nur relativ kurz nach 180^ das französische erste Kaiserreich als Konkurrent auf den . Zurück zu jenem Nebenschauplatz der Geschichte - der Donaumonarchie. Für die gegenwärtige, in Expansion begriffene Europäische Union bedeutet dieses n Wien aus in Kontinentaleuropa aufgebaute und im 18. Jahrhundert als "Europa Austriaca bezeichnete Habsburgerreich mit seiner ethnischen und kulturellen Vielfalt jedoch eine Art n Prototyp, dessen innenpolitische Strategien zur Aufrechterhaltung der territorialen Integrität aktuelle Bedeutung besitzen. Darauf wird noch zurückzukommen sein (Abb. 1.10).



Wie auch immer, mit dem Ersten Weltkrieg ist diese europäische Kette der Reichsbildungen abgerissen. Das nach 1917 entstandene Sowjetimperium folgte nach Sloterdijk der Tradition der Reichsübertragung n Ostrom und damit n By-zanz nach Moskau, dem "dritten Rom, dessen Kirchenkuppeln Osteuropa bestimmen (Abb. 1.11). Machatschek hat bereits 1929 darauf hingewiesen, dass das "sowjetische Russland seiner ganzen Entstehung und sozialen Struktur nach in schärfstem Gegensatz zum übrigen Europa steht (S. 56).
Von entscheidender Bedeutung für das politische Geschick Europas im 20. Jahrhundert wurde jedoch, dass sich im selben Jahr 1917, während des Ersten Weltkriegs, der amerikanische Präsident Wilson entschloss, die Isolationspolitik seines Landes aufzugeben und "den Kreuzzug nach Europa zu tragen. Auch im Zweiten Weltkrieg sprach General Eisenhower m Kreuzzug in Europa, bei dem es darum ginge, die "heilige Stätte der Demokratie, Paris, zu retten.
Sloterdijk verweist darauf, dass der europäische Mythos des Imperiums im Gefolge der Unabhängigkeit auch die Vereinigten Staaten ergriffen hat. Die klassizistische Architektur n Washington, D.C., insbesondere der Kuppelbau des Kapitols, eine Nachbildung n St. Peter, belegt dies ebenso wie die Insignien der römischen Exekutivgewalt, die Fasces, jene ursprünglich n der Polizeieskorte der römischen Konsuln getragenen Rutenbündel, die den Sockel des Lincoln-Memorials n 1922 verzieren (2002, S. 39).

Diese historische Reichsidee des Imperium Ro-manum wurde bereits mit der Unabhängigkeitserklärung n den Vereinigten Staaten übernommen. Sie ist damit ebenso wie der Nationalstaat als europäisches Exportprodukt aufzufassen. Für die gegenwärtige politische Landkarte Europas ist sie bedeutungslos geworden.
Jacques Le Goff schrieb 199^ in "Das alte Europa und die Welt der Moderne, dass Europa heute eine andere Form der Einheit erfinden müsse als die eines Reiches. Vor dem Hintergrund der europäischen Geschichte ist es einsichtig, dass Europa im 21. Jahrhundert dabei ist, als multinationale Föderation ein erfolgreiches Modell für die fehlende Zwischengröße zwischen den Nationalstaaten und den Organisationen der Vereinten Nationen zu entwickeln und das Prinzip Reich durch das Prinzip Staaten-Union aufzuheben.
Für den Beginn des 21. Jahrhunderts gelten dabei bereits die Sätze n Isensee (1998, S.91): "Zu den bemerkenswerten Wirkungen der europäischen Einigung gehört ihr semantischer Erfolg: dass Europa heute durchwegs identifiziert wird mit der Europäischen Union. Daraus ergibt sich in weiterer Konsequenz, dass "die supranationalen Einrichtungen den Blick auf die historischen, kulturellen und politischen Bedeutungen verstellen, welche das Wort Europa repräsentiert hat.
Die machtlle Brüsseler Realität überlagert und verdrängt die europäische Idee. Europa, das sind heute Assoziationen an eine gemeinsame Währung, an den gemeinsamen Markt, an eine befriedete Wettbewerbs- und Wohlstandsgesellschaft, an eine übernationale Bürokratie der Rechtsvereinheitlichung, die Standards erzeugt für Viehställe und Lebensmittelfarbstoffe, für Ausbildungsstunden n Krankenpflegern und sogar für Schallleistungspegel der Rasenmäher. "Die Europaidee ist somit zu einer historischen Zierleiste einer hochmodernen Bürokratie geworden (Isensee ebenda, S. 98).

Die historische geostrategische Dreiteilung Europas

Ein anderer historischer Zugang ergibt sich aus den geostrategischen Potentialen der verschiedenen Teile von Europa aufgrund ihrer Lage im Verhältnis von Land und Meer und den daraus resultierenden zentrifugalen und zentripetalen Tendenzen der Außenpolitik. Europa gliedert sich dementsprechend in drei Teile, denen jeweils Gruppen von Staaten zuzuordnen sind.
An der Atlantikfront des Kontinents liegen die Staaten, die einen direkten Zugang zum Weltmeer besitzen, Kolonialreiche aufgebaut und sich an der Europäisierung der Erde politisch-militärisch beteiligt haben. Ihre gemeinsamen Probleme lassen sich als Auswirkungen der Entkolonialisierung auf die Mutterländer beschreiben. Spanien hatte das Problem des Verlusts seiner Kolonien am frühesten zu bewältigen, nämlich schon zu Beginn des
19. Jahrhunderts, als die lateinamerikanischen Provinzen ihre Unabhängigkeit erlangten.
Mitteleuropa sonderte sich im gesamten vergangenen Jahrtausend in seinen außenpolitischen Intentionen nahezu immer von der Atlantikfront des Kontinents. Seit dem Mittelalter bis herauf ins
20. Jahrhundert waren alle seine Teile immer ostorientiert - politisch, wirtschaftlich und kulturell. Politische Organisationsformen, Rechtsnormen, Kapital und Menschen wurden auf mehreren Verkehrsbahnen von Westen nach Osten verschoben. Die bereits im Kolonisationsraum selbst in der Neuzeit erwachsenden drei Reichsbildungen -Preußen, Sachsen und Österreich-Ungarn - betrieben im Prinzip eine ganz ähnliche Politik, deren letzter Schachzug die Teilung Polens im späten 18. Jahrhundert war.

Tragik und Problematik dieses Raums stehen damit auf anderem Fundament als im Westen Europas, obwohl doch wieder Parallelen bestehen, insofern als England und Frankreich in ihre Kolonialräume Ideen, Kapital und Menschen entsandten, während Preußen und Österreich dasselbe im Osten Mitteleuropas vollführten. Die Binnenkolonisation in Ostmitteleuropa im 18. Jahrhundert steht damit in Parallelität zu den Siedlungskolonien in Übersee, bedingte jedoch andererseits eine Intensivierung der eigenen Agrarwirtschaft und im Besondern des Waldbaus, welche die auf die unbeschränkten Ressourcen ihrer Kolonien zurückgreifenden Staaten Frankreich und Großbritannien nicht nötig hatten.
Bereits die Industrialisierung brachte eine Änderung der Bewegungsrichtung der Menschen in Mitteleuropa, die Zuwandererheere aus den Agrar-gebieten des Ostens bauten die neue Industrie der westlichen Landesteile auf, die Wirtschaftspolitik der Staaten folgte und bedingte z.T. diese Bewegung. Die Arbeitsteilung zwischen der österreichischen und der ungarischen Reichshälfte, mit dem Schwergewicht einerseits auf der industriellen und andererseits der agrarischen Produktion, ist ein Modellfall dafür.
Die Problematik des gesamten Raumes von Ostmitteleuropa, welche sich auf das Engste mit dem Nationalitätenproblem verbindet, sollte in Parallelität zur Entkolonialisierung gesehen werden. Die Vertreibung von Bevölkerungen im Osten Europas, welche mit der Vertreibung der griechischen Bevölkerung aus ihren seit der Antike eingenommenen Siedlungen aus dem neu gebildeten "Nationalstaat Türkei 1923 begonnen hatte, setzte sich in gigantischem Umfang in Osteuropa fort, als nach dem Zweiten Weltkrieg der polnische Staat auf der politischen Landkarte Europas um mehr als 200 km nach Westen verschoben wurde und die deutsche Kolonisation in Ostmittel- und darüber hinaus in Südosteuropa weitgehend eliminiert worden ist.

Einer dritten Gruppe gehören Staaten an, welche den großen Randmeeren des Kontinents, dem Mittelmeer und der Ostsee, zugewandt sind und in der Neuzeit nur wenig nach außen gewirkt haben. Zu dieser Gruppe kann man auf der einen Seite Italien rechnen, welches wohl mit seinen Stadtstaaten in der Renaissance das Modell für die absolutistischen Flächenstaaten abgab, selbst jedoch erst sehr spät zu einer politischen Einigung fand und dann gleichsam verspätet erst unter Mussolini mit Kolonisationsabsichten nach Afrika aufgebrochen ist.
Ein Gegenstück hierzu bildet Schweden in Nordeuropa, dessen König Gustav Adolf im 17. Jahrhundert versuchte, um das Binnenmeer der Ostsee ein Reich aufzubauen, und im Dreißigjährigen Krieg im deutschen Sprachraum bis an die Schwelle der deutschen Mittelgebirge vorgestoßen ist. Der Vorstoß ist gescheitert. In der Leipziger Bucht bei Lützen befindet sich sein Grabmal. Unbemerkt von Mitteleuropa besteht der schwedische Einfluss rings um die Ostsee, insbesondere in Finnland, bis heute. Der schwedische Friedhof in Helsinki ist hierfür ein sozialhistorisches Dokument.
Die Gemeinsamkeiten der Meerorientierung gestatten manche Parallelen zwischen dem Ostsee-und dem Mittelmeerraum. Italienische Republiken, wie Genua (Abb.1.12) und Venedig, haben in der Neuzeit mit Erfolg längs der Küsten des Mittelmeeres Herrschaftsbereiche aufgebaut. Die dalmatinische Küste ist auf diese Weise tiefgreifend von italienischer Stadtkultur geprägt worden. Im Ostseeraum hat die Wirtschaftsunion der Hanse an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit die Grundlagen für die späteren baltischen Staaten geschaffen.

Vom Europa der Kriege zur Pax Europaea

Die europäische Geschichte ist eine Geschichte der Kriege. Im kollektiven Gedächtnis von Nationen, wie es durch die Schulbücher der europäischen Staaten von Generation zu Generation weitergegeben wird, spielen die Kriege eine entscheidende Rolle. Heeresgeschichtliche Museen demonstrieren die Waffentechniken vom Mittelalter bis an die Schwelle der Gegenwart.
Mit der Kriegsgeschichte auf dem Boden des Kontinents ist in weiten Teilen die Siedlungsgeschichte verbunden. Dies gilt in besonderem Maße für die Iberische Halbinsel, welche durch die Re-conquista schrittweise wieder dem islamisch-arabischen Herrschaftsraum entrissen worden ist. Ein späteres Beispiel, welches in die Gegenwart heraufführt, bietet Südosteuropa.
Zu Recht ist daher die Europäische Gemeinschaft mit dem Ziel entstanden, Kriege zwischen ihren Mitgliedern unmöglich zu machen. Diese Friedensideologie als Basis der inzwischen zur EU herangewachsenen europäischen Staatengemeinschaft ist in der Gegenwart bereits so selbstverständlich geworden, dass die europäischen Kriegsschauplätze der Vergangenheit von einer nach dem Zweiten Weltkrieg geborenen Generation wieder entdeckt werden und die historischen Schlachtfelder der Auseinandersetzung zwischen den beiden großen Partnern und Begründern der Europäischen Gemeinschaft, Frankreich und Deutschland, Touristenattraktionen geworden sind.

Schulklassen und Touristengruppen besichtigen in Verdun ein Areal, auf dem die blutigste Schlacht der Weltgeschichte in einem Stellungskrieg in der französischen Schichtstufenlandschaft insgesamt 700.000 französischen und deutschen Soldaten im Jahr 1916 das Leben gekostet hat. Mit diesem enormen Blutzoll wurde der Erste Weltkrieg entschieden, somit in einem zahlenmäßigen Vorgriff auf die Entscheidungsschlacht bei Stalingrad, wo mit einem ähnlich hohen Blutzoll das Ende des Zweiten Weltkriegs seinen Anfang nahm. An seinen Abschluss erinnern auch amerikanische Kriegerfriedhöfe im Westen Europas (Abb. 1.13).
Im Katalog der Ausstellung in Berlin 2003 über die "Idee Europa kann man die Vision von Victor Hugo 18^9 nachlesen: "Der Tag wird kommen, an dem man eine Kanone im Museum zeigen wird, so wie man dort heute ein Folterwerkzeug ausstellt und darüber staunt, dass so etwas möglich war! (S. 189). Mit dem makabren Wandel der größten Schlachtfelder und Ruinenstätten zu Touristenattraktionen wird sehr eindrucksvoll belegt, dass mit der Schaffung der Europäischen Union die Zeit der Pax Europaea gekommen ist, wie dies die Gründerväter der Europäischen Gemeinschaft hofften.












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