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Der Konflikt zwischen Gesellschaft und Individuum in Gottfried Benns Lyrik

Der Konflikt zwischen Gesellschaft und Individuum in Gottfried Benns Lyrik



„ Geboren 1886 als Sohn eines evangelischen Pfarrers und einer Französin aus der Gegend von Yverdon in einem Dorf von dreihundert Einwohnern etwa in der Mitte zwischen Berlin und Hamburg, aufgewachsen in einem Dorfderselben Größe in der Mark. Kam aufs Gymnasiujm, dann auf die Universität, studierte zwei Jahre Philosophie und Theologie, dann Medizin auf der Kaiser-Wilhelm-Akademie, war aktiver Militärarzt in Provinzregimentern, bekam bald den Abschied, da nach einem sechstündigen Galopp bei einer Übung eine Niere sich lockerte, bildete mich ärztlich weiter aus, fuhr nach Amerika, impfte das Zwischendeck, zog in den Krieg, erstürmte Antwerpen, lebte in der Etappe einen guten Tag, war lange in Brüssel, wo Sternheim, Flake, Einstein, Hausenstein ihre Tage verbrachten, wohne jetzt in Berlin als Spezialarzt, Sprechstunde abends fünf bis sieben.

Ich approbierte, promovierte, doktorierte, schrieb über Zuckerkrenkheit im Heer, Impfungen bei Tripper, Bauchfellücken, Krebsstatistiken, erhielt die goldene Medaille der Universität Berlin für eine Arbeit über Epilepsie; was ich an Literartur verfasste, schrieb ich, mit Ausnahme der Morgue, die 1912 bei A.R. Meyer erschien, im Frühjahr 1916 in Brüssel. Ich war Arzt an einem Prostituiertenkrankenhaus, ein ganz isolierter Psten, lebte in einem konfiszierten Haus, elf Zimmer, allein mit meinem Burschen, hatte wenig Dienst, durftein Zivil gehen, war mit nichts behaftet, hing an keinem, verstand die Sprache kaum; strich durch die Strassen, fremdes Volk; eigentümlicher Frühling, drei Monate ganz ohne rgleich, was war die Kanonade von der Uyser, ohne die kein Tag verging, das Leben schwang in einer Sphäre von Schweigen und rlorenheit, ich lebte am Rande, wo das Dasein fällt und das Ich beginnt. Ich denke oft an diese Wochen zurück: sie waren das Leben, sie werden nicht wiederkommen, alles andere war Bruch.“[1]



( Gottfried Benn – Epilog und lyrisches Ich)




1. Einführung in Gottfried Benns Produktions- und Werkästhetik

Gottfried Benn beginnt seine dichterische Tätigkeit unter einige gesellschafliche und künstlerische Umständen, die auch seine literarische Tätigkeit und Asthetik stark beinflussen. Es ist eine Zeit, die eine unsichtbare Scheidelinie zwischen der traditionellen aufklärerischen Ideale, dem oberflächlichen Wirklichkeitsmodell und der Subjektivitätskrise des modernen Menschen bildet.

Bis 1912 experimentiert Gottfried Benn mit traditioneller Dichtung, aber er ist nie mit den Ergebnissen zufrieden. Er versucht eine neue Form zu finden, die frei von subjektivem und historischem Modell ist, die ohne emotionale Attribute und traditionellen Symbolgehalt auskommen kann. Er findet die bügerliche Lyrik unzureichend und ungeeignet für das, was er zum Ausdruck bringen will. Auch sein Medizin-Studium und sein Praxis als Pathologe hat ein tiefen Eindruck bei Benns literarische Tätigkeit. Seine Erlebnisse als Arzt bereiten seinen literarischen Erfolg vor. Dieser Erfolg kommt zusammen mit der Auflage der Morgue-Gedichten von 1912, die gleichzeitig den Beginn seiner avantgardistisch- expressionistischen Phase einleitet.

Gottfried Benn war rtreter einer originellen individualistischen Weltanschauung, er unterscheidet zwischen der Welt und dem Ich, das sich außer der empirischen Wirklichkeit behauptet. Er hat innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft gelebt und sieht in dem modernen Leben den Triumph der Monotonie und der Mittelmäßigkeit, die zur rnichtung des Individualismus führen und als Auslösung sieht er die Selbsbehauptung des Ichs in diesem industrialisierten Gesellschaft der Zeit, die keine Interesse für das geistige Leben des Menschen zeigt.

Benn’s Meinung nach, soll die Schriftsteller oder Dichter echter, passender und aufmerksam gewählter Wörter benutzen und alle rethorische Ausdrucksmittel vermeiden, die nur als Schmuck funktionieren. Auch die Syntaxe des Satzes und die formale Struktur des Gedichtes soll die doppelte Natur der Wirklichkeit und die Spaltung des Menschengeistes darstellen, weil nach Benn sowohl die Dinge und die lebendige Wesen, als auch die menschliche Innere eine zweite, mehr autänthische Wirklichkeit bilden. Die Impressionisten versuchten eine sichtbare und erforschbare Wirklichkeit darzustellen, aber Benn dachte, dass die Darstellung der inneren Wirklichkeit des Geistes, der höchste rdienst der Kunst ist. Auf diesem Grund ist die realistische oder impressionistische Kunst keine echte Kunst für Benn, weil es ist zu beschränkt und reflektiert nur die außere Wirklichkeit, die für alle Leute schon bekannt ist.

Wilhelm Große hat mehrere Bücher und wissenschaftliche Arbeiten über Gottfried Benn und über Expressionismus in allgemeinen geschrieben. Bezüglich auf Benns literarische Tätigkeit und Asthetik meint er die die Folgende:



„ Voraussetzung der dichterischen Schöpfung ist die rlöschung des Ich, so dass sich Tiefenschichten der Seele öffnen, der Dichter seine Individualität in einem Prozess der regression verliert und so für die Macht des Wortes offen ist, die ihn dazu drängt, ein Gebilde zu schaffen, das in seiner Geformtheit sich als Schöpfung dem Nichts entgegenzusetzen vermag. Dichtung schafft in einer mythenleeren Zeit die abhanden gekommene Transzendenz neu, setzt eine transzendente Realität dem Nichts entgegen. Kunst wird damit zur «letzten metaphysischen Tätigkeit innerhalb des europäischen Nihilismus» wie Benn aus Nietzsches Willen zur Macht zitiert.“[2]



Der Protest gegen die zeitgenössische Gesellschaft, die negierende Haltung dem materiellen Fortschritt gegenüber, der die geistige Entwicklung des Menschen hindert, zeigt viele gemeinsamen Kennzeichen mit dem expressionistischen „Protestschrei“, an dem sich Benn ab „Morgue“ (1912) angenähert hat.

In diesen Gedichten proierte Benn die Asthetik des Häßlichen, einen Kult des Fleisches, die eine eigene neue Sprache brauchen. Die Expressionisten forderten eine neue Wortschöpfung, die zu der sogenannten „Revolution der Sprache“ führen sollte. Die Erneuerung der Sprache durch die Erfindung ganz neuer Ausdrucksmittel steht im Mittelpunkt der expressionistischen Programmatik, weil sie in rbindung zu dem Begriff des Doppellebens, zum Geburt des „Neuen Menschen“ und zur Beschreibung der zweiten, echten Wirklichkeit des Geistes steht.

Wie man oben in dem „Epilog und Lyrisches Ich“ bemerken kann, Benn charakterisiert sich durch die Idee seines Doppellebens, als der Sohn eines Theologen, Student, Mediziner oder Militärarzt und als Künstler, der bewusst in einer Welt von Schweigen und rlorenheit lebt und an seinem Ich nachdenkt.

Benn betont immer wieder seine Doppelexistenz, „Doppelleben“ heißt für Benn:



„Das, was lebt, ist etwas anderes als das, was denkt, dies ist eine fundamentale Tatsache unserer Existenz und wir müssen uns mit ihr abfinden.“[3]



(Gottfried Benn – Lebensweges eines Intellektualisten)



Doppelleben heißt auch in gedoppelter Weise existieren. In der Banalität des Alltags und in der Ekstase der Kunst.

Benn erlöst die Kunst von moralischen oder politischen rpflichtungen. Der Künstler ist „ statistisch asozial, weiss kaum etwas von vor ihm und nach ihm, lebt nur seinem inneren Material, für das sammelt er Eindrücke in sich hinein, das heißt zieht sie nach innen, so tief nach innen, bis es sein Material berührt, unruhig macht, zu Entladungen treibt. Er ist ganz uninteressiert an rbreiterung, Flächenwirkung, Aufnahmesteigerung, an Kultur. An der Kunst interessieren nicht mehr moralische Problem des Helden und nicht mehr das von ihm am Ende verkündete Ideal, sondern die Maßnahmen des Künstlers selbst, sich auszudrücken, also sein Konstruktives, seine Genialität in den Mitteln des Mitreißens, der Spannung, der Ich-Auflösung, seine bewusste Anwendung von Prinzipien des Baus und des Ausdrucks, die Bewußtmachung alles dessen, was nach Akt aussieht, schöpferischem Akt und dessen Steigerung.“[4]



So wollte Benn eine scharfe Abgrenzung machen zwischen Kunst und Leben, zwischen Ich und Gesellschaft, wichtige Teile seines „Doppellebens“, wie er nennt, und unvergängliche und stetige Problematik seiner Lyrik.

Benn selbst denkt, dass den Beginn seines literarischen Schaffens mit der „Morgue“ findet statt. Er grenzt sich damit von der bisherigen traditionalen Dichtung ab und findet endlich seinen ganz eigenen originalen Stil, der ihm die Darstellung seines Schaffens möglich macht. Der dominierende Ton seines Stils kann durch Zynismus und Sarkasmus charakterisiert sein. Durch dem Mittel des Zynismus und Sarkasmus drückt er das von rgänglichkeit und Weltlichkeit bedrohtem Selbstverständnis aus.

Neben dieser Zerschmetterung mystifizierender Todesvorstellungen klingen etwas später regressive Töne an. Das Gehirn als Ort des Bewusstseins und kognitiven rmögens wird als Ursprung des menschlichen Leids angesehen, die Rückkehr in eine vorbewusste Existenzform idealisiert. Eine zunehmende rgeistigung als Stufe der menschlichen Evolution erscheint als antinaturalistisch und existenzfeindlich. Nach weiteren röffentlichungen, unter anderen des Gedichtzyklus „Söhne“ (1913) und der Lyriksammlung „Fleisch“ (1917), gerät Benn in eine schwere Schaffenskrise. Er stößt an die Grenzen des mit der Morgue gefundenen Stils und kämpft mit Ausdruck, Stil und Form, um sich vor leeren Widerholungen bereits erprobter Themen und Ausdrucksformen zu schützen. In den Jahren 1921-l922 ist dann der Höhepunkt der Krise erreicht. Benn schreibt rückblickend:

„Wenn ich an die Jahre 1918 – 23 denke, die letzten „Expressionistischen Jahre“, - mein Gott, was habe ich mich gepresst u. massakriert u. erniedrigt u. gepeitscht, um Kunst zu machen, um zum letzten erfüllbaren Ausdruck zu kommen.“[5]

Benn versucht seinen einigen Stil zu finden und will eine passende, strengere Form finden, die ihn als Material für den Ausdruck seiner Ideen, Gedanken und Gefühle bedient. Endlich finden er im Zyklus „Schutt“ die Form, die er für seine expressionistische Dichtung benutzen kann, nämlich die achtzeilige, kreuzweise gereimte Strophe, der er sich in den folgenden Jahren fast ausschließlich bedient.

Er hat diese Form unter anderen bei den Bänden „Schutt“, Betäubung und „Spaltung“ benutzt. In den Themen der Lyrik dieser Phase vermischen sich Tod und Fleischlichkeit, die auch in der früheren Phase anwesend sind, mit einer außerweltlichen Sehnsucht und mit einem Leeregefühl. Besonders die rlorenheit des metaphysisch heimatlos gewordenen Ichs im Zusammenhang mit dem Wirklichkeit dekonstruierenden Nihilismus wird hier dargestellt. Später, zwischen 1928 und 1933 beschäftigt sich Benn hauptsächlich mit teopretischen und ästhetischen Arbeiten zu den Themen Nihilismus, Irrartionalismus und Expressionismus .

In den Gedichten aus „Morgue“ sind expressionistische Ausdrucksmittel und stilistische rfahren deutlicher als in den früheren Gedichten, die aber wichtige Zeichen einer erneuernden Entwicklung enthalten. Seine Ideen über die Sprache als schopfendes, sich erneuendes Wesen ist schon in der ersten Phase von Benns dichterischen Tätigkeit anwesend. Die Melancholie, die auch in den früheren Gedichten fühlbar ist führt die Trennung des lyrischen Ichs von der Realität un dessen innerlichen Spaltung ein. Also neben dem Problem der Sprache, das Problematik des lyrischen Ichs spielt eine zentrale Rolle in der lyrischen Schöpfung Benns, weil er das Subjekt des Erlebnisses ist. Das lyrische Ich entspricht weder der Dichter, noch eine gegebene Persönlichkeit, sondern eines geschaffene Ich, das „zwischen dem personalen Bewußtsein, der empirischen Individualität und dem ihnen transzendentalen Ausdruck der lyrischen Form steht.“[6]



Das lyrische Ich steht als Mittel zwischen dem Dichter und seinem Gedicht und entsteht aus den persönlichen Erlebnissen seines Schöpfers. Aus dieser Idee stammt der Begriff der Spaltung des Ichs, das sich nach Benn in einen empirischen und einen transzendentalen teilt. Das lyrische Ich stellt nicht mehr nur das Bewußtsein des Autors dar, sondern auch die neue lyrische Form, die die sich erneuernde Wirklichkeit darstellen soll. Das Autor denkt, dass das lyrische Ich seinen persönlichen Bezug verliert, aber dass heißt nicht das, dass es keine Bedeutung mehr hat. Benn meint, dass das lyrische Ich nicht nur ein Instrument ist, sondern lebendige Stimme innerhalb des Gedichtes. Durch die rwendung des lyrischen Ichs als nicht nur von dem Bewußtsein des Autors abhängige Stimme, wird die Subjektivität nicht negiert, sondern neu gebaut. Diese neue Darstellung des Ichs will nicht die Situation des subjektiven Ichs in der Literatur zerstören, sonder es setzt sich der Idee der integralen Persönlichkeit entgegen. Es gibt kein einheitliche Individuum mehr mit bestimmten Gefühle und Charakteristika, weil das lyrische Ich sich wieder und wieder erneut. Diese neue Konzeption des lyrischen Ichs entspricht der expressionistischen Tendenz, die mannigfaltige Persönlichkeit des Menschen darzustellen und das kann uns zu der Idee des Doppellebens zurückbringen.

Die Existenzkrise, deren rzweiflung die Expressionisten versucht haben Ausdruck zu geben, in Benns Lyrik manifestiert sich in der Darstellung einer Welt ohne Gott, oder eine Welt, wo Gott als kräftige Prinzip überall anwesend ist. Das Erlebnis, die persönliche, sinnliche oder psychologische Erfahrung des Menschen wird zum Kriterium durch den der Mensch die Wirklichkeit forschen kann. So nach Benn, alles was man erleben kann, kann durch die Dichtung dargestellt sein.

Ab Morgue wird das Problem der individuellen Grundlagekrise in Zusammenhang mit einer weiteren Zeitalterskrise betrachtet, deren entscheidende Kategorien Gegensatz und Synthese heißen . Für Benn ist Ambivalenz der Grundbegriff unter dem man die unversöhnliche Lage der modernen Gesellschaft betrachten soll. Unter der Begriffsdefinition Ambivalenz sind Antithetik, Antinomie, Dualismus zu verstehen, die sich dem zur Totalität, Ganzheit, Geschlossenheit entsprechenden Begriff der Synthese entgegensetzen.

Als Beispiel für die von der Inspiration getragene, für die rauschhafte Produktionsweise erwähnt Benn die Entstehung seiner ersten Gedichtsammlung:



„ Als ich die Morgue schrieb, mit der ich begann und die später in so viele Sprachen übersetzt wurde, war es abends, ich wohnte in Nordwesten von Berlin und hatte im Moabiter Krankenhaus einen Sektionskurs gehabt. Es war ein Zyklus von sechs Gedichten, die alle in der gleichen Stunde aufstiegen, sich heraufwarften, da waren, vorher war nichts von ihnen da; als der Dämmerzustand endete, war ich leer, hungernd, taumelnd und stieg schwierig hervor aus dem großen rfall.“[7]



Es waren wenige Gedichte (Kleine Aster, Schöne Jugend, Kreislauf, Negerbraut, Requiem, Saal der krießenden Frauen, Blindarm, Mann und Frau gehen durch die Krebsbaracke, Nachtcafe, D-Zug) und Benn gab dieser Sammlung den Titel „Morgue und andere Gedichte“.

Benn hat sich mit dem Gedichtband „Morgue“ auf die von den Expressionisten bevorzugt negativen Thematiken spezialisiert, nämlich den Tod, der Asthetik des Hässlichen, rfall und Hoffnungslosigkeit. Einzig die ungebundene und freie Form dieses Gedichtes scheint nicht besonders expressionistisch zu sein, da der Expressionismus häu versuchte, den turbulenten Inhalt durch eine fest Form mit festem Reimschema und Metrum zu „bändigen“. Diese Gedichte waren etwas Neues im rgleich mit was man bislang „Lyrik“ oder „lyrisch“ nennt. Sie provozierten eine Kunstvorstellung, nach der Kunst im wesentlichen rein dekorativen, unterhaltenden oder erbauernden Charakter haben sollte. Schon der Titel der Sammlung verwies auf den Hauptschauplatz: die Leichenhalle, den Krießsaal, die Krebsbaracke, den Sektionssaal, Orte der letzten Bestimmung des Menschen, wo er nicht mehr die Krone der Schöpfung ist, sondern er ist untergeordnet durch Tod.



„ das Neue des Gedichtzyklus liegt vielleicht gar nicht so sehr in der Sujetwahl als vielmehr in der Art des sprachlichen Arrangements, mit dem Benn sein Sujet gestaltet. Er verlieh diesen Gedichten einen unverwechselbaren Ton und hob sie aus dem Konzert der Stimmen hervor Religiöses Sprechen, die rwendung von Sprach- und Bildklischees, die systematische Aussparung des Gefühls un der dominierende kalt-zynische, medi-zynische Jargon und Vulgärsprachliches bilden ein eigenartiges, unverwechselbares Sprachgemisch.“[8]





































2. Werkanalyse







In den neuen Gedichten des Zyklus Morgue ist den Übergang von der ersten naturalistischen Phase zu der zweiten expressionistischen Phase der Dichtung Benns. In diesen Gedichten beschreibt Benn mit wissenschaftlicher Genauigkeit und kalter Unerschütterlichkeit krebsartige Körper sterbenden oder gestorbenen Menschen. Benn war sechsundzwanzig Jahre alt als die Morgue-Gedichte zum ersten Mal veröffentlich wurden.

In manchen Gedichten aus dem Zyklus Morgue gibt es eine Anspielung auf die traditionelle Blumenlyrik, die parodisiert wird. Es handelt sich aber um mehr als eine Parodie, weil Blumen, al Symbole der Schönheit mit der Realität kontrastieren. Dieser Gegensatz zeigt sich in der Form der Kontrastmontage, sehr verschiedene Worte von verschiedenen Fachkreise und Spheren werden zusammengestellt, um ein Schock bei den Lesern zu provozieren. So kontrastiert die Welt der Schönheit mit der Welt der Leichen, die auf ihre Körperlichkeit reduziert wird. Diese Reduktion der Menschen auf die anathomischen Aspekte, dieses häßliche Mensch kontrastiert mit den Aspekten der Wirklichkeit, die für den Leser noch erkennbar sind. So kann man auch über Schönheit sprechen, aber nur im satyrischen Ton.

In den Morgue-Gedichten handelt es sich um einen rsuch der Antipoesie, eine Art Dichtung, die sich der traditionellen Lyrik formal, sprachlich und inhaltlich entgegensetzt.

Das lyrische Ich in Benns Dichtungen ist keine teilnehmende Stimme, sondern ein zynischer Beobachter der Gegenstänlichkeit der Körper, die auf ihre Materialität reduziert werden. So entfernt sich Benns lyrische Ich von der Gesellschaft der Zeit.

Um eine kurze Präsentation Benns literarischer Welt im Zusammenhang mit der Epoche des Expressionismus darzustellen, habe ich die Morgeu-Gedichte gewählt. Es war eine sehr klare Entscheidung, weil die Literaturgeschichte die Morgue-Gedichte Benns als repräsentativ für die gesamte Stilepoche betrachtet. Das Gedicht Nachtcafé habe ich gewählt, obwohl es scheinbar ein bisschen anders ist wie die andere Gedichte des Gedichtbands Morgue, aber es trägt spezifische Eigenschaften von Benns Lyrik.



Nachtcafé

824: Der Frauen Liebe und Leben.
Das Cello trinkt rasch mal. Die Flöte
rülpst tief drei Takte lang: das schöne Abendbrot.
Die Trommel liest den Kriminalroman zu Ende.

Grüne Zähne, Pickel im Gesicht
winkt einer Lidrandentzündung.

Fett im Haar
spricht zu offenem Mund mit Rachenmandel
Glaube Liebe Hoffnung um den Hals.

Junger Kropf ist Sattelnase gut.
Er bezahlt für sie drei Biere.

Bartflechte kauft Nelken,
Doppelkinn zu erweichen.

B-Moll: die 35. Sonate.
Zwei Augen brüllen auf:
Spritzt nicht das Blut von Chopin in den Saal,
damit das Pack drauf rumlatscht!
Schluß! He, Gigi! –

Die Tür fließt hin: Ein Weib.
Wüste ausgedörrt. Kanaanitisch braun.
Keusch. Höhlenreich. Ein Duft kommt mit. Kaum Duft.

Es ist nur eine süße Vorwölbung der Luft
gegen mein Gehirn.

Eine Fettleibigkeit trippelt hinterher.





Das Werk „Nachtcafè“ von Gottfried Benn stammt aus dem Jahre 1912. Obwohl das Gedicht Nachcafe gehört dem Band “Morgue” von 1912, Benn wählt als Umgebung und Szenerie nicht mehr das Leichen- oder Krankenhaus wie bei den anderen Gedichte dieses Bandes, sondern in deisem Gedicht geht es um ein Nachcafe, in dem sich Menschen treffen. In diesem Sinn ist Nachcafe ein bißchen anders, aber wenn man die formale Elemente bemerkt ist es nicht mehr so unterschiedlich. Die Reimlosigkeit und der rzicht auf ein einmal festgelegtes und dann durchgehaltenes Metrum und die Variabilität der Anzahl der Zeilen pro Strophe, machen dieses Gedicht mit anderen Gedichten des Bandes vergleichbar.

Die erste Strophe beginnt mit einer Zahlenangabe: „824“.Dann führt Benn mit „Der Frauen Liebe und Leben“ fort. Diese Angaben sind Hinweise auf Robert Schumanns Werk, „Frauenliebe und –leben“. Schumanns Musik führt nach einer romatischen Atmosphäre und man denkt an romantische Liebe, die als Kontrast funktionieren kann gegen die Liebe, die man in einem Nachtcafe treffen kann.

Romatische Liebeslieder von Schumann, später Trauermarschsonate von Chopin, so stellt Gottfried Benn die musikalische Untermalung der Nachcafe-Szene dar. Der Dichter stellt auch die Menschen dar, die sich im Nachcafe begegnen. Für diese Darstallung er Metonymien, denn von Menschen ist nie die Rede, sie werden nur genannt durch metonymische Eigenschaften. Mit dieser Technik beschreibt Benn ein Orchester. Es sind nur Instrumente benannt, die die Menschen vertreten.

In den folgenden vier Strophen beschreibt das Autor vier Paare. Was auch schon im ersten Abschnitt aufgefallen sein könnte ist, dass Personen immer nur auf prägnante Außerlichkeiten reduziert werden. Das lyrische Ich beschriebt die hässlichen Merkmale. Besonders direkt wird der Sprecher jedoch erst ab der zweiten Strophe: „Grüne Zähne, Pickel im Gesicht winkt einer Lidrandentzündung“.

In der vorletzten Strophe erscheint das lyrische Ich im Vordergrund, wenn er von seinem Hirn spricht. Für einen Augenblick kommt die Hoffnung auf, dass mit der Getsalt eines Weibes die Erlösung aus dieser schauderhaften, von Krankheit und rkrüppelung entstellten Cafehaus-Gesellschaft, kommen kann. Nach diesem Augenblich realisiert das lyrische Ich, dass das Weib ein passende Teil dieser Gesellschaft ist. Deshalb fühlt sich das lyrische Ich wieder allein und isoliert in seiner Welt.

„Nachtcafe“ ist ein sehr beliebtes Gedicht expressionistischer Literaturepoche im Deutschunterricht. Der Grund dafür ist, dass in „Nachtcafè“ sehr viele Kritikpunkte an der Gesellschaft geäußert werden, die in expressionistischen Werken typisch sind. Auf sehr unverblümte Weise zeigt Benn auf das Hässliche, die Krankheit und die Abscheu vor dem Menschen. Die Gesellschaft wird als degeneriert, verfallen und triebgesteuert dargestellt. Personen werden als individualitätslos beschrieben, die nach die sogenannte „Ich-Dissoziation“ führt.

Das Gedicht Schöne Jugend habe ich gewählt, weil es ein gutes Beispiel für Benns provokative Lyrik ist und man dadurch kann sehen, wie dieses seine schockierende Ausdrucksform erreicht.



Schöne Jugend

Der Mund eines Mädchens, das lange im Schilf gelegen hatte
sah so angeknabbert aus.
Als man die Brust aufbrach
war die Speiseröhre so löcherig.
Schließlich, in einer Laube unter dem Zwerchfell
fand man ein Nest von jungen Ratten.
Ein kleines Schwesterchen lag tot.
Die anderen lebten von Leber und Niere,
tranken das kalte Blut und hatten
hier eine schöne Jugend verlebt.
Und schön und schnell kam auch ihr Tod:
Man warf sie allesamt ins Wasser.
Ach, wie die kleinen Schnauzen quietschen!



Benn löst einen ersten Schock durch die Tetelgebung aus, weil der Titel ganz andere Erwartungen erweckt als der Leser später in dem Text bemerken kann. Nach dem Titel „Schöne Jugend“ erwartet man etwas anderes als der angeknabberten Mund eines Mädchens, das lange im Schilf gelegen hatte. Die „schöne Jugend“ bezieht sich auf die Ratten, die sich in der leihe eines Mädchens von Leber, Niere und Blut der Leihe ernähren.Der Titel dieses Gedichtes, die als eine bürgerliche Idylle klingt, kann man als Gesellschaftskritik interpretieren. Dieter Liewerscheidt meint in seinem Buch mit dem Titel „Gottfried Benns Lyrik“ über das Gedicht „Schöne Jugend“ die folgende:



„Die ambivalente rmischung des Häßlichen mit dem Schönen kann hier als Instrument der Normenverunsicherung gelten.“[9]



Auch Benn spricht später in seinem Werk „Probleme der Lyrik“ bezüglich auf sein Gedicht über den Prozess der Depresonalisierung des Menschen, wie er das darstellen wollte:



„Zurückfallen des Menschen in die rwesung, das Auslöschen des Bewußtseins, die Aufhebung der Identität der Person. All das führt in Grenzsituationen, in denen die Übermacht des vitalen Geschehens alle Sinnbezüge aufhebt.“[10]



So präsentiert Benn die Wirklichkeit des Fleisches, die einzige relaistische Wirklichkeit nach Benn. Diese wissenschaftliche Beschreibung der Körperteile, aber verweist ein mitleidisches, teilnehmendes Gefühl der Tragik des Lebens und einen Protest gegen die Gefühllosigkeit der Gesellschaft.

Das Gedicht Der Arzt II ist ein typisches Beispiel für Benns Gesellschaftskritik. Es präsentiert, wie Benn den Sinn und das Schicksal der Menschheit in seiner zeitgenössischen Gesellschaft sieht.



Der Arzt

II

Die Krone der Schöpfung, das Schwein, der Mensch -:
geht doch mit anderen Tieren um!
Mit siebzehn Jahren Filzläuse,
zwischen üblen Schnauzen hin und her,
Darmkrankheiten und Alimente,
Weiber und Infusorien,
mit vierzig fängt die Blase an zu laufen-:
meint ihr, um solch Geknolle wuchs die Erde
von Sonne bis zum Mond -? Was kläfft ihr denn?
Ihr sprecht von Seele - Was ist eure Seele?
rkackt die Greisin Nacht für Nacht ihr Bett -
schmiert sich der Greis die mürben Schenkel zu,
und ihr reicht Fraß, es in den Darm zu lümmeln,
meint ihr, die Sterne samten ab vor Glück?
Ah! - Aus erkaltendem Gedärm
spie Erde wie aus anderen Löchern Feuer,
eine Schnauze Blut empor -:
das torkelt
den Abwärtsbogen
selbstgefällig in den Schatten.

Das Gedicht “Der Arzt” öffnet mit einer Idee, die den Mensch als Schwein betrachtet. Diese Idee ist im Zusammenhang mit Benns anderen Ideen über den Menschen, in der er den Mensch zuallererst als Fleisch, als physische Realität betrachtet. Das Wort Schwein hat er auch mit einer moralischen und einer biologischen Bedeutung benutzt. Benn zeigt uns, dass der Mensch als Tier in Betracht gezogen werden kann und er hat den Mensch ihm gleichgestellt. Die moralische Seite des Wortes zeigt die moralische Schwachheiten des Menschen, die der Dichter auch mit dem ironisch gebrauchten Ausdruck „die Krone der Schöpfung“ betont. Dieser Ausdruck steht auch als eine Satire gegen die Religion und die Wissenschaft, die die Menschen als höhere Wesen im rgleich mit den anderen Tieren betrachten. Benn beschreibt Menschen als Tiere und er will alle Illusionen zerbrechen, dass Gott die Welt für die Menschheit geschafft habe und dass die Menschen sich wegen der Seele von den Tieren unterscheidet, wie die Religion uns lehrt.

Gottfried Benn stellt auch die folgende Problematik durch eine rhetorische Frage: „Was ist eure Seele?“ Benn gibt uns keine konkrete Antwort auf diese Frage, aber verweist durch medizinischen Darstellungen und Thesen darauf, dass der Mensch nichts anderes als ein Schwein ist, wie er sich am Anfang äußert. Am Ende des Gedichtes zeigt Benn dem Leser, dass er für die Menschheit keine Hoffnung sieht und nach ihm hat die Menschheit keine Chance zu Überleben.

Es gibt mehrere Interpretationsvarianten, aber Gottfried Benn zeigt uns hier die Sinnlosigkeit des Menschenlebens und dass er den Hauptgrund des zukünftigen Weltunterganges in den Schwachheiten des Menschen und der Gesellschaft sieht. Das Ich ist schon verloren und er sieht keine Chance für Erlösung. Gottfried Benn äußert eine starke Gesellschaftskritik mit diesem Gedicht, es ist eine Kritik gegen die Gesellschaft, in der Benn als Arzt, als Dichter und als lyrisches Ich keinen Platz mehr findet.

Benn begann seine literarische Tätigkeit 1912 mit dem Gedichtheft Morgue, in dem man den Einfluss seiner wissenschaftlichen Kenntnisse am deutlichsten sieht. Dann erschien ein Band Gesammelte Schriften, dann die Essaybände Kunst und Macht, Nach dem Nihilismus. Fazit der Perspektiven bis wann eine Wandlung in seiner dichterischen Tätigkeit stattfand und die „Zeit des rstummens“ begann. 1936 erschienen die Ausgewählten Gedichte der Ptolemäer, die Gespräche „Drei alte Männer“ und 1949 das Doppelleben.

Außer „Ausgewählter Gedichte der Ptolemäer“ und „Drei alte Männer“, beinhalten alle Bände auch alte und neue Motiven von Benns Asthetik. Man kann seine literarische Tätigkeit nicht als eine Evolution betrachten. Es ist viel richtiger zu bemerken, dass es eher eine ränderung war, als eine Evolution.

Gottfried Benn hat mehrere Schaffensphasen erlebt. Er hat als Künstler und Wissenschaftler die Krise des Glaubens an das Werden und an die Entwicklungsphilosophie erlebt. Er war auch von der darwinischen Entwicklungstheorie enttäuscht, weil Benn das Leben nicht als eine Entwicklung von niedrigen zu höheren Formen versteht, sondern er an eine dauernde ränderung und Ergänzung des schon Bestehenden glaubt. Er glaubt nicht mehr an die Entwicklung der geschichtlichen Welt, sondern nach Benn kann nur die Kunst, die Zeit und die Geschichte überwinden. Dem ewigen Werden, der biologischen Entwicklung setzt Benn die Kunst entgegen, weil nach Benn die Kunst die Physik und Geschichte vereint.

Der Dichter und der Denker sind ein und dasselbe für Benn und sie beschreiben das tragische Sein des Menschen und der Geschichte. Um die Tragik des Lebens zu beschreiben soll der Dichter eine neue Sprache, die Sprache der Sachlichkeit verwenden und einen neuen Inhalt für sie finden. In Morgue dient die wissenschaftliche Beschreibung von gestorbenen Menschen, deren Körper mit kalter Genauigkeit seziert werden, dazu, die konventionelle Sprache der Lyrik, die an die Wortleere grenzt und ihre konventionellen Inhalte anzugreifen.

Benn will nicht nur Erfahrungen, Vorgänge, Bilder, Visionen darstellen, sondern auch die ihnen gemäße Sprache, deren Wörte und Wortgefüge einen starken Eindruck auf den Leser ausüben können, erfinden.

Benn hat nicht nur den Zerfall des alten wissenschaftlichen Glaubens, sondern auch den der traditionellen Ich-Vorstellungen unter den analytischen Unternehmungen der Freud- und Jungzeit erlebt. Benn nimmt wahr, dass der Mensch kein einheitliches Individuum ist sondern ein zweifaches, dessen Inneres eine unvermeidliche Spaltung erlebt. Nicht nur den Mensch, sondern das ganze Leben wird von Benn dualistisch gefasst und dargestellt. Tiere, Menschen und Gegenstände haben eine doppelte Existenz, ein zweifaches Sein, das aus einem oberflächlichen und einem verborgenen Teil besteht. So erlebt der Mensch ein dauerndes Gefühl des Geheimnis und jede Erscheinung wird Täuschung, wenn er ihre innere Seele, ihre zweite Seite nicht in Betracht zieht. Deshalb präsentiert Benn die Fleischlichkeit des Wesens und dadurch formuliert er eine starke Gesellschaftskritik.

Für Benn ist das Werk der Kunst und vor allem der Dichtung die einzige Forme der Ewigkeit, die der zeitgenössische Mensch der vernichtenden Kraft der Zeitlichkeit entgegensetzen kann. Im Gegensatz zu dieser Gesellschaft und diesem Menschentyp präsentiert der Dichter die Figur des Künstlers.

Nur der Künstler, der dem Geist dient, kann die Berührung mit dem Transzendenten finden und neben dem fragmentarischen Ich das metaphysische Ich, das von der Psychologie nicht erforscht werden kann, stellen.

Benn betrachtet mit skeptischer Haltung das religiöse Suchen des Menschen des neunzehnten Jahrhunderts und stellt ihm die nihilistische Idee des ewigen Wiederkehrens entgegen, dem sich nur die Kunst entziehen kann. Man kann in Benns Anschauung einige Berührungspunkte mit der Philosophie Nietzsches erkennen, aber während Nietzsche an das Werden glaubt und die Ziellosigkeit der ewigen Wiederkehr des Gleichen hervorhob, bestätigte Benn den Wert des Seins wieder, aus dem er seine Gebilde gestaltete. Die dualistische Fassung des Ichs bringt mit sich, dass es zwischen ihm und dem Allgemeinen, das dualistisch gefasst wird, eine rbindung besteht.

Jedes Wort soll für Benn in seine Bestandteile aufgelöst werden und in ihm findet man Geist und Gefühle der Leute, die es im Lauf der Jahrhunderte gebraucht haben. So wird das Wort Mittel, um die Drohung der rgänglichkeit darzustellen und zugleich präsentiert es die zeitlose Existenz, was einer der größten Widersprüche in Benns Werk ist.



Das Gedicht als die Frage nach dem Ich



Auch Philosophie und Literatur kann man als Formen entwickelter Reflexivität gegenüber Wirklichkeit sehen. Wenn man über moderne Literatur oder über die Werken moderner Literatur spricht, kann man als Beispiel Benns literarische Schöpfung nehmen, weil er von der Literaturgeschichte als ein wichtiger Repräsentant des Expressionismus betrachtet wird. Zusammen mit der Dekonstruktion, mit der Erfahrung strebender Weltbilder und mit dem rlust transparenter Wirklichkeitsmodelle, ist der Konflikt des modernen Ichs die zentrale Problematik in Benns Lyrik. Für ihn war das Gedicht immer die Frage nach dem Ich, und die unverwechselbare Radikalität des poetischen Ausdrucks, mit der er diese Frage hervorbrachte. Ohne Mitleidspathos spricht Benn über rwesung und dadurch reduziert er das menschliche Leben nur auf Fleischlichkeit. Zusammen mit dem physischen Zerfall endet auch das Wunder des Geistes, und der Dünkel der Erhabenheit.

Die Entwicklung der menschlichen Rasse sieht Benn als eine antinaturalistische Entwicklung. Das Hauptthema der Lyrik wandelt sich zwischen der Idee der Indifferenz gegenüber dem sinnlosen und einsamen Leben und zwischen Exaltationsgefühlen und -zuständen. Vor allem in den lyrischen und essayistischen Arbeiten zeigt Benn das lyrische Ich und seine Bemühen, das sein Platz in diesem Gesellschaft nicht mehr findet und sucht nach einer neuen Identität, die er nur in der Kunst und mit der Hilfe der Kunst finden kann. Benn wählt dafür die Form der Dichtung.

Benn sucht eine Art Erlösung für das lyrische Ich in der Kunst, obwohl er keine Erlösungsmöglichkeiten für die Gesellschaft sieht, aber die Sinnlosigkeitsgefühle und die innerliche Leere bleiben immer wieder unaufgelöst.

So tritt die Grundsituation hervor, die Benn in seinem Denken fixiert und zum konstitutiven Element seiner Weltanschauung erhebt: das polarisierte Ich im Spannungsfeld zwischen sozial und historisch vorgeprägter Lebenswelt und der Sphäre schöpferischer Autonomie. So findet man nach Benn den eigentlichen Wert seiner Existenz, die substantielle Freiheit, sich über Chaos und Determination zu erheben. Benn bezeichnet die Kunst die im Gefolge Nietzsches als die eigentliche Aufgabe des Lebens“ und als dessen „metaphysische Tätigkeit“.

Oft sieht sich das Ich in einem Begriffsgewebe gefangen, das naturwissenschaftliche Vokabular mit religiösen und kulturhistorischen Motiven auf eigentümlich divergente, dabei doch poetisch verdichtete Weise verbindet:

„rlorenes Ich, zersprengt von Stratosphären,
Opfer des Ion-: Gamma-Strahlen-Lamm-
Teilchen und Feld-: Unendlichkeitschimären
auf deinem grauen Stein von Notre-Dame.“ [11]



Angesichts solcher Zerrissenheit stellt sich die Frage nach dem eigenen Ort. Aber für das vollkommen säkularisierte Bewusstsein gibt es nur die Aussicht auf das Nichts. Alle Deutungsversuche von Seiten der Religion, Philosophie oder Ideologie haben sich abgenützt, nirgends zeigt sich eine rettend eingreifende Erlöserur.

Die Kunst wird Artistik, reiner Ausdruck, substantielle Tätigkeit des sich in der Schöpfung verwirklichenden Ich: Artistik ist der rsuch der Kunst, innerhalb des allgemeinen rfalls der Inhalte sich selber als Inhalt zu erleben und aus diesem Erlebnis einen neuen Stil zu bilden, es ist der rsuch gegen den allgemeinen Nihilismus der Werte eine neue Transzendenz zu setzen: die Transzendenz der schöpferischen Lust. Die artistische Kunst ermöglicht die Rückkopplung auf jenen Zustand mystischer Partizipation, in dem das Ich sich als ursprünglich, prälogisch, akausal und doch im höchsten Selbstgefühl erfährt; es geht tief zurück bis in jene Sphären, wo in der Totalität uralt die Sphinxe stehen, wo das Denken () in den dunklen Kreis organischer Belange tritt.[12]

(Gottfried Benn)

Benn gibt der modernen Dichtung einen monologischen Charakter, es ist für ihn eine stilisierte Weise des Selbstgesprächs. Im Gefüge der Worte steht das schöpferische Subjekt sich selbst gegenüber und dadurch, nach Benn, eröffnet die Möglichkeit eines autonomen Ich, des lyrischen Ich als ein absolutes Subjekt.

Im dichterischen Ausdruck erhält das Ich seine Dauer durch Kunst, durch Dichtung. Hinter dem Gedicht steht der Phänotyp, die Summe der individuellen Wesenszüge. Dieser sich auf das Werk übertragende Phänotyp personifiziert und repräsentiert das Bewusstsein einer ganzen Epoche. Durch der Darstellung dieses Phänotyps will unser Dichter die konkrete und individuelle Problematik des Menschen und die allgemeine und abstrakte Problematik der Gesellschaft der Zeit wiedergeben.













[1] Zitiert nach: Große, Wilhelm – Literaturwissen. Gottfried Benn, Reclam rlag 2002, Seite 11


[2] Zitiert nach: Große, Wilhelm – Literaturwissen. Gottfried Benn, Reclam rlag 2002, Seite 14


[3] Zitiert nach: Große, Wilhelm – Literaturwissen. Gottfried Benn, Reclam rlag 2002, Seite 12


[4] Zitiert nach: Große, Wilhelm – Literaturwissen. Gottfried Benn, Reclam rlag 2002, Seite 16


[5] Zitiert nach: Benn, Gottfried – Den Traum alleine tragen. Neue Texte, Briefe, Dokumente 1966, Seite 180


[6] Meister, Ulriche - Sprache und lyrisches Ich. Zur Phänomenologie des Dichterischen bei Gottfried Benn, Erich Schmidt rlag 1983, Berlin, Seite 100


[7] Große, Wilhelm – Literaturwissen. Gottfried Benn, Reclam rlag, 2002, Stuttgart, Seite 25


[8] Zitiert nach: Große, Wilhelm – Literaturwissen. Gottfried Benn, Reclam rlag, 2002, Stuttgart, Seite 27


[9] Zitiert nach: Große, Wilhelm – Literaturwissen. Gottfried Benn, Reclam rlag, 2002, Stuttgart, Seite 32


[10] Zitiert nach: Große, Wilhelm – Literaturwissen. Gottfried Benn, Reclam rlag, 2002, Stuttgart, Seite 34


[11] Zitiert nach: Benn, Gottfried – rlorenes Ich


[12] Zitiert nach: Große, Wilhelm – Literaturwissen. Gottfried Benn, Reclam rlag, 2002, Stuttgart, Seite 23






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