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DIE LOGIK DER SOZIALWISSENSCHAFTEN


Referat






In meinem Referat über die Logik der Sozialwissenschaften möchte ich n zwei Thesen ausgehen, die den Gegensatz zwischen unserem Wissen und unse­rem Nichtwissen aussprechen.

Erste These: Wir wissen eine ganze Menge - und nicht nur Einzelheiten n zweifelhaftem intellektuellen Interesse, sondern r allem auch Dinge, die nicht nur n größter praktischer Bedeutung sind, sondern die uns auch tiefe theore­tische Einsicht und ein erstaunliches Verständnis der Welt vermitteln können.

Zweite These: Unsere Unwissenheit ist grenzenlos und ernüchternd. Ja, es ist gerade der überwältigende Fortschritt der Naturwissenschaften (auf den meine erste These anspielt), der uns immer n neuem die Augen für unsere Un­wissenheit öffnet, gerade auch auf dem Gebiet der Naturwissenschaften selbst. Damit hat aber die sokratische Idee des Nichtwissens eine völlig neue Wendung genommen. Mit jedem Schritt, den wir rwärts machen, mit jedem Problem, das wir lösen, entdecken wir nicht nur neue und ungelöste Probleme, sondern wir entdecken auch, daß dort, wo wir auf festem und sicherem Boden zu stehen glaubten, in Wahrheit alles unsicher und im Schwanken begriffen ist.

Meine beiden Thesen m Wissen und Nichtwissen stehen natürlich nur dem Anschein nach in Widerspruch zueinander. Der anscheinende Widerspruch ent­steht hauptsächlich dadurch, daß das Wort "Wissen in der ersten These in einer etwas anderen Bedeutung verwendet wird als in der zweiten These. Aber die beiden Bedeutungen sind wichtig, und beide Thesen sind wichtig; so sehr, daß ich das in der folgenden dritten These formulieren möchte.

Dritte These: Es ist eine grundlegend wichtige Aufgabe und vielleicht sogar ein entscheidender Prüfstein einer jeden Erkenntnistheorie, daß sie unseren beiden ersten Thesen gerecht wird, und die Beziehungen aufklärt zwischen unserem erstaunlichen und dauernd zunehmenden Wissen und unserer dauernd zunehmenden Einsicht, daß wir eigentlich nichts wissen.

Es ist, wenn man es sich ein wenig überlegt, eigentlich fast selbstverständlich, daß die Erkenntnislogik an die Spannung zwischen Wissen und Nichtwissen an­zuknüpfen hat. Eine wichtige Konsequenz dieser Einsicht ist in meiner vierten These formuliert; aber ber ich diese vierte These hier rbringe, möchte ich ein Wort zur Entschuldigung für die vielen Thesen sagen, die da noch kommen werden. Meine Entschuldigung ist, daß es mir nahegelegt wurde, dieses Referat in Form n Thesen zusammenzufassen - eine Anregung, die ich sehr nützlich fand, obzwar diese Form vielleicht einen Eindruck n Dogmatismus erwecken kann. Meine vierte These ist also die folgende.

Vierte These: Soweit man überhaupt dan sprechen kann, daß die Wissen­schaft oder die Erkenntnis irgendwo beginnt, so gilt folgendes': Die Erkenntnis beginnt nicht mit Wahrnehmungen oder Beobachtungen oder der Sammlung n Daten oder n Tatsachen, sondern sie beginnt mit Problemen. Kein Wissen ohne Probleme - aber auch kein Problem ohne Wissen. Das heißt, daß sie mit der Spannung zwischen Wissen und Nichtwissen beginnt: Kein Problem ohne Wissen - kein Problem ohne Nichtwissen. Denn jedes Problem entsteht durch die Entdeckung, daß etwas in unserem vermeintlichen Wissen nicht in Ordnung ist; oder logisch betrachtet, in der Entdeckung eines inneren Widerspruches in unserem vermeintlichen Wissen, oder eines Widerspruches zwischen unserem vermeintlichen Wissen und den Tatsachen; oder vielleicht noch etwas richtiger ausgedrückt, in der Entdeckung eines anscheinenden Widerspruches zwischen unserem vermeintlichen Wissen und den vermeintlichen Tatsachen.

Im Gegensatz zu meinen drei ersten Thesen, die durch ihre Abstraktheit vielleicht den Eindruck erwecken, daß sie n meinem Thema, der Logik der Sozialwissenschaften, etwas weit entfernt waren, möchte ich n meiner vierten These behaupten, daß wir mit ihr geradezu im Zentrum unseres Themas ange­langt sind. Das kann in meiner fünften These folgendermaßen formuliert werden.

Fünfte These: Ebenso wie alle anderen Wissenschaften, so sind auch die Sozial­wissenschaften erfolgreich oder erfolglos, interessant oder schal, fruchtbar oder unfruchtbar, in genauem Verhältnis zu der Bedeutung oder dem Interesse der Probleme, um die es sich handelt; und natürlich auch in genauem Verhältnis zur Ehrlichkeit, Gradlinigkeit und Einfachheit, mit der diese Probleme angegriffen werden. Dabei muß es sich keineswegs immer um theoretische Probleme han­deln. Ernste praktische Probleme, wie das Problem der Armut, des Analpha­betentums, der politischen Unterdrückung und der Rechtsunsicherheit, waren wichtige Ausgangspunkte der gesellschaftswissenschaftlichen Forschung. Aber diese praktischen Probleme führen zum Nachdenken, zum Theoretisieren. und damit zu theoretischen Problemen. In allen Fällen, ohne Ausnahme, ist es der Charakter und die Qualität des Problems - zusammen natürlich mit der Kühn­heit und Eigenart der rgeschlagenen Lösung -, die den Wert oder Unwert der wissenschaftlichen Leistung bestimmt.

Der Ausgangspunkt ist also immer das Problem; und die Beobachtung wird nur dann zu einer Art Ausgangspunkt, wenn sie ein Problem enthüllt; oder mit anderern Worten. wenn sie uns überrascht. wenn sie uns zeigt, daß etwas in unserem Wissen - in unseren Erwartungen, in unseren Theorien nicht ganz stimmt. Beobachtungen führen zu Problemen also nur dann, wenn sie gewissen unserer bewußten oder unbewußten Erwartungen widersprechen. Und was dann zum Ausgangspunkt der wissenschaftlichen Arbeit wird, ist nicht so sehr die Be­obachtung als solche, sondern die Beobachtung in ihrer eigentümlichen Be­deutung -- das heißt aber eben, die problemerzeugende Beobachtung.

Damit bin ich nun so weit gelangt, daß ich meine Hauptthese als These Nummer sechs formulieren kann. Diese besteht in folgendem.

Sechste These (Hauptthese)

a) Die Methode der Sozialwissenschaften wie auch die der Naturwissenschaften besteht darin, Lösungsversuche für ihre Probleme - die Probleme n denen sie ausgeht - auszuprobieren.Lösungen werden rgeschlagen und kritisiert. Wenn ein Lösungs-versuch der sachlichen Kritik nicht zugänglich ist, so wird er eben deshalb als unwissen­schaftlich ausgeschaltet, wenn auch vielleicht nur rläu.

b) Wenn er einer sachlichen Kritik zugänglich ist, dann versuchen wir, ihn zu widerlegen; denn alle Kritik besteht in Widerlegungsversuchen.

c) Wenn ein Lösungsversuch durch unsere Kritik widerlegt wird, so versuchen wir es mit einem anderen.

d) Wenn er der Kritik standhält, dann akzeptieren wir ihn rläu; und zwar akzeptieren wir ihn r allem als' würdig, weiter diskutiert und kritisiert zu werden.

e) Die Methode der Wissenschaft ist also die des tentativen Lösungsversuches (oder Einfalls), der n der schärfsten Kritik kontrolliert wird. Es ist eine kritische Fortbildung der Methode des Versuchs und Irrtums ("trial and error).

f) Die sogenannte Objektivität der Wissenschaft besteht in der Objektivität der kritischen Methode; das heißt aber r allem darin, daß keine Theorie n der Kritik befreit ist, und auch darin, daß die logischen Hilfsmittel der Kritik -- die Kategorie des logischen Widerspruchs - objektiv sind.

Man könnte die Grundidee, die hinter meiner Hauptthese steht, vielleicht auch folgender-maßen zusammenfassen.

Siebente These: Die Spannung zwischen Wissen und Nichtwissen führt zum Problem und zu den Lösungsversuchen. Aber sie wird niemals überwunden. Denn es stellt sich heraus, daß unser Wissen immer nur in rläuen und versuchsweisen Lösungsrschlägen besteht und daher prinzipiell die Möglichkeit einschließt, daß es sich als irrtümlich und also als Nichtwissen herausstellen wird. Und die einzige Form der Rechtfertigung unseres Wissens ist wieder nur rläu: Sie besteht in der Kritik, oder genauer darin, daß unsere Lösungsversuche bisher auch unserer scharfsinnigsten Kritik standzuhalten scheinen. Eine darüber hinausgehende positive Rechtfertigung gibt es nicht. Insbeson­dere können sich unsere Lösungsversuche nicht als wahrscheinlich (im Sinne der Wahrscheinlichkeitsrechnung) erweisen.

Man könnte diesen Standpunkt vielleicht als kritizistisch bezeichnen.

Um den Gehalt dieser meiner Hauptthese und ihre Bedeutung für die Sozio­logie ein wenig anzudeuten, wird es zweckmäßig sein, ihr gewisse andere Thesen einer weitverbreiteten und oft ganz unbewußt absorbierten Methodologie gegen­überzustellen.

Da ist zum Beispiel der verfehlte und mißverständliche methodologische Naturalismus oder Szientismus, der verlangt, daß die Sozialwissenschaften endlich n den Naturwissenschaften lernen, was wissenschaftliche Methode ist. Dieser verfehlte Naturalismus stellt Forderungen auf wie: Beginne mit Beob­achtungen und Messungen; das heißt zum Beispiel, mit statistischen Erhebun­gen; schreite dann induktiv zu Verallgemeinerungen r und zur Theorien­bildung. Auf diese Weise wirst Du dem Ideal der wissenschaftlichen Objektivi­tät näher kommen, soweit das in den Sozialwissenschaften überhaupt möglich ist. Dabei mußt Du Dir darüber klar sein, daß in den Sozialwissenschaften die Objektivität weit schwieriger zu erreichen ist (falls sie überhaupt zu erreichen ist) als in den Naturwissenschaften; denn Objektivität bedeutet Wertfreiheit, und der Sozialwissenschaftler kann sich nur in den seltensten Fällen n den Wertungen seiner eigenen Gesellschaftsschicht soweit emanzipieren, um auch nur einigermaßen zur Wertfreiheit und Objektivität rzudringen.

Meiner Meinung nach ist jeder der Sätze, die ich hier diesem verfehlten Naturalismus zugeschrieben habe, grundfalsch und auf ein Mißverständnis der naturwissenschaftlichen Methode begründet, ja geradezu auf einen Mythus -­einen leider allzu weit verbreiteten und einflußreichen Mythus m induktiven Charakter der naturwissenschaftlichen Methode und m Charakter der natur­wissenschaftlichen Objektivität. Ich habe r, im folgenden einen kleinen Teil der mir zur Verfügung stehenden kostbaren Zeit auf eine Kritik des verfehlten Naturalismus aufzuwenden.

Obwohl nämlich ein Großteil der Sozialwissenschaftler der einen oder der anderen Teilthese dieses verfehlten Naturalismus ablehnend gegenüberstehen dürfte, so hat doch dieser Naturalismus gegenwärtig in den Sozialwissenschaften außerhalb der Nationalökonomie im großen und ganzen die Oberhand gewon­nen, zumindest in den angelsächsischen Ländern. Die Symptome dieses Sieges will ich in meiner achten These formulieren.

Achte These: Während noch r dem zweiten Weltkrieg die Idee der Soziolo­gie die einer allgemeinen theoretischen Sozialwissenschaft war - vergleichbar vielleicht mit der theoretischen Physik - und während die Idee der sozialen Anthropologie die einer auf sehr spezielle, nämlich primitive Gesellschaften angewandten Soziologie war, so hat sich dieses Verhältnis heute in der erstaun­lichsten Weise umgekehrt. Die soziale Anthropologie oder Ethnologie ist zur allgemeinen Sozialwissenschaft geworden; und es scheint, daß sich die Soziologie mehr und mehr damit abfindet, ein Teil der sozialen Anthropologie zu werden; nämlich die auf eine sehr spezielle Gesellschaftsform angewandte soziale An­thropologie - die Anthropologie der hochindustrialisierten westeuropäischen Gesellschaftsformen. Um es nochmals etwas kürzer zu sagen, das Verhältnis zwi­schen der Soziologie und der Anthropologie hat sich völlig umgekehrt.

Die soziale Anthropologie ist n einer angewandten Spezialwissenschaft zur Grund­wissenschaft avanciert, und der Anthropologe ist aus einem bescheidenen und etwas kurzsichtigen fieldworker zum weitblickenden und tiefsinnigen Sozial­theoretiker und zum Sozial-Tiefen-Psychologen geworden. Der frühere theo­retische Soziologe aber muß froh sein, als fieldworker und als Spezialist sein Unterkommen zu finden - als Beobachter und Beschreiber der Totems und Tabus der Eingeborenen weißer Rasse der westeuropäischen Länder und der Vereinigten Staaten.

Nun soll man wohl diesen Wandel im Geschick der Sozialwissenschaftler nicht allzu ernst nehmen; r allem deshalb nicht, weil es ja ein solches Ding-an-sich wie ein wissenschaftliches Fach gar nicht gibt. Als These formuliert, ergibt sich Nummer neun.

Neunte These: Ein sogenanntes wissenschaftliches Fach ist nur ein abge­grenztes und konstruiertes Konglomerat n Problemen und Lösungsversuchen. Was es aber wirklich gibt, das sind die Probleme und die wissenschaftlichen Traditionen.

Trotz dieser neunten These ist jene Umwälzung in den Beziehungen zwischen Soziologie und Anthropologie äußerst interessant; nicht wegen der Fächer oder ihrer Namen, sondern weil sie den Sieg der pseudo-naturwissenschaftlichen Methode anzeigt. So komme ich zu meiner nächsten These.

Zehnte These: Der Sieg der Anthropologie ist der Sieg einer angeblich beob­achtenden, angeblich beschreibenden und angeblich induktiv-generalisierenden Methodologie, und r allem anderen einer angeblich objektiveren und daher dem Anschein nach naturwissenschaftlichen Methode. Es ist ein Pyrrhussieg: noch ein solcher Sieg, und wir sind verloren - das heißt nämlich die Anthro­pologie und die Soziologie.

Meine zehnte These ist, wie ich gerne zugebe, ein wenig zu scharf gefaßt. Vor allem muß ich zugeben, daß viel Interessantes und Wichtiges n der sozialen Anthropologie entdeckt wurde und daß sie eine der erfolgreichsten Sozial­wissenschaften ist. Und ich will auch gerne zugeben, daß es für uns Europäer n großem Reiz und n großem Interesse sein kann, uns einmal selbst durch die Brille des sozialen Anthropologen zu betrachten. Aber obwohl diese Brille vielleicht farbiger ist als andere Brillen, so ist sie eben deshalb wohl kaum objektiver. Der Anthropologe ist nicht der Beobachter m Mars, der er oft zu sein glaubt, und dessen soziale Rolle er nicht selten und nicht ungern zu spielen versucht; und es gibt auch keinen Grund, anzunehmen, daß ein Bewohner m Mars uns "objektiver sehen würde, als wir uns zum Beispiel selbst sehen.

In diesem Zusammenhang möchte ich eine Geschichte erzählen, die zwar extrem, aber keineswegs vereinzelt ist. Es ist eine wahre Geschichte, aber dar­auf kommt es im gegenwärtigen Zusammenhang überhaupt nicht an. Sollte Ihnen die Geschichte zu unwahrscheinlich rkommen, so nehmen Sie sie, bitte, als freie Erfindung hin - als eine frei erfundene Illustration, die einen wich­tigen Punkt durch krasse Übertreibungen deutlich machen soll.

Vor einigen Jahren war ich Teilnehmer einer viertägigen Konferenz, initiiert n einem Theologen, an der Philosophen, Biologen, Anthropologen und Phy­siker teilnahmen - ein bis zwei Vertreter n jedem Fach; im ganzen waren etwa acht Teilnehmer anwesend. Das Thema war "Wissenschaft und Humanis­mus. Nach einigen anfänglichen Schwierigkeiten und der Elimination eines Versuches, uns durch erhabene Tiefe zu beeindrucken, gelang es den dreitägigen gemeinsamen Anstrengungen n etwa vier oder fünf Teilnehmern, die Dis­kussion auf ein ganz ungewöhnlich hohes Niveau zu heben. Unsere Konferenz hatte - wenigstens schien es mir so - das Stadium erreicht, in dem wir alle das freudige Gefühl hatten, etwas neinander zu lernen. Jedenfalls waren wir alle ll und ganz bei der Sache, als der anwesende Sozialanthropologe das Wort ergriff.

"Sie werden sich vielleicht wundern, so sagte er ungefähr, "daß ich bisher noch kein Wort auf dieser Tagung gesprochen habe. Das hängt damit zusammen, daß ich ein Beobachter bin. Als Anthropologe kam ich zu dieser Tagung nicht so sehr, um mich an Ihrem verbalen Verhalten zu beteiligen, sondern um Ihr ver­bales Verhalten zu studieren. Das habe ich denn auch getan. Ich habe dabei Ihren sachlichen Auseinandersetzungen nicht immer folgen können; aber wenn jemand so wie ich Dutzende n Diskussionsgruppen studiert hat, so lernt er, daß es ja auf das Was, auf die Sache, recht wenig ankommt. Wir Anthropologen, so sagte er fast wörtlich, "lernen es, solche Sozialphänomene n außen und n einem objektiveren Standpunkt aus zu betrachten. Was uns interessiert, ist das Wie; es ist, zum Beispiel, die Art, wie der eine oder andere versucht, die Gruppe zu dominieren und wie seine Versuche n den anderen, entweder allein oder durch Koalitionsbildung, abgewiesen werden; wie nach verschiedenen Versuchen dieser Art sich dann eine hierarchische Rangordnung und damit ein Gruppen-Gleichgewicht entwickelt und ein Gruppen-Ritual des Verbalisierens; und diese Dinge sind sich immer sehr ähnlich, wie verschieden die Fragestellung auch zu sein scheint, die da als Thema der Diskussion rliegt.

Wir hörten unseren anthropologischen Besucher m Mars bis zum Ende an, und ich stellte ihm dann zwei Fragen: zunächst, ob er zu unseren sachlichen Ergebnissen etwas zu bemerken habe, und später, ob er nicht glaube, daß es so etwas wie sachliche Gründe oder Argumente gäbe, die gültig oder ungültig sein können. Er antwortete, daß er sich zu sehr auf die Beobachtung unseres Grup­penverhaltens habe konzentrieren müssen, um unseren sachlichen Auseinandersetzungen im einzelnen folgen zu können. Auch hätte er andernfalls seine Ob­jektivität gefährdet - er wäre vielleicht in diese Auseinandersetzungen hineinverwickelt worden, und wenn er sich am Ende gar hätte mitreißen lassen, dann wäre er einer n uns geworden -, und mit seiner Objektivität wäre es aus gewesen. Überdies hätte er es gelernt, Verbalverhalten (er verwendete immer wieder die Ausdrücke "verbal behaviour und "verbalisation) nicht wörtlich zu beurteilen oder wörtlich wichtig zu nehmen. Worauf es ihm ankomme, sagte er, sei die soziale und psychologische Funktion dieses Verbalver­haltens. Und er setzte folgendes hinzu: "Wenn Ihnen als Diskussionsteilnehmer Argumente oder Gründe einen Eindruck machen, so kommt es uns auf die Tatsache an, daß Sie sich durch solche Medien gegenseitig beeindrucken oder beeinflussen können, und natürlich r allem auf die Symptome dieser Beein­flussung; was uns interessiert, sind solche Begriffe wie Nachdruck, Zögern, Ein­lenken und Nachgeben. Was den tatsächlichen Inhalt der Diskussion betrifft, so kommt es uns darauf eigentlich gar nicht an, sondern immer nur auf das Rollenspiel, auf den dramatischen Wechsel als solchen; und was sogenannte Argumente betrifft, so ist das natürlich nur eine Art des Verbalverhaltens, die nicht wich­tiger ist als alle anderen. Es ist eine rein subjektive Illusion zu glauben, daß man zwischen Argumenten und anderen eindrucksllen Verbalisierungen scharf unterscheiden kann; und schon gar nicht zwischen objektiv gültigen und objektiv ungültigen Argumenten. Außerstenfalls könnte man Argumente ein­teilen in solche, die in gewissen Gruppen zu gewissen Zeiten als gültig oder als ungültig akzeptiert werden. Das Zeitelement zeigt sich denn auch darin, daß sogenannte Argumente, die in einer Diskussionsgruppe wie der gegenwärtigen akzeptiert wurden, dann doch wieder später n einem der Teilnehmer ange­griffen oder abgelehnt werden können.

Ich will die Beschreibung dieses Vorfalles nicht weiter fortsetzen. Es wird auch wohl in diesem Kreise hier nicht nötig sein, darauf hinzuweisen, daß die etwas extreme Haltung meines anthropologischen Freundes ihrem ideenge­schichtlichen Ursprung nach nicht nur m Objektivitätsideal des Behaviourimus beeinflußt ist, sondern auch n Ideen, die auf deutschem Boden gewachsen sind: Ich meine den allgemeinen Relativismus-den historischen Relativismus, der da glaubt, daß es keine objektive Wahrheit gibt, sondern nur Wahrheiten für dieses oder jenes Zeitalter, und den soziologischen Relativismus, der da lehrt, daß es Wahrheiten oder Wissenschaften für diese oder jene Gruppe oder Klasse gibt, zum Beispiel eine proletarische Wissenschaft und eine bürgerliche Wissenschaft; und ich meine auch, daß die sogenannte Wissenssoziologie ihren llen Anteil an der Vorgeschichte der Dogmen meines anthropologischen Freundes hat.

Obzwar zugegebenermaßen mein anthropologischer Freund auf jener Kon­ferenz eine extreme Position einnahm, so ist doch diese Position, insbesondere wenn man sie etwas mildert, keineswegs untypisch und keineswegs unwichtig.

Aber diese Position ist absurd. Da ich den historischen und soziologischen Relativismus' und die Wissenssoziologie anderwärts ausführlich kritisiert habe, will ich hier auf eine Kritik verzichten. Nur die naive und verfehlte Idee der wissenschaftlichen Objektivität, die hier zugrunde liegt, will ich kurz besprechen.

Elfte These: Es ist gänzlich verfehlt anzunehmen, daß die Objektivität der Wissenschaft n der Objektivität des Wissenschaftlers abhängt. Und es ist gänzlich verfehlt zu glauben, daß der Naturwissenschaftler objektiver ist als der Sozialwissenschaftler. Der Naturwissenschaftler ist ebenso parteiisch wie alle anderen Menschen, und er ist leider - wenn er nicht zu den wenigen gehört, die dauernd neue Ideen produzieren - gewöhnlich äußerst einseitig und parteiisch für seine eigenen Ideen eingenommen. Einige der herrragendsten zeitgenössischen Physiker haben sogar Schulen gegründet, die neuen Ideen einen mächtigen Widerstand entgegensetzen.

Meine These hat aber auch eine positive Seite, und diese ist wichtiger. Sie ist der Inhalt meiner zwölften These.

Zwölfte These: Was man als wissenschaftliche Objektivität bezeichnen kann, liegt einzig und allein in der kritischen Tradition; in jener Tradition, die es trotz aller Widerstände so oft ermöglicht, ein herrschendes Dogma zu kritisieren. Anders ausgedrückt, die Objektivität der Wissenschaft ist nicht eine individuelle Angelegenheit der verschiedenen Wissenschaftler, sondern eine soziale Ange­legenheit ihrer gegenseitigen Kritik, der freundlich-feindlichen Arbeitsteilung der Wissenschaftler, ihres Zusammenarbeitens und auch ihres Gegeneinander­arbeitens. Sie hängt daher zum Teil n einer ganzen Reihe n gesellschaft­lichen und politischen Verhältnissen ab, die diese Kritik ermöglichen.

Dreizehnte These: Die sogenannte Wissenssoziologie, die die Objektivität im Verhalten der verschiedenen einzelnen Wissenschaftler sieht und die die Nichtobjektivität aus dem sozialen Standort der Wissenschaftler erklärt, hat diesen entscheidenden Punkt - ich meine die Tatsache, daß die Objektivität einzig und allein in der Kritik fundiert ist - völlig verfehlt. Was die Soziologie des Wissens übersehen hat, ist nichts anderes als eben die Soziologie des Wissens - die Theorie der wissenschaftlichen Objektivität. Diese kann nur durch solche soziale Kategorien.erklärt werden, wie zum Beispiel: Wettbewerb (sowohl der einzelnen Wissenschaftler wie auch der verschiedenen Schulen); Tradition (näm­lich die kritische Tradition); soziale Institution (wie zum Beispiel Veröffent­lichungen in verschiedenen konkurrierenden Journalen und durch verschiedene konkurrierende Verleger; Diskussionen auf Kongressen); Staatsmacht (nämlich die politische Toleranz der freien Diskussion).

Solche Kleinigkeiten wie zum Beispiel der soziale oder ideologische Standort des Forschers schalten sich auf diese Weise mit der Zeit n selber aus, obwohl sie natürlich kurzfristig immer ihre Rolle spielen.

In ganz ähnlicher Weise wie das Problem der Objektivität können wir auch das sogenannte Problem der Wertfreiheit in viel freierer Weise lösen als das gewöhnlich geschieht.

Vierzehnte These: In der kritischen Diskussion unterscheiden wir solche Fragen wie: (1) Die Frage der Wahrheit einer Behauptung; die Frage ihrer Relevanz, ihres Interesses und ihrer Bedeutung relativ zu den Problemen, die wir gerade behandeln. (2) Die Frage ihrer Relevanz und ihres Interesses und ihrer Bedeutung relativ zu verschiedenen außerwissenschaftlichen Problemen, zum Beispiel dem Problem der menschlichen Wohlfahrt, oder zum Beispiel dem ganz anders gearteten Problem der nationalen Verteidigung oder einer natio­nalen Angriffspolitik oder der industriellen Entwicklung oder der persönlichen Bereicherung.

Es ist natürlich unmöglich, solche außerwissenschaftlichen Interessen aus der wissenschaftlichen Forschung auszuschalten; und es ist genauso unmöglich, sie aus der naturwissenschaftlichen Forschung - zum Beispiel aus der physikalischen Forschung - auszuschalten, wie aus der sozialwissenschaftlichen Forschung.

Was möglich ist und was wichtig ist und was der Wissenschaft ihren besonde­ren Charakter gibt, ist nicht die Ausschaltung, sondern die Unterscheidung jener nicht zur Wahrheitssuche gehörenden Interessen n dem rein wissenschaftlichen Interesse an der Wahrheit. Aber obwohl die Wahrheit der leitende wissen­schaftliche Wert ist, so ist sie nicht der einzige: Die Relevanz, das Interesse und die Bedeutung einer Behauptung relativ zu einer rein wissenschaftlichen Pro­blemlage sind ebenfalls wissenschaftliche Werte ersten Ranges, und ähnlich steht es mit Werten wie dem der Fruchtbarkeit, der erklärenden Kraft, der Einfach­heit und der Genauigkeit.

Mit anderen Worten, es gibt reinwissenschaftliche Werte und Unwerte und außen-wissenschaftliche Werte und Unwerte. Und obwohl es unmöglich ist, die Arbeit an der Wissenschaft n außerwissenschaftlichen Anwendungen und Wer­tungen frei zu halten, so ist es eine der Aufgaben der wissenschaftlichen Kritik und der wissenschaftlichen Diskussion, die Vermengung der Wertsphären zu be­kämpfen, und insbesondere außerwissenschaftliche Wertungen aus den Wahr­heitsfragen auszuschalten.

Das kann natürlich nicht ein für allemal durch Dekret geschehen, sondern ist und bleibt eine der dauernden Aufgaben der gegenseitigen. wissenschaftlichen Kritik. Die Reinheit der reinen Wissenschaft ist ein Ideal, das vermutlich uner­reichbar ist, für das aber die Kritik dauernd kämpft und dauernd kämpfen muß.

In der Formulierung dieser These habe ich es als praktisch unmöglich be­zeichnet, die außerwissenschaftlichen Werte aus dem Wissenschaftsbetrieb zu verbannen. Es ist das ähnlich wie mit der Objektivität: Wir können dem Wissen­schaftler nicht seine Parteilichkeit rauben, ohne ihm auch seine Menschlichkeit zu rauben. Ganz ähnlich können wir nicht seine Wertungen verbieten oder zer­stören, ohne ihn als Menschen und als Wissenschaftler zu zerstören. Unsere Motive und unsere rein wissenschaftlichen Ideale, wie das Ideal der reinen Wahrheitssuche, sind zutiefst in außer-wissenschaftlichen und zum Teil religiösen Wertungen verankert. Der objektive und der wertfreie Wissenschaftler ist nicht der ideale Wissenschaftler. Ohne Leidenschaft geht es nicht, und schon gar nicht in der reinen Wissenschaft. Das Wort "Wahrheitsliebe ist keine bloße Metapher.

Es ist also nicht nur so, daß Objektivität und Wertfreiheit für den einzelnen Wissenschaftler praktisch unerreichbar sind, sondern Objektivität und Wertfrei­heit sind ja selbst Werte. Und da also die Wertfreiheit selbst ein Wert ist, ist die Forderung der unbedingten Wertfreiheit paradox. Dieser Einwand ist nicht eben sehr wichtig, aber es ist doch zu bemerken, daß die Paradoxie ganz n selbst verschwindet, wenn wir die Forderung der Wertfreiheit durch die Forde­rung ersetzen, daß es eine der Aufgaben der wissenschaftlichen Kritik sein muß. Wertvermischungen bloßzulegen und die rein wissenschaftlichen Wertfragen nach Wahrheit, Relevanz, Einfachheit und so weiter n außerwissenschaftlichen Fragen zu trennen.

Bisher habe ich versucht, kurz die These zu entwickeln, daß die Methode der Wissenschaft in der Wahl n Problemen und in der Kritik unserer immer ver­suchsweisen und rläuen Lösungsversuche besteht. Und ich habe weiter ver­sucht, am Beispiel zweier viel diskutierter Methodenfragen der Sozial­wissenschaften zu zeigen, daß diese kritizistische Methodenlehre (wie ich sie vielleicht nennen darf) zu recht vernünftigen methodologischen Resultaten kommt. Aber obwohl ich ein paar Worte über Erkenntnistheorie oder Erkennt­nislogik sagen konnte und obwohl ich jedenfalls ein paar kritische Worte über die Methodologie der Sozialwissenschaften sagen konnte, so habe ich eigentlich noch recht wenig Positives über mein Thema, die Logik der Sozial­wissenschaften, gesagt.

Ich will uns nicht damit aufhalten, Gründe oder Entschuldigungen dafür r­zubringen, daß ich es für wichtig halte, zunächst einmal die wissenschaftliche Methode mit der kritischen Methode zu identifizieren. Statt dessen möchte ich jetzt direkt auf einige rein logische Fragen und Thesen eingehen.

Fünfzehnte These: Die wichtigste Funktion der reinen deduktiven Logik ist die eines Organons der Kritik.

Sechzehnte These: Die deduktive Logik ist die Theorie n der Gültigkeit der logischen Schlüsse oder der logischen Folgebeziehung. Eine notwendige und entscheidende Bedingung für die Gültigkeit einer logischen Folgebeziehung ist die folgende: Wenn die Prämissen eines gültigen Schlusses wahr sind, so muß auch die Konklusion wahr sein.

Das kann man dann auch so ausdrücken: Die deduktive Logik ist die Theorie der Übertragung der Wahrheit n den Prämissen auf die Konklusion.

Siebzehnte These: Wir können sagen: Wenn alle Prämissen wahr sind und der Schluß gültig ist, dann muß auch die Konklusion wahr sein; und wenn daher in einem gültigen Schluß die Konklusion falsch ist, so ist es nicht möglich, daß die Prämissen alle wahr sind.

Dieses triviale, aber entscheidend wichtige Ergebnis kann man auch so aus­drücken: Die deduktive Logik ist nicht nur die Theorie der Übertragung der Wahrheit n den Prämissen auf die Konklusion, sondern gleichzeitig auch umgekehrt die Theorie der Rückübertragung der Falschheit n der Konklusion auf wenigstens eine der Prämissen.

Achtzehnte These: Damit wird die deduktive Logik zur Theorie der ratio­nalen Kritik. Denn alle rationale Kritik hat die Form, daß wir versuchen, zu zeigen, daß aus der zu kritisierenden Behauptung unannehmbare Folgerungen abgeleitet werden können. Gelingt es uns, aus einer Behauptung unannehmbare Folgerungen logisch abzuleiten, dann ist die Behauptung widerlegt.

Neunzehnte These: In den Wissenschaften arbeiten wir mit Theorien, das heißt, mit deduktiven Systemen. Das hat zwei Gründe. Erstens, eine Theorie oder ein deduktives System ist ein Erklärungsversuch und daher ein Versuch, ein wissenschaftliches Problem zu lösen; zweitens, eine Theorie, also ein deduk­tives System, ist durch seine Folgerungen rational kritisierbar. Es ist also ein Lösungsversuch, der der rationalen Kritik unterliegt.

So viel über die formale Logik als das Organon der Kritik.

Zwei grundlegende Begriffe, die ich hier verwendet habe, bedürfen einer kurzen Erläuterung: der Begriff der Wahrheit und der Begriff der Erklärung.

Zwanzigste These: Der Wahrheitsbegriff ist für den hier entwickelten Kritizismus unentbehrlich. Was wir kritisieren, das ist der Wahrheitsanspruch. Was wir als Kritiker einer Theorie zu zeigen versuchen, das ist, natürlich, daß ihr Wahrheitsanspruch nicht zu Recht besteht - daß sie falsch ist.

Die fundamentale methodologische Idee, daß wir aus unseren Irrtümern lernen, kann nicht ohne die regulative Idee der Wahrheit verstanden werden: Der Irrtum, den wir begehen, besteht ja eben darin, daß wir, mit dem Maßs oder der Richtschnur der Wahrheit gemessen, das uns gesetzte Ziel, unseren Standard, nicht erreicht haben.

Wir nennen eine Aussage "wahr, wenn sie mit den Tatsachen übereinstimmt oder den Tatsachen entspricht oder wenn die Dinge so sind, wie die Aussage sie darstellt. Das ist der sogenannte absolute oder objektive Wahrheitsbegriff, den jeder n uns dauernd verwendet. Eines der wichtigsten Ergebnisse der moder­nen Logik besteht darin, daß sie diesen absoluten Wahrheitsbegriff mit durch­schlagendem Erfolg rehabilitiert hat.

Diese Bemerkung setzt raus, daß der Wahrheitsbegriff unterminiert war. Und in der Tat, die Unterminierung des Wahrheitsbegriffes hat zu den herrschenden relativistischen Ideologien unserer Zeit den Hauptanstoß gegeben.

Das ist der Grund, warum ich die Rehabilitierung des Wahrheitsbegriffes durch den Logiker und Mathematiker Alfred Tarski als das philosophisch wich­tigste Ergebnis der modernen mathematischen Logik bezeichnen möchte.

Ich kann natürlich dieses Ergebnis hier nicht diskutieren; ich kann nur ganz dogmatisch sagen, daß es Tarski gelungen ist, in der denkbar einfachsten und überzeugendsten Weise zu erklären, worin die Übereinstimmung eines Satzes mit den Tatsachen besteht. Aber das war eben jene Aufgabe, deren hoffnungs­lose Schwierigkeit zum skeptischen Relativismus geführt hat mit sozialen Folgen, die ich hier wohl nicht ausmalen muß.

Der zweite Begriff, den ich verwendet habe und der einer Erläuterung be­dürftig ist, ist der Begriff der Erklärung, oder genauer, der kausalen Erklärung.

Ein rein theoretisches Problem - ein Problem der reinen Wissenschaft -­ besteht immer darin, eine Erklärung zu finden - die Erklärung einer Tatsache oder eines Phänomens oder einer merkwürdigen Regelmäßigkeit oder einer merkwürdigen Ausnahme. Das, was wir zu erklären hoffen, kann man das Explikandum nennen. Der Lösungsversuch - das heißt: die Erklärung - besteht immer in einer Theorie, einem deduktiven System, das es uns erlaubt, das Ex­plikandum dadurch zu erklären, daß wir es mit anderen Tatsachen (den so­genannten Anfangsbedingungen) logisch verknüpfen. Eine völlig explizite Er­klärung besteht immer in der logischen Ableitung (oder Ableitbarkeit) des Ex­plikandums aus der Theorie, zusammen mit den Anfangsbedingungen.

Das logische Grundschema jeder Erklärung besteht also in einem logischen. deduktiven Schluß, dessen Prämissen aus der Theorie und den Anfangsbedin­gungen besteht und dessen Konklusion das Explikandum ist.

Dieses Grundschema hat erstaunlich viele Anwendungen. Man kann zum Bei­spiel mit seiner Hilfe zeigen, was der Unterschied zwischen einer ad-hoc-­Hypothese und einer unabhängig überprüfbaren Hypothese ist; und man kann, was Sie vielleicht mehr interessieren wird, in einfacher Weise den Unterschied zwischen theoretischen Problemen, historischen Problemen und Problemen der Anwendung logisch analysieren. Dabei steht sich heraus, daß die berühmte ­Unterscheidung zwischen theoretischen oder nomothetischen und historischen oder ideographischen Wissenschaften logisch völlig gerechtfertigt werden kann - wenn man nämlich hier unter einer "Wissenschaft die Beschäftigung mit einer bestimmten logisch unterscheidbaren Art n Problemen versteht.

Soviel zur Erläuterung der n mir bisher verwendeten logischen Begriffe.

Jeder dieser beiden Begriffe, der der Wahrheit und der der Erklärung, geben zur logischen Entwicklung n weiteren Begriffen Anlaß, die m Standpunkt der Erkenntnislogik oder der Methodologie vielleicht noch wichtiger sind: Der erste dieser Begriffe ist der der Annäherung an die Wahrheit, und der zweite der der Erklärungskraft oder des Erklärungsgehaltes einer Theorie.

Diese beiden Begriffe sind insofern rein logische Begriffe, als sie sich mit den rein logischen Begriffen der Wahrheit eines Satzes und des Gehaltes eines Satzes - das heißt, der Klasse der logischen Folgerungen einer Theorie - definieren lassen.

Beide sind relative Begriffe: Obwohl jeder Satz einfach wahr oder falsch ist, so kann doch ein Satz eine bessere Annäherung an die Wahrheit darstellen als ein anderer Satz. Das wird zum Beispiel der Fall sein, wenn der erste Satz "mehr wahre und "weniger falsche logische Konsequenzen hat als der zweite (Voraus­gesetzt ist hier, daß die wahren und falschen Teilmengen der Folgerungs­mengen der beiden Sätze vergleichbar sind.) Es läßt sich dann leicht zeigen, warum wir, mit Recht, annehmen, daß Newtons Theorie eine bessere Annähe­rung, an die Wahrheit ist als Keplers Theorie.

Ahnlich läßt sich zeigen, daß die Erklärungskraft der Theorie Newtons größer ist als die Keplers.

Wir gewinnen also hier logische Begriffe, die der Beurteilung unserer Theo­rien zugrunde liegen und uns erlauben, in bezug auf wissenschaftliche Theorien sinnll n Fortschritt oder Rückschritt zu sprechen.

Soviel über die allgemeine Erkenntnislogik. Über die besondere Erkenntnis­logik der Sozialwissenschaften möchte ich noch einige weitere Thesen anführen.

Einundzwanzigste These: Es gibt keine rein beobachtende Wissenschaft, son­dere nur Wissenschaften, die mehr oder weniger bewußt und kritisch theoreti­sieren. Das gilt auch für die Sozialwissenschaften.

Zweiundzwanzigste These: Die Psychologie ist eine Sozialwissenschaft, da unser Denken und Handeln weitgehend n sozialen Verhältnissen abhängt. Kategorien wie a) Nachahmung, b) Sprache, c) Familie, sind offenbar soziale Kategorien; und es ist klar, daß die Psychologie des Lernens und des Denkens, aber auch zum Beispiel die Psychoanalyse, ohne die eine oder die andere dieser sozialen Kategorien unmöglich sind. Das zeigt, daß die Psychologie gesellschaft­liche Begriffe raussetzt; woraus wir schließen können, daß es unmöglich ist, die Gesellschaft restlos psychologisch zu erklären oder auf Psychologie zurück­zuführen. Die Psychologie kann also nicht als die Grundwissenschaft der Sozial­wissenschaften angesehen werden.

Das, was wir prinzipiell nicht psychologisch erklären können, und das, was wir in jeder psychologischen Erklärung raussetzen müssen, das ist die soziale Umwelt des Menschen. Die Aufgabe, diese soziale Umwelt zu beschreiben - und zwar mit Hilfe erklärender Theorien, da es ja, wie schon angedeutet, eine reine Beschreibung nicht gibt - ist also die grundlegende Aufgabe der Sozial­wissenschaft. Es dürfte angemessen sein, diese Aufgabe der Soziologie zu­zuteilen. Das wird denn auch im folgenden angenommen.

Dreiundzwanzigste These: Die Soziologie ist autonom in dem Sinn, daß sie sich n der Psychologie sehr weitgehend unabhängig machen kann und muß. Das geht, abgesehen n der abhängigen Situation der Psychologie, auch daraus herr, daß die Soziologie immer wieder r der Aufgabe steht, ungewollte und oft unerwünschte soziale Folgen menschlichen Handelns zu erklären. Bei­spiel: Die Konkurrenz ist ein soziales Phänomen, das den Konkurrenten ge­wöhnlich unerwünscht ist, das aber als eine (gewöhnlich unvermeidliche) nicht­gewollte Folge n (bewußten und mäßigen) Handlungen der Konkurrenten erklärt werden kann und muß.

Was immer auch hier n den Handlungen der Konkurrenten psychologisch erklärbar sein mag, das soziale Phänomen der Konkurrenz ist eine psycholo­gisch unerklärbare soziale Folge dieser Handlungen.

Vierundzwanzigste These: Die Soziologie ist aber noch in einem zweiten Sinn autonom, nämlich als das, was man oft. "verstehende Soziologie ge­nannt hat.

Fünfundzwanzigste These: Die logische Untersuchung der nationalökonomischen Methoden führt zu einem Resultat, das auf alle Gesellschaftswissenschaften anwendbar ist. Dieses Resultat zeigt, daß es eine rein objektive Methode in den Sozialwissenschaften gibt, die man wohl als die objektiv-verstehende Methode oder als Situationslogik bezeichnen kann. Eine objektiv-verstehende Sozial­wissenschaft kann unabhängig n allen subjektiven oder psychologischen Ideen entwickelt werden. Sie besteht darin, daß sie die Situation des handelnden Menschen hinreichend analysiert, um die Handlung aus der Situation heraus ohne weitere psychologische Hilfe zu erklären. Das objektive "Verstehen be­steht darin, daß wir sehen, daß die Handlung objektiv situationsgerecht war. Mit anderen Worten, die Situation ist so weitgehend analysiert, daß die zunächst anscheinend psychologischen Momente, zum Beispiel Wünsche, Motive, Erinne­rungen und Assoziationen, in Situationsmomente verwandelt wurden. Aus dem Mann mit diesen oder jenen Wünschen wird dann ein Mann, zu dessen Situation es gehört, daß er diese oder jene objektiven Ziele verfolgt. Und aus einem Mann mit diesen oder jenen Erinnerungen oder Assoziationen wird dann ein Mann, zu dessen Situation es gehört, daß er objektiv mit diesen oder jenen Theorien oder mit dieser oder jener Information ausgestattet ist.

Das ermöglicht es uns dann, seine Handlungen in dem objektiven Sinn zu verstehen.. daß wir sagen können: Zwar habe ich andere Ziele und andere Theo­rien (als zum Beispiel Karl der Große); aber wäre ich in seiner so-und-so analysierten Situation gewesen - wobei die Situation Ziele und Wissen ein­schließt -, dann hätte ich, und wohl auch du, ebenso gehandelt. Die Methode der Situationsanalyse ist also zwar eine individualistische Methode, aber keine psychologische, da sie die psychologischen Momente prinzipiell ausschaltet und durch objektive Situationselemente ersetzt. Ich nenne sie gewöhnlich "Situations­logik ("situational logic oder "logic of the Situation).

Sechsundzwanzigste These: Die hier beschriebenen Erklärungen der Situa­tionslogik sind rationale, theoretische Rekonstruktionen. Sie sind über-verein­facht und über-schematisiert und daher im allgemeinen falsch. Dennoch können sie einen großen Wahrheitsgehalt haben, und sie können im streng logischen Sinn gute Annäherungen an die Wahrheit sein - und sogar bessere als andere über­prüfbare Erklärungen. In diesem Sinn ist der logische Begriff der Annäherung an die Wahrheit unentbehrlich für die situations-analytischen Sozialwissenschaften. Vor allem aber sind die Situationsanalysen rational und empirisch kritisierbar und verbesserungsfähig. Wir können zum Beispiel einen Brief finden, der zeigt, daß das Karl dem Großen zur Verfügung stehende Wissen n dem ganz ver­schieden war, das wir in unserer Analyse angenommen haben. Im Gegensatz dazu sind psychologisch-charakterologische Hypothesen kaum je kritisierbar.

Siebenundzwanzigste These: Die Situationslogik nimmt im allgemeinen eine physische Welt an, in der wir handeln. Diese Welt enthält zum Beispiel phy­sische Hilfsmittel, die uns zur Verfügung stehen und n denen wir etwas wissen, und physische Widerstände, n denen wir im allgemeinen auch etwas (oft nicht sehr viel) wissen. Darüber hinaus muß die Situationslogik auch eine soziale Welt annehmen, ausgestattet mit anderen Menschen, über deren Ziele wir etwas wissen (oft nicht sehr viel), und überdies mit sozialen Institutionen. Diese sozialen Institutionen bestimmen den eigentlichen sozialen Charakter unserer sozialen Umwelt. Sie bestehen aus allen jenen sozialen Wesenheiten der sozialen Welt, die den Dingen der physischen Welt entsprechen. Eine Ge­müsehandlung oder ein Universitätsinstitut oder eine Polizeimacht oder ein Gesetz sind in diesem Sinn soziale Institutionen. Auch Kirche und Staat und Ehe sind soziale Institutionen, und gewisse zwingende Gebräuche, wie zum Bei­spiel in Japan Harakiri. Aber in unserer europäischen Gesellschaft ist Selbst­mord keine Institution in dem Sinn, in dem ich das Wort verwende und in dem ich behaupte, daß die Kategorie n Wichtigkeit ist.

Das ist meine letzte These. Was folgt, ist ein Vorschlag und eine kurze ab­schließende Betrachtung.

Vorschlag: Als die Grundprobleme der reinen theoretischen Soziologie könn­ten vielleicht rläu die allgemeine Situationslogik und die Theorie der In­stitutionen und Traditionen angenommen werden. Das würde solche Probleme einschließen wie die beiden folgenden.

1. Institutionen handeln nicht, sondern nur Individuen in oder für Institutionen. Die allgemeine Situationslogik dieser Handlungen wäre die Theorie der quasi-Handlungen der Institutionen.

2. Es wäre eine Theorie der gewollten und ungewollten institutionellen Fol­gen n Zweckhandlungen aufzubauen. Das könnte auch zu einer Theorie der Entstehung und der Entwicklung n Institutionen führen.

Zum Schluß noch eine Bemerkung. Ich glaube, daß die Erkenntnistheorie nicht nur wichtig für die Einzelwissenschaften ist, sondern auch für die Philo­sophie, und daß das religiöse und philosophische Unbehagen unserer Zeit, das uns wohl alle beschäftigt, zum erheblichen Teil ein erkenntnis-philosophisches Unbehagen ist. Nietzsche hat es den europäischen Nihilismus genannt und Benda den Verrat der Intellektuellen. Ich möchte es als eine Folge der sokratischen Entdeckung charakterisieren, daß wir nichts wissen, das heißt, unsere Theorien niemals rational rechtfertigen können.

Aber diese wichtige Entdeckung, die unter vielen anderen Malaisen auch den Existenzialismus herrgebracht hat, ist nur eine halbe Entdeckung; und der Nihilismus kann überwunden werden. Denn obwohl wir unsere Theorien nicht rational rechtfertigen und nicht einmal als wahrscheinlich erweisen können, so können wir sie rational kritisieren. Und wir können bessere n schlechteren unterscheiden.

Aber das wußte, sogar schon r Sokrates, der alte Xenophanes, als er die Worte schrieb:

Nicht gleich am Anfang entdeckten die Götter den Sterblichen alles.

Aber im Laufe der Zeit finden wir suchend das Bess´re.





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