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Beschreibung von Sprache unter zusätzlichen Gesichtspunkten

Beschreibung von Sprache unter zusätzlichen Gesichtspunkten



1. Die Textlinguistik



1.1. Allgemeines



In den vorangehenden Kapiteln wurden drei klar voneinander absetzbare Themenkreise besprochen:

· Die Semiotik, eine Disziplin welche den linguistischen Teildisziplinen vorgeordnet ist und theoretische Grundlagen nicht nur für die Linguistik bereitstellt;

· Die konstitutiven Gliederungsprinzipien von Sprache (die zwei Seiten des sprachlichen Zeichens) in der Morphologie und Syntax und der Semantik (Zeichenkombination Zeicheninterpretation);

· Die Pragmatik als Lehre von den fundamentalen Regularitäten, die in jedem Gebrauch von Sprache eine Rolle spielen;



In allen Darstellungen wurden die sprachlichen Aspekte größtenteils ohne Rücksicht auf Faktoren besprochen, die in jeder sprachlichen Außerung mitwirken, aber vom rein ‘Sprachlichen’ unterschieden werden müssen. M.a.W es wurden die Potentiale der Sprache untersucht, Sprache wurde als virtuelle Größe betrachtet.

Das gilt auch für die Besprechung der Pragmalinguistik, wo nie konkrete Bedingungen und Abläufe der Zeichenapplikation zur Diskussion standen, sondern vielmehr die grundlegenden Rahmen­strukuren und Regularitäten, innerhalb derer sich konkrete Bedin­gungen überhaupt erst auswirken und kommunikative Abläufe entwickeln können.




Mit der Diskussion der Textlinguistik, Soziolinguistik, Psycho­linguistik und Historiolinguistik wird die ganze Sprache wiederum thematisiert, aber jeweils unter einem zusätzlichen Gesichtspunkt, der bis anhin aus der Betrachtung ausgeklammert geblieben war; d.h. es werden Faktoren berücksichtigt, die bei bestimmten r­wen­dungsformen von Sprache eine bedeutende Rolle spielen und die Einflüsse, die diese auf die Sprache und den Sprachgebrauch aus­üben können.



In der Textlinguistik geht es darum, die besonderen Bedin­gun­gen, unter denen Sprache in Texten gebraucht wird, zu unter­suchen.



Die Textlinguistik geht von der pragmatischen Erkenntnis aus, dass die sprachliche Kommunikation nicht in isolierten Sätzen vor sich geht, sondern in Außerungen verschiedenster Größe, die in die Situation und den Kontext eingebettet und über die Satzgrenzen hinaus („transphrastisch“) strukturiert, d.h. grammatisch (semantisch und syntaktisch) verbunden sind. Wir nennen solche Außerungen Texte. Ein Grundkriterium zur Bestimmung von Texten ist die Einheitlichkeit, die durch spezifische Faktoren gesichert wird.



Vgl.: isolierte Beispielsätze

Es ist kalt. – Ein neuer Film spielt im Kino. – Es ist schon vier Uhr. – Hast du vielleicht ein Taschentuch? Was ist jetzt denn mit dem Flügel los? - Im Nahen Osten finden wiederum erbitterte Kämpfe statt.

Text A: Eine Anekdote

Als der Dichter Freiligrath sich verlobte, verschickte er rlobungskarten. An einen seiner Freunde schrieb er dazu: Die beiliegende Karte ist das Neueste, was ich habe drucken lassen, und ich meine - das Beste!

Text B: Ein Dialog

“Guten Morgen, Klaus. “Guten Morgen, Mama”. “Schon Zähne geputzt?” “Hab’ ich”. “Dann kannst du jetzt frühstücken”. “Mag nicht, ich hab’ keinen Hunger”. “Doch, eine Tasse Milch wirst du noch trinken können”. “Also, wenn’s sein muss.”

Die Beziehungen zwischen den einzelnen Sätzen eines Textes lassen sich in vielen Fällen an sprachlichen Elementen festmachen, die untereinander in einem deutlichen syntaktischen oder auch semantischen Bezug stehen; semantisch: denn der isolierte Satz Was ist jetzt denn mit dem Flügel los? bleibt ohne Kontext zweideutig. Freiligraths Karte dagegen wird durch den Kontext eindeutig gemacht, kann also keine Eintritts- oder Landkarte sein.

Die Textbeispiele zeigen, dass es stereotype Formen von Texten gibt, je nach der Kommunikationssituation. Wir nennen sie Text­sorten.

Wo wir sprachlich manifestierte Textbezüge ausmachen können, spre­chen wir von Kohäsion; die Mittel, die dazu eingesetzt werden, nennt man Kohäsionsmittel.



Texte können natürlich auch nur aus einem Satz bestehen, wie z.B. viele Aphorismen oder Sprüche, etwa das Bonmot: Meteorolgen wissen, wie das Wetter gestern war, oder sogar nur aus einem Wort wie Hilfe! (elliptisch). Aber auch diese Beispiele sind in Situationen eingebettet. Der Normalfall sind jedoch offensichtlich Mehrsatz-Texte.



Ansätze zu einer Textlinguistik zeigten sich schon bei der Prager Schule der 30er Jahre (Mathesius) und ihrer Fortsetzung in den 60er Jahren. Aber erst die Kritik an der Satzgrammatik (der traditionellen wie strukturellen Syntax) und die Entwicklung der Pragmatik um 1970 führte zum Aufschwung der Textlinguistik.



Der Begriff Textlinguistik kann im engeren und im weiteren Sinne verstanden werden. Textlinguistik i.e.S. bezeichnet die Text­grammatik, d.h. Textsyntax und Textsemantik. Textlinguistik i.w.S. dagegen umfasst alles, was mit Texten zu tun hat, also neben der Textgrammatik auch den pragmatischen Aspekt, d.h. das Sprech­handeln mit Texten = Textpragmatik = Texttheorie. Diese setzen manche Linguisten sogar mit der Kommunikationstheorie und damit als Oberbegriff auch fast mit der Linguistik selbst gleich - sicher nicht ganz unbegründet, aber unnötig.

Die Textlinguistik hat sich jedenfalls zu einer Art Textwissenschaft aus­geweitet. Ihre Aufgabe ist die Beschreibung der Regeln und Strukturen bei der Produktion, Konstitution und Rezeption aller mö­glichen Texte. Wir wollen uns im Folgenden vorrangig mit der Text­linguistik i.e.S. befassen.





1.2. Textsyntax



Bloomfield hatte definiert: Each sentence is an independent linguistic form, not included by virtue of any grammatical construction in any larger form.“ Über diese Festlegung ist die strukturelle Syntax nicht hinausgegangen.

Die Hauptfrage lautete also zunächst: Gibt es grammatische Regularitäten über die Satzgrenze hinaus? - Betrachten wir dazu einen Beispieltext:







Wenn Herr K. einen Menschen liebte

Was tun Sie”, wurde Herr K. gefragt, “wenn Sie einen Menschen lieben? - Ich mache einen Entwurf von ihm“, sagte Herr K., und sorge, dass er ihm ähnlich wird- “Wer? Der Entwurf? – “Nein”; sagte Herr K., “der Mensch.”

(B. Brecht)



Die Einheit des Textes lässt sich auf allen Ebenen nachweisen:

pragmatisch: Gegeben ist ein Dialog aus aufeinander bezogenen Fragen und Antworten zwischen fiktiven Personen. Diese Situation ist eingebettet in die weitere Kommunikationssituation zwischen dem Erzähler (Brecht) mit seiner Intention, seinem Stil usw. und den Lesern mit ihren Erwartungen, ihrem rständnis usw.

semantisch: Die Bedeutungen der Elemente werden durch den Kontext bzw. die Situation festgelegt, und - was noch mehr wiegt - einige von ihnen sind (thematisch) durchlaufend.

syntaktisch: Es bestehen regelhafte formale Beziehungen zwischen den Elementen verschiedener Sätze.

Die drei Ebenen sind hierarchisch ineinander verschränkt und deshalb nicht exakt zu trennen. Wichtig ist, dass vor einer grammatischen Textanalyse jeweils eine möglichst umfassende pragmatische Interpretation stehen sollte.



Die Fragen Wer? Der Entwurf? können als Schlüssel sowohl zur Gesamtinterpretation wie zu dem auffälligen textsyntaktischen Phänomen gelten: Warum kann der Gesprächspartner Herrn K. missverstehen? Einige Textelemente zeigen eine unmittelbare Referenz auf die außersprachliche (hier fiktive) Wirklichkeit: neben einigen rben und Adjektiven vor allem Herr K., ein Mensch, ein Entwurf. Diese werden jedoch in ganz verschiedener Weise wiederaufgenommen.









1.2.1. Kohäsionsmittel



Als ein Grundkriterium des Textes wurde die Kohäsion angeführt.

Je nach Art und Weise des Textbezugs bzw. je nach Auswahl der verwendeten sprachlichen Mittel kann man unterschiedliche Formen von Kohäsion unterscheiden.

Gehen wir zurück zu den isolierten Beispielsätzen, zu Text A und Text B (Dialog) aus dem Kapitel 1.1.



Im Gegensatz zu den isolierten Sätzen, zwischen denen keine ver­bin­dende Beziehungen bestehen, sind die beiden Texte nicht nur situativ und inhaltlich (thematisch), sondern auch grammatisch ver­bunden. So gibt es bestimmte Wiederaufnahmen schon genannter Elemente.





1.2.1.1. Wiederaufnahme oder Rekurrenz



der Dichter Freiligrath  er, seiner, er, ich, ich

rlobungskarten  dazu, die beiliegende Karte

Klaus  du, ich

Hier werden schon eingeführte spachliche Elemente, variiert wiederaufgenommen.

Die Rekurrenz bezieht sich auf die Wiederaufnahme eines einmal eingeführten Textelements im nachfolgenden Text. Die Rekurrenz kann

a) einfach sein (wobei dasselbe Lexem immer wieder aufgenommen wird, was stilistisch plump wirkt):



Ein Mädchen saß im Garten auf der Bank. Das Mädchen sah im Garten plötzlich eine Katze. Die Katze war klein und niedlich. Das Mädchen nahm die Katze in den Arm und streichelte die Katze.

Oder

b) partiell sein, wenn die Lexeme demselben Lexemverband angehören:



unterrichten – Unterricht - Unterrichtsmethoden usw.









1.2.1.2. Substitution



liegt vor, wenn ein Textelement (ein Wort oder ein Wortgruppe) im nachfolgenden Text durch ein ihm inhaltlich verbundenes Text­element wiederaufgenommen wird und wenn beide Text­elemente dieselbe Referenz haben, d.h. sich auf dasselbe außer­prachliche Objekt beziehen:

Z.B.

Wale sollten heute nicht mehr gejagt werden Diese Säugetiere sind vom Aussterben bedroht.

Bei dieser Form der Textverknüpfung spielen, genauso wie bei der Rekurrenz, semantische Dimensionen eine bedeutende Rolle.

So handelt es sich im oben angeführten Text nicht um einfache Koreferenz, denn durch das Substituens ‘Säugetier’ werden neue Bedeutungsaspekte in Bezug auf das betroffene Referenzobjekt ‘Wale’ eigebracht.





1.2.1.3. Die Pro-Formen



Bei der Textverknüpfung durch sogenannte Pro-Formen wird mit Hilfe weitgehend inhaltsleerer sprachlicher Elemente auf ein Bezugs­element des sprachlichen Kontextes verwiesen.

Zu den Pro-Formen gehören vor allem die Pronomina, es können aber auch Adverbien (jetzt, da, dort) und Pronominaladverbien (darauf, womit, woran usw.) sowie Demonstrative (dieser, jener, da) als Pro-Formen verwendet werden.

Pro-Formen können sich auf sprachliche Einheiten unterschiedlicher Größe beziehen: Einzelwörter, Wortgruppen, Sätze oder Text­ab­schnit­te.



Z.B.

Das ist meine Freundin. Sie ist Zahnärtztin.



Er wünschte sich zum Geburtstag eine ausgelassene Party am Meeresstrand. Darauf freute er sich schon.



Er überlegte, was er tun sollte. Sollte er denn jetzt den Arzt rufen, oder selbst eingreifen. Oder vielleicht gleich die Frau des rletzten anrufen? All das ging ihm blitzartig durch den Kopf.



Die Pro-Formen selbst haben, wie aus den Beispielen hervorgeht, keine inhaltliche Füllung; sie erfüllen lediglich eine rweisfunktion, geben eine Suchanweisung. Nur wenn die Suchanweisung erfolg­reich befolgt wird, wenn klar ist, auf welches Textelement die Pro-Form verweist, ist über dieses Textlement ein Referenzbezug (die Pro-Formen erhalten eine inhaltliche Füllung). Dank ihrer rweisfunktion (deiektische Funktion) gehören die Pro-Formen zu den Kohäsionsmitteln mit besonders stark ausgeprägter ver­knüpfenden Kraft.

In Bezug auf die rweisrichtung kann man anaphorischen rweis (Rückverweis) und kataphorischen rweis (Vorverweis) unter­scheiden:



Anaphorisch: Das Mädchen spielte jetzt mit der Katze. Das hatte es sich schon immer gewünscht.

Kataphorisch: Das hatte sie sich schon immer gewünscht. Anna spielte jetzt mit der Katze.

Die Hauptfunktion der rweisformen ist jedoch, die Einheit des Textes, die Textkohärenz (den Textzusammenhang) zu schaffen. Die Kohärenz, die auf allen Textebenen eine Rolle spielt, kann geradezu als Schlüsselwort der Textlinguistik bezeichnet werden, z.B. wird Text manchmal als “kohärente Folge von Sätzen defi­niert.





1.2.1.4. Die Ellipse



Der elliptische Anschluss ist eine Form der Textverknüpfung, deren Funktionsweise am ehesten mit derjenigen von Pro-Formen ver­glichen werden kann, wobei hier der Textverweis durch Leer­stellen erzeugt wird

Typisch für Dialoge sind Ellipsen, d.h. grammatisch unvollständige Sätze. Sie sind durch die Situation entlastet und um überflüssige Elemente reduziert:



z.B.

“Guten Morgen, Klaus. “Guten Morgen, Mama”. “Schon Zähne geputzt?” “Hab’ ich”. “Dann kannst du jetzt frühstücken”. “Mag nicht, ich hab’ keinen Hunger”. “Doch, eine Tasse Milch wirst du noch trinken können”. “Also, wenn’s sein muss.”



(Hast du) schon (deine) Zähne geputzt?  Schon Zähne geputzt?

(Ja,) ich hab(e) (meine Zähne geputzt).  Hab’ ich.

Ich mag nicht, ich hab(e) keinen Hunger.  Mag ich nicht, ich hab’ keinen Hunger.



Im Textzusammenhang interpretieren wir die Leerstellen als (anaphorische) Suchanweisung, d.h. wir überprüfen, ob im voran­gehenden Satz syntaktisch passende sprachliche Einheiten exi­s­tieren, mit denen wir den elliptischen Ausdruck grammatisch korrekt ergänzen können, und stellen so eine enge rbindung zwischen den beiden Sätzen her.





1.2.1. Artikelselektion.



Im Russischen, Chinesischen und anderen Sprachen gibt es keine Wortart ‘Artikel’. Die germanischen und romanischen Sprachen dagegen besitzen unbestimmte und bestimmte Artikel, und die Sprecher müssen jeweils auswählen, ob sie z.B. ein Erdbeben, das Erdbeben oder einfach Erdbeben (ohne Artikel) sagen:



a) Im Vrancea-Gebiet war heute Nacht wieder ein Erdbeben.

b) Das Erdbeben verursachte großen Sachschaden.

c) Erdbeben sind Naturerscheinungen, gegen die der Mensch wenig unternehmen kann.

Die Regeln der deutschen Artikelselektion sind äußerst verwickelt und durch viele Sonderfälle zusätzlich verkompliziert. Hier können nur einige Hinweise gegeben werden, besonders auf die textuellen Funktionen.



Der unbestimmte Artikel bezeichnet allgemein eine Klassen­zugehörigkeit und damit die Relation Teil-Ganzes. Im Text dient er der Neueinführung von Substantiven und lenkt (nach Weinrich) die Aufmerksamkeit auf die Nachinformation. Ihm entsprechen auch indefinite Pronomen wie einige, viele, manche. Da der unbestimmte Artikel im Plural wegfällt, spricht man dann von Null-Artikel (Ø, analog zu Null-Morphem). Dieser Fall darf nicht mit Substantiven ohne Artikel verwechselt werden (siehe unten).



Z.B:

Das ist eine Kette. Sie ist aus Silber…

Das sind (Ø) Ketten. Sie sind aus Silber…

Dies sind (Ø) wunderschöne Jugenstil-Bauten.

Gestern traf ich einen Freund. Der/er/dieser/der Freund war…

Ich gebe dir einige Zeitschriften mit. Kannst sie behalten.

Der bestimmte Artikel bezeichnet allgemein ein Individuum oder eine Gesamtheit. Im Text dient er der Wiederaufnahme von etwas schon Genanntem bzw. weist auf die Vorinformation zurück. Ihm entsprechen Demonstrativ- und Possessivpronomen wie dieser, jener, mein.

Wir finden also bei den Artikeln Ana- und Kataphorik wieder. Wichtig ist, dass die Vorinformation nicht nur im Kontext, sondern auch in der außersprachlichen Situation und sogar im gesamten (Welt-)Wissen des Sprechers und im Sprachsystem selbst gesehen werden kann. Aus diesem Grunde können auch Substantive mit bestimmtem Artikel im Text neu auftreten, ein beliebtes Stilistikum bei

Textan­fängen, das die Neugier des Lesers weckt, der sich sofort in die Situation hineinversetzt fühlt: Die Frau sprach mit tiefer Stimme. Sie hatte. Die gleiche Funktion haben Pronomen am Textanfang: Sie sprach mit tiefer Stimme. Sie hatte… Da sie jedoch nicht-referentiell sind, kann das Stilistikum bei zu häuer rwendung leicht zur Masche“ werden.



Ohne Artikel werden Eigennamen, bestimmte Abstrakta, Stoffbe­zeichnungen und Substantive in vielen idiomatischen Wen­dungen verwendet, besonders bei Wortpaaren. Der Gebrauch ohne Artikel ist oft stilistisch motiviert, so dass strenge Regeln kaum anzu­geben sind.



Z.B.

Maria will heute Karl treffen.

Die Oper wurde rdi zugeschrieben.

Er studiert Anglistik.

Sie aßen fast nur Gemüse und Obst.

seit Jahr und Tag; mit Kind und Kegel verreisen;

Der Fußballspieler ist einfach Spitze.

Im Folgenden resümieren wir den Gebrauch des Artikels:

Unbestimmter Artikel: Klassenzugehörigkeit, Neueinführung im Text = rweis auf Nachinformation entspricht Pronomen, wie: einige, viele, manche.



Bestimmter Artikel: Individualbezeichnung Wiederaufnahme im Text = rweis auf Vorinformation entspricht Pronomen wie: dieser, jener, mein.



Ohne Artikel: Eigennamen, Abstrakta, Stoffbezeichnungen, in festen Wendungen.

Diese Regeln gelten nur ganz grob und müssen durch Sonderregeln modifiziert werden, die hier nur exemplarisch angedeutet werden können, und zwar als Ausnahmen mit dem bestimmten Artikel:



Der Wolf ist ein Fleischfresser. - (Klassenzugehörigkeit)

Der Mann las jeden Tag Zeitung. - (Neueinführung)

Das Bild, das du bewundert hast. - (rweis auf Nachinformation)

Der Hans hat wieder die Prüfung nicht geschafft. - (umgangssprachlich)

Sie wollten nichts als Gesundheit. - (Gebrauch beliebig)

Schweigend aßen sie das Gemüse. - (individuiert)

Iss mit der Gabel. - (aber:

Iss mit Messer und Gabel. - (Wortpaar, Wendung)





1.2.1.6 Konnexion



Konnexion bedeutet allgemein rbindung. Hier ist jedoch eine spezielle rbindung durch bestimmte Konnektoren gemeint wie Konjunktionen, Adverbien und Partikeln, die über die Satzgrenze (oder Teilsatz-Grenze) hinaus, also textsyntaktisch fungieren.

Betrachten wir dazu eine Reihe von Beispielen, die alle den gleichen Inhalt, aber formal verschieden, ausdrücken:



Sie hatte vor Aufregung das Geschenk vergessen .

Sie vergaß das Geschenk, weil/da sie aufgeregt war.

Sie vergaß das Geschenk, denn sie war aufgeregt.

Sie vergaß das Geschenk. Denn sie war aufgeregt.

Sie vergaß das Geschenk. Sie war nämlich/doch/ ja aufgeregt.

Sie vergaß das Geschenk. Sie war aufgeregt. (implizit)

Sie war aufgeregt, weshalb/weswegen sie das Geschenk vergaß.

Sie war aufgeregt. Aus diesem Grunde/ deshalb/ deswegen/ so/ also/folglich…vergaß sie das Geschenk.

Sie war aufgeregt und vergaß das Geschenk.

Sie war aufgeregt. Sie vergaß das Geschenk. (implizit)



Die Konnektoren drucken inhaltliche Beziehungen wie kausal, lokal, temporal, additiv, adversativ usw. aus, die zwischen Satz­glie­dern, Teilsätzen, Sätzen und größeren Texschnitten bestehen können. Diese Beziehungen können auch implizit, also ohne explizite Nennung bestehen und werden dann aus dem Kontext (der Situation) erschlossen.





1.3. Textsemantik



1.3.1 Mittel der Kohärenz



Texte enthalten - ebenso wie Lexeme – Referenzanweisungen, d.h. so wie einzelne Lexeme verweisen (referieren) auch Texte auf die außersprachliche Wirklichkeit. Und da es sich auch um fiktive Wirklichkeiten handeln kann - z.B. in Romanen, - sagt man genauer, Texte verweisen auf Wirklichkeitsmodelle.

Lexeme sind - isoliert gesehen - meist mehrdeutig. Sie haben verschiedene lexikalische Bedeutungen und damit für ihre textuelle rwendung mehr oder weniger umfangreiche Referenzpotentiale (Referenzmöglichkeiten). Im Satz, und viel mehr noch im Text, werden nur bestimmte Bedeutungen gemeint, aktualisiert bzw. zugelassen, man spricht dann von aktuellen Bedeutungen. Die strukturelle Semantik geht davon aus, dass nicht ganze Bedeu­tungen, sondern nur bestimmte semantische Merkmale aktualisiert werden.

Z.B:

Läufer1 (eine Person, Sportler) – [ ANIM HUM SPORT]

Läufer2 (Schachur) - [- ANIM….]



Im Satz:

Der Läufer will einen neuen Weltrekord aufstellen.

[ HUM]  [-HUM]

[= ANIM]  [=-ANIM] [……]

[ SPORT]  [ SPORT]

oder

[-ANIM]



In dem Satz:



Er hatte nur noch einen Läufer. Damit konnte er die Schachpartie nicht gewinnen.

[-ANIMI]  [-ANIM]  [NP -ANIM]

oder oder

[ HUM] [ HUM]

[= ANIM] [= ANIM]



Die inkompatiblen Beziehungen sind durchkreuzt. Sie werden nicht zugelassen (ausgeschlossen) und dadurch Lexeme im Text wie im Satz eindeutig gemacht = monosemiert.





1.3.1.1. Isotopie



Semantische Merkmale, die im Text wiederkehren, werden als rekurrent bezeichnet. Durch Rekurrenz werden sie aber auch innerhalb des Semems dominant (beherrschend). Wenn das Wort Läufer in einem Text einmal als Schachur identifiziert worden ist, steht das Merkmal [-Anim] auch beim nächsten Auftreten sozusagen an der Spitze und unterdrückt die Möglichkeit [ Hum].



Lexeme, die über ein gemeinsames, rekurrent-dominantes semantisches Mermal verknüpft sind, konstituieren eine Isotopie-Ebene.



In unserem Beispiel bestehen die Isotopieebenen:

Läufer  Sportler  Weltrekord

Läufer  gewinnen  Schachpartie



Isotopieebenen helfen also bei der Monosemierung von Lexemen. Glieder eines Bedeutungsfeldes gehören natürlich per definitionem zu einer Isotopieebene. Je mehr Lexeme eine Isotopieebene im Text enthält, desto mehr trägt sie zur semantischen Spezifikation (Diffe­renzierung) bei, und desto wichtiger wird sie für die Gesamtbe­deutung des Textes. Doch ist das nicht nur eine Sache der Quantität.



Wenn ganze lsotopieebenen mehrdeutig bleiben, liegt komplexe lsotopie vor.



Z.B.:

Der schwarze Läufer lag auf dem Boden.

[ Organ Anim Hum] – (Person)

[ Organ -Anim –Hum] - (Teppich) [ Organ  Anim  Hum]

[ Organ -Anim –Hum] – (Schachur)



Hier können erst Kontext bzw. Situation Eindeutigkeit schaffen. Kom­plexe lsotopie ist oft beabsichtigt als Mittel der Komik in witziger Re­de.



Exemplarische Textanalyse



Der Beispieltext - eine Zeitungsnachricht - stammt aus der “Fuldaer Zeitung” vom 108. 2000



(1) Showtime in Amerika.

(2) Zwei Wochen nach den Republikanern schicken sich nun die Demokraten an, ihren Präsidentschaftskandidaten auf dem Schild zu heben.

(3) Noch schriller, lauter, bunter lautet die Parole für das über 100 Millionen Mark teuere, bis ins kleinste Detail sorgsam inszenierte Schauspiel.

(4) Wahlkampf als Jahrmarkt der Eitelkeiten, als Feuerwerk aus Glanz und Glamour- so lieben es die Amerikaner, während kritische Stimmen auf dem Alten Kontinent angesichts der durch Millionenspenden ausufernden Materialschlacht vor einem Ausverkauf der Politik warnen.

(5) In einem Triumphmarsch zum Auftakt des Konvents hat Präsident Clinton seinem Parteivolk ein letztes Mal bewiesen, wer der wahre Held auf der Politbühne ist.

(6) Zweifelhaft ist daher, ob es Gore gelingen wird, endlich aus dem langen Schatten seines Vormannes herauszutreten.



Bei der Textanalyse kommt es jetzt nicht darauf an, die Monosemierung der Lexeme nachzuweisen (z.B. Präsident Clintom, der wahre Held auf der Politbühne, der dynamische Vormann), son­dern zu zeigen, welche durchlaufenden Isotopien im Text miteinander in rbindung gebracht werden und für die Textbedeutung wichtig sind.

Die Zahl der Isotopiegruppen ist nicht genau angebbar. Eine Gruppe muss zwar mindestens aus zwei Gliedern bestehen, aber ansonsten ist die Zusammenfassung zu Gruppen vom Abstraktionsniveau abhängig.

Der thematische Kern der Nachricht ist ein Ereignis, der Wahlkampf für die Präsidentenwahl in Amerika, der unter Aufwand besonders hoher Kosten, aus europäischer Sicht und nicht nur, eher mit einem Schauspiel verglichen wird.



Auf diese Weise kann die Isotopie-Analyse zur Textinterpretation und damit zum Textverständnis beitragen. Natürlich ist ein Beispiel zu wenig, um alle Möglichkeiten der Isotopie-Analyse vorzuführen. So ist z.B. bei vielen Texten auch auf die Ebenen Stil, und Wertung oder Attitude des Autors zu achten wie etwa Pathos, Humor, lronie, Sarkasmus, Hass u.dgl., was sich besonders an den konnotativen Merkmalen gewisser Lexeme ablesen lässt. Beim obigen Beispiel könnte man das wichtige Merkmal Wertung (Kritik am Wahlkampfritual) als der Textsorte (politisches Kommentar) entsprechend anführen.





1.3.1.2. Thema-Rhema-Gliederung als Mittel der Textprogression



Im vorigen Abschnitt konnte schon ein Fortschreiten im Informa­tions­fluss des Textes festgestellt werden. Damit ist gemeint, dass im Text ständig neue Information geboten wird, diese aber gleichzeitig immer an Bekanntes gebunden ist.

Im folgenden Beispiel wir eine Information geboten, an die eine Aussage knüpft, die wiederum die Basis für weitere Aussagen liefert und so fort:





Mit einem schottischen Abschlusszeugnis in der Tasche



wird der britische Prinz William im schottischen St. Andres Kunstgeschichte



studieren.



Die Zeitung “Daily Express” berichtete am Mittwoch, der Achzehnjährige sei an der



Universität angenommen worden.



Bevor sich der Prinz aber über seine Bücher setzt,



will er ein ganzes Jahr Pause machen und nach Australien reisen.



(aus: Frankfurter Allgemeine Zeitung: 17.08.2000)



Diese Erscheinung wurde zuerst von Linguisten der Prager Schule (Mathesius; Daneš, Sgall, Firbas, Beneš) auf der Satzebene untersucht und “Functional Sentence Perspective” (FSP, Funktionale Satzperspektive) genannt. Danach bestehen Sätze

aus einem Thema (T) – “das, worüber etwas ausgesagt wird

und einem Rhema (R) – “das, was darüber ausgesagt wird”.



Z. B:

Erika (T ) - heiratet (R). Pflanzen (T) – brauchen viel Wasser (R).

Hier liegt nicht eine grammatische Gliederung zugrunde, sondern der rsuch, den kommunikativen oder Mitteilungswert festzustellen. Im Deutschen ist dafür der Begriff Thema-Rhema-Gliederung (TRG) am meisten in Gebrauch.

Die exakte Ermittlung und Definition von Thema und Rhema sind allerdings recht problematisch. Zum Beispiel wird das Thema oft mit dem Erstglied des Satzes gleichgesetzt. Das trifft zwar für auto­nome Sätze, wie etwa Sprichwörter zu:



Schwatzen (T) - lernt man früher als Zuhören (R).

Ein Lügner (T) - muss ein gut Gedächtnis haben (R),

doch in kontextuell eingebetteten Sätzen kann die Anfangsstellung des Themas durch die Möglichkeiten der Wortstellung und Intonation leicht in Frage gestellt werden. Ebenso unhaltbar ist die Gleich­setzung des Themas mit dem Subjekt (s.u. genauer).



Z.B.:

Meine Schwester (T) – erzählt ein Märchen (R). (was?)

Ein Märchen (R) - erzählt- - meine Schwester (T). (was?)

Ein Märchen (T) - erzählt - - meine Schwester (R). (wer?)

Meine Schwester (R) - erzählt - -ein Märchen (T). (wer?)

Meine Schwester (T) – erzählt (R) - ein Märchen (T). (liest nicht vor)



Auch die sogenannte Ermittlungsfrage nach dem Rhema löst das Problem nicht, da zwar meist intuitiv nach der neuen Information gefragt wird, grundsätzlich aber nach jedem Satzglied gefragt werden kann.



Am besten geeignet scheint Hallidays Kriterium “given – new” zu sein. Danach signalisiert das Thema etwas Gegebenes, durch Kontext oder Situation Bekanntes, auch allgemein Bekanntes, das Rhema hingegen etwas Neues, das allerdings auch schon früher einmal erwähnt worden sein kann, jetzt aber den aktuellen Kern der Aussage bildet.


Dabei zeigt sich, dass dem Thema vor allem das psychologische Subjekt bzw. der logische Begriff “Satzgegenstand”entspricht.







· Das Haupthema eines Textes realisiert sich meist in mehreren verschiedenen Subthemen, die dem Thema zu- bzw. unterge­ordnet sind und die ihrerseits wieder in einer hierarchischen Beziehung zueinander stehen können.

· Von den Subthemen können Nebenthemen unterschieden wer­den, die dem Hauptthema oder einem Subthema beigeordnet, aber nicht untergeordnet sind und somit nichts zur Konstitution dieser Themen beitragen.

· Die Tatsache,dass wir die Frage “Was ist das Thema des Textes?” in vielen Fällen paraphrasieren können mit der Frage: “Wovon handelt der Text?”, weist auf einen engen Bezug zwischen Textthema und Referenzebene des Textes.



Es war eine relativ lange Vorbereitung nötig, um auf das eigentliche Anliegen zu kommen, die Thema-Rhema-Gliederung (TRG) im Text.

Daneš hat versucht, die TRG auf den Textrahmen auszudehnen und verschiedene Typen der rkettung und Hierarchie von Themen und Rhemen nachzuweisen. Er unterscheidet dabei 5 Haupttypen:



1) Die einfache lineare Progression besteht darin, dass das Rhema des vorangehenden Satzes zum Thema des folgenden wird usw.



Z.B.:

T1  R1 Unsere Wirtschaft sucht rationelle Arbeitsverfahren.



= T2 R2 Rationelles Arbeiten ist auch in der modernen

 Wissenschaft immer mehr gefragt.

=T3R3 Überhaupt gleicht sich der moderne

 Wissenschaftsbe­­trieb immer mehr den Strukturen an, =T4R4 wie wir sie in der Großindustrie finden.



2) Die Progression mit einem durchlaufenden Thema leitet von ein und demselben Thema nacheinander mehrere Rhemen ab.

Z.B.: (Biographie):



T1 R1 Thomas Mann wurde 1875 geboren.



=T2 R2 Er erhielt 1929 den Nobelpreis für Literatur.



=T3 R3 Er emigrierte 1933 aus Deutschland.

3) Die Progression mit von einem Hyperthema abgeleiteten Themen erscheint ähnlich, nur sind die Themen nicht identisch, sondern stellen verschiedene Aspekte eben des Hyperthemas dar.



Z.B.: (Lexikonartikel):



(HT) (Geographie Rumäniens)



T1R1 Rumänien liegt in Südosteuropa.

T2R2 Seine Oberflächengestalt ist

mannigfaltig.

T3R3 Die Einwohnerzahl ist von über 21 Millionen



4) Das Entwickeln eines gespaltenen Themas aus einem Rhema. Diese Progression stellt eine Variante zum Typ 1 dar.



Z.B.: (medizinischer Fachtext):



T1  R1 (= R1’ R1” ) Es gibt verschiedene Virenarten.



= T2’ R2  Viren sterben in trockener Luft.

= T2”  R2” G-Viren dagegen passen sich an.



5) Die Progression mit einem thematischen Sprung hat Daneš nur angedeutet. Sie ist äußerst häu und könnte als “Text-Ellipse” bezeichnet werden, da sozusagen das Zwischenstück einer linearen Progression ausgelassen wird.



Z.B. (Nachricht):



T1 R1 Gestern hat eine Polizeisuchaktion stattgefunden.



(Polizeisuchaktion ” impliziert”Suche nach Täter)



T2 R2 Der mutmaßliche Täter wurde gefasst.



Bemerkungen: Die klare Trennung von Typ 2 und 3 scheint problematisch. Man kann nämlich einerseits jedes durch-laufende Thema auch als Hyperthema verstehen bzw. andererseitsTexte mit einem Hyperthema oft so umformen, dass ein durchlaufendes Thema entsteht, z.B. den obigen Beispieltext über die Geographie Rumäniens:











Rumänien liegt in Südosteuropa. T1  R1



Es hat eine mannigfaltige Oberflächengestalt. T1 R2



Es hat über 21 Millionen Einwohner. T1 R3



Auch Typ 4 weist auf Typ 3, denn das Rhema des ersten Satzes wird nachträglich zum Hyperthema der gespaltenen Themen in den Folgesätzen. (Übrigens tritt auch sehr häu ein konkret gespaltenes Rhema auf). Schließlich ist auch Typ 5 eindeutig eine Variante zur linearen Progression.

Somit lassen sich eigentlich nur 2 Haupttypen festmachen, nämlich die lineare und die durchlaufende Progression.



Themen-Kategorien: Um die Identifizierung von Themen zu erleichtern, hat Beneš vorgeschlagen, dabei folgende 4 Kategorien zu unterscheiden:

1) Elemente mit Bezug auf ein Hyperthema (HTE, siehe Typ 3),

2) Topikpartner in Nachbarsätzen (TP, direkte Wiederauf­nahme),

3) der Ertrag aus dem vorhergehenden Satz (ERT, Kommen­tierung).

4) Situativa (SIT, zusätzliche Raum- und Zeit-Angaben).



Eine exemplarische Textanalyse einer Zeitungsmeldung soll im Weiteren dargestellt werden, um die Komplexität der thematischen Pro­gres­­sion besser zu verdeutlichen (die Sätze sind durch­num­meriert).



(0) Sparkassenpreis (R1) für Roberto Ciulli (T1)

(1) Der Chef des Mühlheimer Theaters an der Ruhr, Roberto Ciulli(T1), erhält in diesem Jahr den 60 000 Mark dotierten Kulturpreis der rheinischen Sparkassen(R1).

(2) Mit der Auszeichnung(T2) wird sowohl “das künstlerische Schaffen als auch das humanistische Engagement” des Sechsundsechzigjährigen gewürdigt.(R2)

(3a) Der geburtige Mailänder(T1) gründete vor zwanzig Jahren das Theater an der Ruhr(R3).

(3b) das(T3) sich dem künstlerischen Austausch und Begegnungen mit Theatern in der ganzen Welt verpflichtet fühlt (R4) .

(4) rliehen(R5)wird der Preis(T4) am 29. Oktober im Mühlheimer Theater.



(Frankfurter Allgemeine Zeitung:17.08.2000)



HT (0) Roberto Ciulli





T1R1 (1) Der Chef….Kulturpreis



T2R2 (2) Auszeichnung…humanist.

Engagement würdigen.

T1R3 (3a) Mailänder gründete Theater.



T3R4 (3b) das…sich verpflichtet fühlt



T2R5 (4) der Preis verliehen.







Diese kleine Zeitungsmeldung besteht aus einer Überschrift und 4 Sätzen, von denen einer komplex ist (3). Damit ist das Problem der Satzdefinition berührt. Natürlich haben auch Nebensätze eine eigene TR-Struktur, doch zeigt das Beispiel in (3) eine inhaltliche rkettung der Teilsätze, die man auch zusammengefasst betrachten kann. Dann würde der Attributsatz (3b) zur Bestimmung des Akku­sativobjekts Theater (Rhema) gehören und somit zum Rhema. Wir haben uns für die Aufspaltung entschlossen und das Relativ­pro­nomen als Thema einer neuen Gliederung gedeutet.

Wichtiger aber sind die Progressionen. Es ist eindeutig, dass das Hyperthema, (Roberto Ciulli) den Text dreimal durchläuft (Satz 0, 1 und 3b).

Hier wird erkennbar, dass die TRG über die reine Textgrammatik hinausgehen und zu einer umfassenderen Textanalyse beitragen kann. Damit ist die Frage berührt: Wozu dient die TRG? Sie stellt zweifellos einen Fortschritt von der System- zur Textlinguistik dar, doch damit ist nur etwas über ihre wissenschaftstheoretische Bedeu­tung gesagt. Wie steht es mit ihrer praktischen Anwendbarkeit? Zunächst sieht sie ja nur wie eine weitere Mathematisierung der Linguistik aus, und ihre graphische Darstellung erinnert - ähnlich wie die Stammbäume der Grammatik - an technische Schaltskizzen.

Doch bei näherem Hinsehen erweist sich die TRG als von jenen prinzipiell verschieden. Sie fußt auf den Mitteilungswerten innerhalb von Texten, ist kommunikativ fundiert. Man kann sagen, sie deckt die Informationsstruktur von Texten auf. Dazu braucht sie Modelle wie andere Textstruktur-Analysen auch. Sie erfasst mehrere Bereiche, u.a. die syntaktische und semantische Kohärenz von Texten, die Pragmatik der Organisation und des rstehens, besonders kompli­zierter Texte aus rwaltung und Wissenschaft sowie die literatur-wissenschaftlichen Bereiche Stilistik und Rhetorik.

Eine TR-Analyse kann schließlich auch auf dem Weg von der wörtlichen zur kommunikativ adäquaten Übersetzung helfen, da die Mit­teilun­gsfunktion von Texten universal ist, die TRG aber in den Einzelsprachen verschieden sein kann.





1.4. Textfunktion



Der dem Begriff der Textkohärenz zugrundeliegende Ansatz einer ganzheitlichen Betrachtung von Texten eröffnet eine neue Perspek­tive nicht nur auf das ‘Innenleben’, sondern auch auf das ‘Außen­le­ben’ von Texten, nämlich auf die Funktion von Texten in konkreten Kom­muni­kationszusammenhängen.

Die ‘inhaltliche’ Definition von Texten soll um die funktionale Be­stimmung ergänzt werden, die besagt, dass:

Ein Text eine komplex strukturierte, thematisch wie kon-zeptuelle zusammenhängende sprachliche Einheit ist, mit der ein Sprecher eine sprachliche Handlung mit erkennbarem kom­mu­nikativem Sinn vollzieht.



Diese Definition erinnert an den Illokutionsbegriff, der für die Ebene des Satzes in der Pragmalinguistik besprochen wurde. Auf Text­ebene entspricht dem Illokutionsbegriff die Textfunktion: beidesmal ist der intentionale Aspekt einer sprachlichen Außerung ange­sprochen.

In seinem ‘Organon-Modell’ hat Karl Bühler eine Klassifikation der Texte nach Funktion versucht. Es handelt sich dabei um eine semio­tisches Modell, welches die Funktionsweise von Sprachzeichen im Rahmen konkreter Kommunikationszusammenhänge beschreiben möchte. In diesem Sinne werden den Sprachzeichen drei mögliche Grundfunktionen zugeschrieben:

a) die Funktion der Darstellung von Gegenständen, Sachverhalten und Ereignissen;

b) die Funktion des Ausdrucks der inneren Befindlichkeit, der Emotionen und der Einstellungen des Zeichenbenutzers;

c) die Funktion des Appells, mit dem sich ein Zeichenbenutzer an einen Rezipienten wendet und mit dem er ihn zu bestimmten Reaktionen veranlassen möchte.



Damit sind aber allenfalls Großklassen von Textfunktionen be­schreib­bar, die sich in Bezug auf konkrete Einzeltexte auch überlagern und vermengen können.

Die Bestimmung der Textfunktionen ermöglicht eine verfeinerte Klas­si­fizerung der Texte nach Textsorten.





1.Textsorten



Es gehört zu unserer Intuition in Bezug auf Texte, dass wir sie spon­tan kategorisieren und einer bestimmten Gruppe gleichartiger Texte zuordnen können. Solche Gruppen gleichartiger Texte bezeichnen wir als Textsorten.

Wenn wir von Textsorten sprechen, meinen wir Gruppen von Texten, die sich durch bestimmte gemeinsame Merkmale kennzeichnen.



Eine befriedigende, ausschöpfende Textsortenklassifikation gibt es bis heute nicht, weil vor allem die pragmatischen Aspekte der Texterzeugung in ihrer Vielfalt schwer zu erfassen sind; trotzdem sollen hier einige Kriterien angeführt werden:

· die lautlich-paraverbale Ebene (Nachrichten klingen anders als die Morgenpredigt, Maschinenschrift unterscheidet sich von Handschrift);

· die Wortwahl (z.B. Personenbeschreibung, Stellenanzeige, Wet­ter­bericht, Vortrag, wissenschaftliche Studie usw. unterscheiden sich im ausgewählten Vokabular);

· Art und Häukeit von Satzbaumustern (Fachtexte kennzeich­nen sich durch geballte Nominalkonstruktionen und gehäufte Partizipialgefüge; andere Konstruktionen finden sich im Märchen oder Liebesbrief);

· Themenverbindung und Themenverlauf (vgl. wissenschaftlichen Vortrag mit einem Privatbrief, oder Tagebuch);

· das Thema selbst (kann in der Benennung der Textsorte selbst angeführt werden (Kriegsbericht, Entschädigungsantrag, Stellen­gesuch, Liebeslyrik);

· Textstrukturmuster (Textarchitektur/ Gliederung-Baustruktur/ Makrostruktur) (Erzählungen, Romane);

· Textfunktion (steht im Vordergund bei alltagssprachlichen Textsortenbezeichnungen wie Urteil, Antrag – der inhaltliche Aspekt wird eher vernachlässigt);

· Die Kommunikationsituation/Textkonstellation:

a) der Öffentlichkeitscharakter einer Situation,

b) der soziale Status der Kommunikationspartner,

c) das Vorwissen der Kommunikationspartner,

d) der Bekanntheitsgrad der Kommunikationspartner

usw.

Besonders die Erfassung der Kommunikationsituationen stößt auf er­heb­liche Schwierigkeiten, da praktisch keine zwei identischen Kom­munikationsituationen möglich sind.



Bei der Auflistung der Textsortenkriterien wird erneut deutlich, wie viele Annäherungen und Schnittpunkte zwischen der Textlinguistik und der Pragmalinguistik existieren; dass die Teilbereiche der Linguistik allgemein in einer engen rbindung zueinander stehen, dass sie sich gegenseitig bedingen und bestimmen.
























2. Die Soziolinguistik

2.1. Allgemeines



Die Soziolinguistik thematisiert Sprache und die Produkte des Sprachgebrauchs unter soziologischer Perspektive. Keine Sprach­­gemeinschaft ist sozial homogen. Sprachkenntnisse, Sprach­gebrauchsweisen und sprachliche Wertkriterien variieren zwischen den sozialen Gruppen. Diese Unterschiede sind einerseits Folgen unterschiedlicher sozialer Erfahrung, andererseits werden sie zu wichtigen Elementen der sozialen Identifikation bzw. Distanzierung. In der Soziolinguistik wird so der außersprachliche Gesichtspunkt der sozialen Differenzierung zum Ausgangs­punkt der Analyse. Das Hauptinteresse der soziolinguistischen Forschung gilt der Wechselwirkung, der Interdependenz zwischen den Formen des sprachlichen Ausdrucks und den gesellschaftlichen rhältnissen.

Die Soziolinguistik hat – wie dies der Name sagt – starke Bezüge zu ihrer Nachbarwissenschaft, der Soziologie, und zwar

a) sowohl inhaltlich, indem Sprache primär als soziales Phänomen betrachtet wird, das sich nur mit Bezug auf die gesellschafltichen und sozialen Lebensbedingungen ihrer Sprecher beschreiben lässt, als auch

b) methodisch, indem der Empirie ein hoher Stellenwert eigeräumt wird: Die Erforschung der konkret gegebenen Sprachrealität innnerhalb einer bestimmten Sprachgemeinschaft ist zum einen Grundlage, zum anderen Kontrollinstanz für wissenschaftliche Aus­­sagen über Sprache. Die nötigen Sprachdaten werden mit Hilfe spezieller, aus der Soziologie übernommenen Befra­gungs­techniken oder im Rahmen von Feldforschung und teilneh­mender Beobachtung gewonnen.



Die Ausbildung eines eigenständigen soziolinguistischen Arbeits­bereichs muss im Zusammenhang mit dem neuen Selbstverständnis der Sprachwissenschaft in den späten 60er und frühen 70er Jahren gesehen werden: für die Entwicklung der Soziolinguistik ist der politische Hintegrund von 1968 wichtig: Die Politisierung des wissen­s­chaftlichen Betriebs führte vor allem in den sogenannten Geistes- und Kulturwissenschaften zu einem Umdenken der gesellschaftli­chen Relevanz ihrer Forschungstätigkeit und Forschungsergeb­nisse. Es wurde gefordert, dass diese Wissenschaftzweige ihre rein theoretische Ausrichtung mit einer verstärkt praktisch ausgerichten Dimension ergänzen sollten. Das bedeutete ins konkrete, gegenwär­tige Sprachleben einzusteigen und dessen politische bzw. soziale Ausprägung in den Vordergrund zu rücken.

Für die Soziolinguistik galt es zu ergründen, welche Formen von Sprach­handeln für welche sozialen Gruppen einer Sprachge­mein­schaft typisch sind.



Es wurde zur vordergründigen Aufgabe der Soziolinguistik die Beziehungen zwischen der Sprache und der gesellschaftlichen Gruppenzugehörigkeit von Sprechern/Hörern, man sagt auch: zwi­­schen Sprachstruktur und Sozialstruktur zu untersuchen. Damit hat sie die Möglichkeiten einer interdisziplinären For­schung­s­richtung, aber auch die Probleme, denn Soziologie und Linguistik haben sich voneinander unabhängig entwickelt.



Die in den folgenden Unterkapiteln vorgestellten Differenzierungen sind bereits in 2.3.4. unter dem Oberbegriff der sprachlichen Sub­systeme kurz erwähnt worden. Sie sollen nun ausführlicher be­han­delt werden.



Soziale Gruppenzugehörigkeiten - und dementsprechend auch die Bereiche der Soziolinguistik - sind vielfäItig. Einige mögliche Kriterien für die Differenzierung der sprachlichen Varietät und die entspre­chen­den Bezeichnungen für die sprachlichen Ausformungen wären:

Region - Dialekt (Mundart)

soziale Schicht - Schichtensprache (Kode)

Beruf - Fachsprache (Berufssprache)

Subkultur, Randgruppe - Sondersprache

politische, religiöse Gruppe - ideologische Sprache

Geschlecht - Frauen-, Männersprache

Alter - Jugend-, Generationensprache



2.2. Der Begriff der sprachlichen ‘Varietät’



Der Begriff der ‘Varietät’ bezieht sich auf die Tatsache, dass inner­halb dessen, was wir als ‘das Deutsche’ betrachten, verschiedene Sprach(gebrauchs)formen unterschieden werden können, die sich jeweils als Summe spezifischer sprachlicher Charakteristika be­schrei­ben lassen.

Diese Charakteristika können auf allen sprachlichen Ebenen ange­siedelt sein:

· es können phonologisch-phonetische Eigenschaften sein; oder

· Besonderheiten in der rwendung des Wortschatzes bzw.

· spezifische Formen der sprachlichen Handlung im Kommuni­kationsprozess,

aber auch morphologische und syntaktische Aspekte können Unter­schiede erkennen lassen.

Dabei ist bei der Unterscheidung verschiedener Varietäten nicht ausschlaggebend, ob das eine oder andere Merkmal grundsätzlich vorhanden ist oder nicht, vielmehr die Regelhaftigkeit mit der das betreffende sprachliche Merkmal verzeichnet werden kann, bzw. die Frequenz.



Aus soziolinguistischer Sicht muss jedoch das Set der unter-scheidenden Merkmale in direkte rbindung mit einer Gruppe von Spre­chern gebracht werden, die durch außersprachliche Faktoren definierbar sind.

Schwierig erweisen sich im Zusammenhang mit dem Begriff der Varietät die Definitions- und Abgrenzungsprobleme. So ist es problematisch die Definitions-Größe einer Varietät zu bestimmen, denn es muss geklärt werden, unter welchen linguistischen Bedingungen eine neue Varietät angesetzt werden kann (genügt die Unterscheidung durch ein linguistisches Merkmal oder müssen es mehrere sein, und wenn wie viele? Sind phonologisch-phonetische Unterscheidungen relevanter als solche des Lexikons oder des Satzbaus? Müssen alle Ebenen berücksicht werden oder genügt nur eine? Wie groß muss die Gruppe der Sprecher sein? usw.)





2.3. Andere Bezeichnungen für die sprachliche Varietät



2.3.1 Schichtenspezifisches Sprachverhalten: Soziolekt



Dieser Begriif wird oft synoym zu ‘Varietät’ verwendet. Auch für Soziolekt gibt es verschiedene Definitionen, je nachdem wie weit eine vertikale Schichtung und damit eine wertende Einstellung zum Soziolekt zum Hauptkriterium gemacht wird. Mit Soziolekt ist jede gruppenspezifische Sprachvarietät (Variante, Subsystem, eben Gruppensprache) gemeint.



Die soziale Schichtung bzw.die Klassenzugehörigkeit als außer-sprachliche Faktoren prägen den Soziolekt.

Soziolekte betreffen natürlich immer nur einen Ausschnitt, einen kleineren Teil der Struktur der Gesamtsprache. Das Auftreten von Soziolekten reicht bis in soziale Kleingruppen wie Familie und peer group.

Manche Erscheinungen wie Jargon und Slang sind schwer einzuordnen. Und da das Problem der Sprachnorm bislang nicht restlos geklärt ist, bieten auch solche Begriffe wie Gemein-, Standard- und Umgangssprache definitorische Schwierigkeiten.

Klarer als die theoretischen lassen sich die allen Soziolekten ge­mein­samen praktischen Probleme fassen: Sie stellen Kom­munika­tionsbarrieren dar und verstärken wertende Einstellungen zu anderen sozialen Gruppen. Zu helfen, diese abzubauen, sollte letz­t­endlich das Ziel jeder soziolinguistischen Arbeit sein.



Im Zentrum der Soziolinguistik stand lange Zeit die Untersuchung der Sprache sozialer Schichten: und im Zentrum dieses Teilbereichs stehen die Namen Bernstein und Labov.





2.3.1.1. Die Defizit-Hypothese



Der englische Pädagoge B. Bernstein unterrichtete in den 50er Jahren Jugendliche (Berufsschüler) und versuchte, den nicht zu übersehenden geringeren Schulerfolg von Arbeiterkindern zu erklären. Seine Arbeiten dazu wurden in den 60er Jahren weltweit bekannt, in der Bundesrepublik vor allem über den Soziologen U. Oevermann.

Erfolg in der Schule wird zum größten Teil gleichgesetzt mit kognitiven (intellektuellen) Fähigkeiten. Diese wiederum werden anhand von sprachlichen Leistungen beurteilt. Da Arbeiterkinder weder allgemein noch sprachlich weniger begabt sind als andere, mussten ihre geringeren Leistungen - so folgerte Bernstein - auf die Art ihrer Sozialisation zurückgeführt werden, und zwar besonders der sprachlichen.

In der Tat konnte Bernstein den Angehörigen der “Unterschicht” und der “Mittelschicht” (working class und middle class) zwei spezifische Sprachformen zuordnen, die er restringierter Kode und elaborierter Kode nannte. Die Hauptunterschiede der beiden Sprach-Kodes sah er in folgenden Merkmalen:





Restringierter Kode Elaborierter Kode

kürzere und oft unvollständige - längere und meist vollstän-

Sätze dige Sätze

häuer Parataxe - häuer Hypotaxe

einfache Sätze und wenige - mehr logische Modifikationen

einfache Konjunktionen durch komplexe Syntax und

(und Präpositionen) vielfältige Konj. (und Präp.)

geringerer Wortschatz - größerer Wortschatz

starre und begrenzte Auswahl - differenzierte Auswahl von

von Adjektiven und Adverbien Adjektiven und Adverbien

weniger rwendung von “ich” - mehr rwendung von “ich”

und unpersönlichen Aus- und unpersönlichen Aus-

drücken wie “man”, “es” drücken wie “man”, “es”

viele Sprachklischees - weniger Sprachklischees

mehr konkrete Beschreibung - mehr Abstraktion

mehr Implizitheit - mehr Explizitheit

mehr Expression (Emotionalität) - weniger Expression

weniger Sprechpausen und Er- - mehr Sprechpausen und Er-

klärungen für den Hörer klärungen für den Hörer

häu kurze Befehle und Fragen - mehr Rücksichtnahme

viele Rückversicherungsfloskeln - weniger Rückversicherungs-

(nicht?, ne?, nicht wahr?) floskeln

mehr Kollektivmeinungen, z.B. oft - mehr individuelle – auch

Feststellungen als Begründungen konträre – Meinungen

oder rhetorische Fragen, die zir- und Unabhängigkeit von

kulär (reihum) bestätigt werden einer Gruppensolidarität

(zur Sympathieversicherung)



Diese Merkmale, d.h. die Unterscheidungskriterien für die beiden Kodes, liegen auf ganz verschiedenen Ebenen, zielen aber schon deutlich auf die Erklärung höherer kognitiver Fähigkeiten bei Sprechern des elaborierten Kodes ab.

Den Kodes entsprechen Unterschiede in der Sozialisation und im Sozialverhalten in den beiden Schichten. Erziehung und Anregungen sind in der Mittelschicht meist viel mehr verbal, erklärend und indivi­duell und auf formale Bildungswerte hin ausgerichtet. Überhaupt ist dort der gesamte Erziehungsstil deutlich mehr von Respekt, Gelten­lassen, aber auch von strengeren Leistungsanforderungen bestimmt.

M.a.W.: Wo einem Unterschichtskind ein rbot allenfalls durch Außerungen wie: weil du das nicht sollst oder weil ich es dir verbiete begründet wird, werden einem Mittelschichtkind Zusammenhänge erklärt und wenn möglich nachvollziehbare Begründungen angeboten im Sinn von: weil ich Kopfschmerzen habe und Lärm dann besonders schlimm für mich ist oder weil das die Lieblingsvase von Tante Anna ist und sie traurig wäre, wenn sie kaputt geht usw.



Der restringierte Kode ergibt sich im Wesentlichen als Teilmenge des elaborierten, d.h. er hat Defizite, Mängel, gegenüber dem anderen. Dies hat der Hypothese Bernsteins den Namen “Defizit-Hypothese” eingetragen und in vielen westlichen Ländern zu der bildungspolitischen Konsequenz geführt, eine kompensatorische Spra­cherziehung einzuführen, d.h. eine, die diese Defizite aus­gleichen sollte, besonders in der Form von Vorschulprogrammen und Förderunterricht. Damit war aber gleichzeitig der elaborierte Kode wie selbstverständlich zum Maßs gesetzt - parallel zum höheren Prestige der Mittelschicht.

Bernsteins Hypothese hat eine lange und leidenschaftliche Kontroverse angefacht. Die unterschiedlichen Sprach- und Soziali­sationsformen können zwar nicht geleugnet werden, aber nahezu alle anderen Implikationen sind umstritten:

· Die von Whorf übernommene These, die Sprache determiniere das Denken, ist nicht haltbar.

· Die linguistischen Kriterien sind pauschal und einseitig interpretiert (z.B. expressives Sprechen als Indiz für weniger klares Denken?).

· Die Schichtenmodelle sind empirisch-soziologisch nicht exakt und stoßen oft auf Ablehnung, da ihnen keine tiefschürfenden sozio-ökonomischen Analysen zugrunde liegen.

· Die Hauptkritik entzündete sich aber an der am Mit­tel­schi­ch­tenmaßs ausgerichteten Wertung und damit auch an der zur Anpassung führenden kompensatorischen Erziehung.





2.3.1.2.Die Differenz-Hypothese



Diese Hypothese wertet die Sprache der Unterschicht nicht als unterlegen, sondern bezeichnet sie nur als anders, verschieden. Sie stützt sich besonders auf die Arbeiten des Amerikaners W. Labov, rtreter in der Bundesrepublik sind W. Klein, D. Wunderlich, H. Bühler u.a.

Hauptpunkte ihrer Kritik an der Defizithypothese sind:

· Die Defizithypothese reproduziert soziale Vorurteile.

· Datenerhebung und Tests sind schon auf den elaborierten Kode zugeschnitten und benachteiligen Unterschichtenkinder.

· Die Satzkomplexität kann nicht mit Hilfe der traditionellen Syn­tax­begriffe, sondern muss vor dem Hintergrund einer wis­sen­schaftlichen Grammatik verglichen werden.

· Die syntaktische Komplexität von Oberflächenstrukturen kann nicht zur Erklärung kognitiver Fähigkeiten dienen.

· Die situative Variation des Sprachgebrauchs wird nicht ge-nügend berücksichtigt. Die Kodes sind nicht in jeder Situation gleich angemessen.

· Die Quantität sprachlicher Außerungen sagt nichts über den Inhalt (die Informationsmenge).



Die rtreter dieser Hypothese arbeiten empirisch, ohne eine ausgearbeitete Gegentheorie. Sie sind methodisch an der amerika­ni­schen Ethnolinguistik geschult und gehen von einem breiten Spek­trum von Sprachvarietäten aus (sowohl soziolektal wie idiolektal-situativ). Die Grammatik dient dabei nicht als bewertende Norm, sondern als neutrales rgleichsinstrument. Problematisch bleibt, welche wissenschaftliche Grammatik dazu am besten geeignet ist.

Die Kodes seien also formal verschieden, funktional aber gleich­wer­tig. “Funktional bedeutet dabei: in ihrer kommunikativen Leistung, in der situationsspezifischen Informationsübermittlung.



Die Differenzhypothese führte auch zu neuen pädagogischen Konsequenzen, nämlich zur Forderung eines emanzipatorischen Spra­­chunterrichts. Dieser soll von der funktionalen Gleichwertigkeit verschiedener Schichtensprachen ausgehen, zur gegenseitigen Toleranz und zum rständnis der sozialen Gruppen und damit besonders zur Emanzipation der bisher Unterprivilegierten beitragen sowie zu einem situationsadäquaten Sprachgebrauch erziehen.

Auch die Differenzhypothese muss sich Kritik gefallen lassen. Zweifellos ist sie empirisch besser fundiert und um den Abbau sozialer Vorurteile bemüht. Zu überprüfen ist aber zum einen, ob sich Beobachtungen an ethnischen Gruppen (wie in den USA) direkt auf soziale Schichten übertragen lassen. Zum anderen genügen die progressiven emanzipatorischen Einstellungen von Personen im akademischen Bereich (die zudem den elaborierten Kode perfekt beherrschen und ausschließlich verwenden) natürlich noch nicht. Große Teile der Bevölkerung halten - und zwar in allen Schichten - an den sozialen Vorurteilen fest, schauen zur “Sprache der Wohlhabenden und Gebildeten” auf und lassen sich von ihr blenden und manipulieren. Solange diese Sprache nicht allen zugänglich gemacht wird, wird auch ein emanzipatorischer Unterricht die “sprachliche rarmung” der unteren Schichten, die auch eine krasse Einengung geistigkultureller Zugangsbereiche bedeutet, nur verharmlosen.





2.3.2 Register, Stil, Repertoire und Idiolekt



Der Begriff Register, der aus der englischsprachigen Soziolinguistik stammt, ist nicht ganz leicht vom Begriff Stil abzugrenzen, rückt aber etwas andere Aspekte der Variation im Sprachgebrauch im Vorder­grund.

Mit Register sind in erster Linie die durch eine bestimmte Kom­munikationssituation vorgegebenen und damit auch erwartbaren Formen des Sprachhandelns angesprochen. Wir können also sagen, dass eine bestimmte Person je nach Situation (also Ort, Zeit, Um­stände, Kommunikationspartner usw.) ein anderes Sprach­re­gister aktualisiert. Auch ränderungen innerhalb einer gegebenen Situation (also z.B. das Dazukommen einer statushöheren Person) können bei den beteiligten Kommunikationspartnern die Wahl eines anderen Registers auslösen, so dass z.B. anstatt Los raus jetzt, trödelt nicht so lange! eher eine Außerung wie Wir sollten uns etwas beeilen! gewählt wird.



Der Stil bezieht sich auf die individuellen Variationsmöglich­keiten bei der Durchführung einer sprachlichen Handlung. Sprechern stehen auch innerhalb einer bestimmten Varietät grundsätzlich ver­schie­dene Möglichkeiten zur rfügung, unter denen sie bei der Durchführung einer sprachlichen Handlung auswählen können. Die Auswahl kann mehr oder weniger unbewusst erfolgen (sie orientiert sich an bestimmte Normen und Konventionen), kann aber auch sehr bewusst sein und in diesem Fall z.B. auch Konventionen durch­brechen. In diesem Sinne ist der Begriff Stil viel stärker intentional orientiert und verweist auf akzidentelle Charakteristika der Sprach­verwendung.

Z.B. ist es eine Frage des Stils, ob jemand bei einer Familienfeier eine feierlich-ernste oder aber eine launig-fröhliche Rede hält.



Die Abgrenzung von Varietät, Register und Stil wird von Dell Hymes folgendermaßen gemacht: ”Größere Sprechstile, die an soziale Gruppen gebunden sind, können Varietäten genannt werden und solche, die an rekurrente Situationstypen gebunden sind, Register; Sprechstile, die an Personen, spezielle Situationen oder Genres gebunden sind, können einfach personale, situative und Genrestile genannt werden.”(Hymes, 1979: 177)



Mit dem Begriff des Repertoire im engeren Sinne ist im Normalfall die Summe der Varietäten, Soziolekte, Dialekte, Stile Register usw. angesprochen, die einer einzelnen Person innerhalb einer Sprach­gemeinschaft zur rfügung stehen. Repertoire akzentuiert also die Vor­stellung einer durch regionale, soziale und situative Faktoren be­grün­deten “Mehrsprachigkeit” der einzelnen Sprecher. Jeder von uns beherrscht somit ‘mehrere Sprachen’, die er situationsangemessen einsetzen kann. Auch der Terminus kommunikative Kompetenz gehört in diesen Zusammenhang. Damit ist häu (auch) die souveräne Beherrschung eines möglichst großen Spektrums des für eine bestimmte Sprachgemeinschaft gegebenen Repertoires ange­sprochen.

Ein beschränktes Repertoire sprachlicher Varietäten kann als sprachliches Defizit gewertet werden und auf mangelnde Bildung zurückgeführt werden.



Unter Idiolekt versteht man im Normalfall den gesamten – zu einem bestimmten Zeitpunkt gegebenen – Sprachbesitz eines Individuums sowie die damit verbundenen typischen sprachlichen Auße­rungsweisen der betreffenden Person. Im engeren Sinne bezieht sich Idiolekt spezifisch auf die Summe derjenigen sprachlichen Be­son­derheiten, anhand derer sich Sprecher derselben Sprachge­meinschaft unterscheiden lassen.

Alle in einer Sprachgemeinschaft vorkommenden Idiolekte bilden als Summe das Repertoire der betreffenden Sprachgemeinschaft.





2.3.3. Regionale Schichtung der Sprache



Der Begriff des Dialektes ist mit dem außersprachlichen Faktor des Sprachraumes verbunden. In diesem Sinne lässt er sich auch in Bezug auf die Nachbarbegriffe Umgangssprache und Standard­sprache definieren.

Die Standardsprache zeichnet sich durch Überregionalität aus, wogegen Umgangssprachen eine mehr oder weniger weit reichende, grundsätzlich jedoch regional begrenzte Ausdehnung haben. Als Dialekte werden die Sprachformen bezeichnet, die eine relativ geringe regionale Ausdehnung besitzen und im Extremfall als Ortsmundarten beschreibbar sind.



Somit nehmen die Dialekte soziolinguistisch gesehen eine Sonder­stellung ein, da sie in zusammenhängenden Regionen gesprochen werden. Sie haben Gemeinsamkeiten untereinander und mit der sie überdachenden Einheits- oder Gemeinsprache, aber sie zeigen auch erhebliche Unterschiede. Das trennt sie einerseits von Fremdsprachen und andererseits von bloßen Regionalismen, doch sind die begrifflichen Grenzen - besonders historisch gesehen - unscharf.
In der Bundesrepublik sprechen, gemäß einer Umfrage von 1966, etwa 50 bis 80 % der Bevölkerung einer Region Dialekt, von Norden nach Süden zunehmend. Dabei spielen Lebensraum, Ausbildung und Beruf, Geschlecht und Alter eine Rolle. Gemäß der Weite des Kommunikationsradius und dem Einfluss der Massenmedien wird Dialekt weniger gesprochen: in der Stadt, von leitenden Personen mit höherer Bildung, von Männern, und von der jüngeren Generation. Allerdings hängt der Gebrauch des Dialekts auch sehr von der Situation ab.



Seit den 70er Jahren gibt es eine Tendenz gegen die rdrängung und Diskriminierung des Dialektsprechens. Doch kann von einer Dialektrenaissance” keine Rede sein, sondern besteht nach wie vor für Dialektsprecher das Problem geringerer Chancen für den beruflichen Aufstieg.









2.3.4. Funktionale Schichtung von Sprache: Fachsprachen



Als Fachsprachen gelten vor allem technische und wissenschaft­liche Berufssprachen, daneben auch die der rwaltung, des Sports und anderer Bereiche.

Sie sind funktionelle Sprachen, dienen einer schnellen, ökonomi­schen und eindeutigen Kommunikation und tragen deshalb Merk­male wie explizit, formalisiert und standardisiert.

Sie können horizontal nach Fächern gegliedert werden, z.B.





Sprache des Sprache der Sprache der

Automobilbaus EDV Medizin





und vertikal nach Anwendungssituationen geschichtet werden:




Theorie- oder Wissenschaftssprache


fachliche Umgangssprache


Werkstatt- oder rteilersprache




Die wichtigsten sprachlichen Kennzeichen sind:

lexikalisch: der eigene Wortschatz, d.h. eine strenge Terminologie, rwendung von Fremd- und Kunstwörtern, komplexe Wortbil­dungen, auch vermenschlichende Metaphorik und scherzhafte Aus­drücke,

syntaktisch: wenige Satzmuster, Substantivierung, Funktionsver­ben, viel Passivverwendung, präpositionale Fügungen,

textuell: Bemühung um explizite Kohärenz und logische Gliede­rung, Staffelung, Systematisierung, Tabellen.



Fachsprachen werden oft als unschön oder gar monströs kritisiert. Dabei muss jedoch berücksichtigt werden, dass sie zweckorientiert sind, d.h. dass ihre Funktion vor ästhetischen Maßstäben steht. Berechtigt aber ist eine Kritik an zweckentfremdeter manipu­li­e­ren­der rwendung fachsprachlicher Signale in nichtfachlicher Kom­mu­nikation.









2.3. Sprachliche Varietät der Minderheiten. Sondersprachen



Als Sondersprachen wurden früher sämtliche gruppenspezifische Sprachen bezeichnet. Später wurden dann die Schichten- und Fachsprachen ausgegliedert und das Charakteristikum der Sondersprachen in der verhüllenden Funktion der Sprachform von Minderheiten gesehen, die von der Gesellschaft geächtet (diskriminiert) wurden und/oder sich selbst absonderten (Suche nach Gruppenidentität). Das reicht hin bis zu Geheimsprachen.

Typische - z.Telefon: historische - Sondersprachen sind:

· das Rotwelsch (Gaunersprache krimineller Subkulturen, früher z.Telefon: getarnt als Krämersprache” und vom Jiddischen und Zigeu­ne­rischen beeinflusst; wiederum mit Einfluss auf die Gossen­sprache und Studentensprache und natürlich auf die Sprache der Gefängnisinsassen)

· Berufsjargons (z.B. bei Künstlern, Hochschullehrern, Journali­sten, Prostituierten, Soldaten - nicht gleich Fachsprachen!)

· die Sprache sexueller Minderheiten

· die Sprache neuer politischer Gruppierungen und religiöser Sek­ten (nicht gleich allgemeiner ideologischer Sprache!)

· die Sprache jugendlicher Antigruppen (nicht gleich Jugend­sprache!)

· die Sprache der Drogenszene



Sprachliche Kennzeichen sind u.a.:

- Laut- und Silbenkombinatorik und -spielerei (vgl. z.B. die ududefu-Sprache bei Kindern und Ahnliches);

- besonders bevorzugte Flexions- und Wortbildungsmuster;

- auch hier ein Sonderwortschatz (überhöhte Wörter, Metaphern, Wort­spiele, Vulgarismen, Spitznamen);

- eine besondere Körpersprache.





2.3.6 Ideologische Sprache



Als ideologische Sprache soll die Sprache der herrschenden oder um die Herrschaft ringenden politischen (und religiösen) Gruppen gelten. Sozial-historisch lässt sich ihre Abhängigkeit von den jewei­ligen politisch-ökonomischen rhältnissen nachweisen, z.B. in den po­li­tischen Begriffssystemen und Wertungen.

Dabei spielt natürlich der ideologische Standort des Betrachters selbst eine wesentliche Rolle, z.B. ob man die bürgerlichen Begriffe Gleichheit und Freiheit mit den feudalistischen Begriffen Gottes­gna­dentum, Stand Treue usw. kontrastiert oder sie aus sozialistischer Sicht als Scheinbegriffe der kapitalistischen Gesellschaft bezeich­net und ihnen Begriffe wie reale soziale Gleichheit und reale Freiheit gegenüberstellt.

Besonders deutlich wird ideologische Sprache in den Programmen und Reden politischer Bewegungen. Am eingehendsten untersucht ist im deutschen Sprachbereich zweifellos die Sprache des National­so­zialismus.





2.3.7. Altersspezifische Schichtung der Sprache. Jugendsprache



Der Einfluss des Alters von Sprechern auf ihr jeweiliges Sprach-verhalten ist bisher v.a. im Rahmen der Arbeiten zur sogenannten Jugendsprache, die auch manchmal zu den Sondersprachen ge­rechnet wird, untersucht worden. Sie wird bewusst im Kontrast zur Sprache der älteren Generation(en) verwendet, geht vom Slang der Großstädte aus und ist gekennzeichnet durch eine “coole” Haltung, viele sondersprachliche Formen wie Metaphern und Wortspiele, an­de­rerseits aber auch durch eine kindlich-jugendliche Hyperbolik (Über­treibungen).



Soziolinguistische Untersuchungen (Henne 1986) bestätigen die Existenz solcher Sprachformen, wobei allerdings verschiedene Jugendvarietäten anzusetzen sind, die ihrerseits wieder von der Schich­tenzugehörigkeit, von spezifischen Freizeitinteressen, Zuge­hö­rigkeit zu speziellen, religiös oder politisch gefärbten Gruppie­rungen usw. abhängen.

Es hat sich gezeigt, dass spezifische sprachliche rhaltensweisen für Jugendliche eine stark identitätsstiftende Funktion haben, so­wohl in (negativer) Abgrenzung gegenüber der Eltern- und Erwach­se­nengeneration als auch positiv und konstitutiv im Sinne einer sprach­lichen Imagebildung.



Bedingt durch die Entwicklung der Großstädte im Industriezeitalter und die Demokratisierung der Gesellschaft, ist die Jugendsprache eine typische Erscheinung des 20. Jahrhunderts, wobei sich die Gruppen der sich zusammengehörig Fühlenden immer schneller ablösen, so dass dabei wohl kaum noch von Generationen gespro­chen werden kann.



Einige Ausdrücke der Jugendsprache werden von den Medien, besonders im Zusammenhang mit Sachbereichen wie Musik, Mode, Freizeitgestaltung aufgegriffen und gehen mit der Zeit in die Stan­dardsprache ein.





2.3.8. Geschlechtsspezifisches Sprachverhalten.



Frauenprache - Männersprache

Die Beschäftigung mit dem unterschiedlichen Sprachverhalten der beiden großen sozialen Gruppen “Frauen” und “Männer” und mit der Dis­kri­minierung der Frau im Sprachsystem selbst (in der Männer­sprache) ist nicht innerhalb der Linguistik, sondern von der neuen Frauenbewegung der letzten zwanzig Jahre initiiert und in die Lingui­stik hineingetragen worden; denn eine Kritik an patriarchalischen Gesellschaftsstrukturen musste natürlich auch die Institution Spra­che miteinbeziehen.

Die Erkenntnis, dass der Faktor ‘Geschlecht’ in Bezug auf unser Sprachverhalten nicht nur als biologischer, sondern in erster Linie als sozialer Parameter interpretiert werden muss, ist zur Ausgangbasis eines neueren soziolinguistischen Forschungsbereichs geworden, dessen Ergebnisse auch in der öffentlichen Diskussion um die gesellschaftliche Gleichstellung von Mann und Frau eine Rolle spielt.



Die Benachteiligung von Frauen in den meisten sozialen Bereichen steht außer Zweifel und spiegelt sich auch in der Sprache. Sie ist aber schwer zu erfassen, weil das Sprachverhalten durch die Sozia­lisation tief verinnerlicht ist und erst bewusst gemacht werden muss. Außerdem stehen der Aufklärung und Anderung dieser rhältnisse durchaus handfeste männliche Machtinteressen entgegen.

Es geht also darum, die Privilegiertheit der Männer und damit auch den Sexismus in der Sprache aufzudecken, d.h. zunächst über­haupt eine Sensibilisierung dafür und später eine Emanzipation davon in Richtung auf eine weibliche Sprache zu erreichen.

Als Beispiel für den Erfolg solcher Bemühungen sei hier die Abschaf­fung der diskriminierenden Unterscheidung Frau/ Fräulein genannt. Der einheitlichen Anredeform Herr Name entspricht jetzt Frau Na­me, und zwar auch von amtlicher Seite empfohlen und prakti­ziert.



In der Forschung lag der Schwerpunkt in den USA, Großbritannien und in deren Folge auch in der BRD im soziologisch-ethnolinguistischen Bereich, während die französischen Poststruk­tu­ralistinnen psychologisch-psychoanalytisch orientiert sind.



Man muss bei dem ganzen Komplex vor allem zwei Aspekte unter­scheiden: einmal das unterschiedliche Sprachverhalten (und die sprachlichen Fähigkeiten) der Geschlechter und zum anderen die Widerspiegelung von Männerherrschaft und Frauendiskriminierung in der männlich geprägten Sprache selbst.

Im Folgenden wird eine Reihe von anthropologischen, pädagogi­schen und linguistischen Forschungsergebnissen bzw. Erfahrun­gen zur Diskussion vorgestellt (vor allem nach H. Schramm, 1981):



Zu den sprachlichen Fähigkeiten/Begabungen von Mädchen

1) Mädchen sind mehr rezeptiv und imitativ veranlagt;

2) bei Mädchen liegen Beginn und Ende des Großhirnwachstums früher;

3) Mädchen lernen früher sprechen und schneller lesen als Jungen, aber ihre sprachliche Überlegenheit besteht nicht im Alter von 3 bis 11;

4) bei Mädchen sind emotionelle Funktionen feiner abgestuft und lo­gi­sche Funktionen geringer entwickelt;

5) Mädchen schreiben schöner und orthographisch korrekter;

6) Mädchen sprechen und schreiben grammatikalisch korrekter;

7) Mädchen sprechen höflicher und normgerecher (weniger Dia­lekt);

8) Mädchen erzielen bessere Ergebnisse bei Aufgaben, die den Wortschatz und die Wortflüssigkeit prüfen sollen (Jungen bei Aufgaben, die die Fähigkeit, mit Zahlen umzugehen, und das räumliche Vorstellungsvermögen prüfen sollen);

9) Aufsätze von Mädchen sind länger, einfacher, kleben enger am Material, sind weniger gegenstandsorientiert, zeigen gebräuch­lichere Wörter, persönlichere Wortwahl, reicheren Gefühlswort­schatz und eher verbalen Stil;

10) Mädchen erzielen bessere Schulleistungen und sind diszipli­nierter;

11) Mädchen sind weniger selbstbewusst und schätzen ihre Bega­bung niedriger ein.



Zum Mütter- und Lehrerverhalten

12) Mütter sprechen mehr mit ihren Töchtern (in deren ersten Le­bens­jahren);

13) Fordernde und aufdringlich helfende Mutter fördern hohe verbale Fähigkeiten - viel Freiheit gewährende Mütter hohe nichtverbale Fä­higkeiten der Kinder;

14) Lehrer überschätzen regelmäßig die IQs der Mädchen und ha­ben höhere Erwartungen in Bezug auf deren Lesefähigkeiten;

15) Lehrer begutachten Mädchen günstiger und differenzierter und zensieren sie besser, widmen aber den Jungen mehr Aufmerk­sam­keit.



Zum Gesprächs- und Sprechverhalten von Frauen

16) Studienanfängerinnen schweigen mehr, verstummen häuer;

17) Frauen reden in Gesprächen mit Männern weniger als die Män-ner;

18) Frauen signalisieren seltener Anfang und Ende eines Ge-sprächs;

19) Frauen machen weniger urteilende, analytische Außerungen;

20) Frauen vertreten mehr einen persönlichen als einen allgemei­nen Standpunkt;

21) Frauen machen mehr unterstützende, ermutigende Bemerkun­gen, zeigen mehr Zustimmung und mehr Unentschiedenheit, oft in Form von Fragen;

22) Frauen neigen im Gespräch mehr zur Abschwächung der Aussa­gen, zur Einschränkung ihrer Gültigkeit, zu Indirektheit und Infra­ge­stellen, Zustimmungheischen, Selbswertung und Entschul­di­gung;

23) Frauen neigen zu Übertreibung, Wiederholung und Gefühls­ausdruck.



Zum non-verbalen Kommunikationsverhalten von Frauen

24) Frauen nehmen non-verbale Mitteilungen stärker wahr;

25) Frauen schauen ihre Gesprächspartner häuer an;

26) Frauen lächeln mehr und zeigen in ihrem Gesicht mehr Emotio­nen;

27) Frauen weichen Männern beim Aufeinanderzugehen eher aus;

28) Frauen intonieren variationsreicher als Männer;

29) Frauen tendieren zur Stimmhebung am Satzende, auch wenn es sich nicht um Fragen oder unvollständige Aussagen handelt.



Die Interpretation dieser recht heterogenen Ergebnisse ist natürlich nicht einfach und unproblematisch. Hier nur einige Hinweise zur Dis-kussion:

· Zunächst überrascht der Widerspruch zwischen dem bekannten Klischee Frauen/Mädchen sind sprachlich begabter/über­lege­ner” und der alltäglichen Beobachtung Frauen sind im Gespräch mit Männern weniger selbstbewusst. Wie kann dieser Wider­spruch erklärt werden?

· Wie kann die besondere sprachliche Begabung von Mädchen allgemein charakterisiert werden?

· Ist frühes Sprechenlernen ein Vorteil?

· Worauf deuten Fähigkeiten wie rezeptiv, imitativ, korrekt, schön­e Schrift?

· Welche Rolle spielt die Sozialisation für das Sprachverhalten?

· Warum begutachten Lehrer Mädchen günstiger?

· Worauf könnten Emotionalität, persönliche Sicht, Bescheiden-heit, Höflichkeit, Lächeln, Unentschiedenheit im weiblichen Sprachverhalten zurückzuführen sein?

· Gibt es Entsprechungen zwischen dem verbalen und dem non-verbalen Kommunikationsverhalten von Frauen?



Die Frauenbewegung und ebenso die Linguistik begnügen sich nicht mit solchen Forschungsresultaten. Sie suchen nach Mitteln, das Sprach­verhalten emanzipatorisch zu verändern und Sprachstruk­turen, wenn sie sexistisch geprägt sind, abzuschaffen. Dazu einige Beipiele für sogenannte “Patriarchalismen”:



1) Für Aussagen, die beide Geschlechter betreffen. wird meist - besonders im Plural - nur die maskuline Form benutzt, z.B.:



Die Uni Marburg hat ca. 20.000 Studenten.

Jeder Schüler bekommt ein Exemplar.

Die maskuline Form wird dabei zwar als geschlechtsneutral be-zeich­net, kann aber nur verwendet werden, wenn das Merkmal männ­lich oder männlich/weiblich, nicht aber wenn weiblich ge-meint ist,

z.B.:

Diese beiden Arbeiter nehmen ihren Schwangerschaftsurlaub.

Wichtig ist dabei, dass die maskuline Form immer das Merkmal männlich impliziert und suggeriert und das potentielle Merkmal weib-lich unterdrückt, vgl. die Leser, Passagiere, Kunden usw.

Viele Linguist/inn/en schlagen deshalb ein “splitting mittels Schräg­strichen oder Klammern vor, oder dass beide Geschlechter getrennt aufgeführt werden:



alle Professor/inn/en jede(r) Schüler(in)

der/die Professor/in jede Kundin und jeder Kunde



2) Das Gleiche betrifft die Pronomen er, man, jemand/ nie-mand, einer, jeder, die gesplittet werden können zu:

sie/er frau/man

eine/r - jede(r) evtl. auch: jefrau/mand



3) Von feministischer Seite werden die Bezeichnungen Mäd-chen, Fräulein, Dame als diskriminierend abgelehnt.



4) Die traditionelle Reihenfolge Mann und Frau plaziert die Frau zweitrangig und sollte zur Bewusstmachung umgekehrt wer-den.



Diese paar Beispiele können vielleicht geringfügig scheinen. Sie erfassen auch nur einen kleinen Teil männersprachlicher Prägungen. Ihre Anderung kann aber eine prinzipielle Signalwirkung haben und dazu beitragen, das Sprachverhalten der Geschlechter auch in an-deren Bereichen zu ändern, d.h. vor allem die häue Dominanz und Arroganz, die Emotionsarmut und angebliche Sachorientiertheit, die Aggressivität und Selbstgefälligkeit nicht jedes männlichen, aber des sexistischen Sprechens und rhaltens abzuschaffen.























3. Psycholinguistik



Es ist praktisch kaum möglich einen Bereich der Sprache fest-zumachen, der nicht gleichzeitig auch ein Gegenstand der Psycho­logie ist. Denn: Sprachen werden gelernt, Wörter können vergessen werden, Gedanken werden ausgedrückt und dann von anderen mehr oder weniger verstanden. Fast immer, wenn wir im Alltag über Spra­che sprechen, tun wir dies in Begriffen, die zugleich auf psychische Sachverhalte hinweisen.



Die Psycholinguistik als Wissenschaft an der Nahtstelle zwischen Linguistik und Psychologie befragt sprachliche Phänomene von psychologischer Seite her. Es gehört zu ihren Aufgaben zu erläu-tern, wie sich das Können der Menschen von Sprache psycho-logisch beschreiben lässt; herauszufinden, ob die bei der System­ana­lyse am Sprachmaterial entdeckten Unterscheidungen, Katego­rien usw. auch psychologisch wirksam sind und wie das geschieht.



Sprachpsychologische Untersuchungen gehen vor allem drei Fragen nach:

1) Wie wird Sprache vom Individuum erworben?

2) Welcher Zusammenhang besteht zwischen Sprache und Den-ken, zwischen verbalen und kognitiven Entwicklungsprozessen und Leistungen?

3) Welche psychischen Faktoren bestimmen Sprechakt und Sprach­­handeln entscheidend mit?



3.1. Spracherwerb



Die Spracherwerbsforschung versucht Antworten zu geben auf die Frage, wie Sprache erworben wird, nach welchen Gesetzmä­ßig-keiten der Aufbau des Sprachwissens erfolgt.

Spracherwerb ist ein komplexer Vorgang, an dem angeborene Strukturen, Reifung und stark umwelhängige Erfahrungen durch Lernprozesse integrativ beteiligt sind. Während die in den USA zu Be­ginn unseres Jahrhunderts entstandene traditionelle behavio­ristische (behavior = Betragen, rhalten) Psychologie Spracher­werb einseitig als Spracherlernen nach einem Reiz-Reaktionsmodell (stimulus-response, reinforcement = rstärkung des rhaltens durch Erfolgserlebnisse), als Erwerb von ‚habits‘ = rhaltensgwohnheiten ansieht und dabei nach positivistischer Me­thode nur „äußerlich“ registrierbare Vorgänge beschreibt, jede Aus­sage über Bewusstsein, Denken, Fühlen, Wollen als unwissen­schaftlich (subjektiver „Mentalismus“) ablehnt (Bloomfield, Skinner), betont der eher rationalistisch-idealistische Ansatz der ge-ne­rativen Grammatik (Chomsky) den Unterschied zwischen einem mechanischen input-output-System und dem komplexen Organis­mus Mensch, dessen rhalten von Interessen und Absichten be­stimmt wird, dessen erstaunlich rascher Erwerb eines komplizierten sprachlichen Regelsystems und umfangreichen Lexikons (4 bis 5 Jahre) nur bei Annahme einer ererbten Sprachfähigkeit zu ver-stehen ist („Innatismus“).



Biologische Theorien betonen den Reifungsprozess: Der Gang und die Geschwindigkeit der Sprachentfaltung gelten als abhängig von den genetisch verankerten kognitiven Schemata und sind durch sie streng vorgeschrieben.

Die Hauptaufgabe der Spracherwerbsforschung ist die Beschrei­bung und Erklärung der Bedingungen, Regelmäßigkeiten, Pha­sen und Resultate des Spracherwerbs. Von primärem Interesse ist hier natürlich der kindliche Erwerb der Muttersprache, obgleich in den letzten Jahren verstärkt auch immer mehr Phänomene des Bi­lingualismus, des Zweit- und Fremdsprachenerwerbs untersucht worden sind.



Die Sprachentwicklung verlauft vom Vorstadium der ersten vier Mo­na­te (Geburtsschrei, Schrei- und Gurrlaute) über die Lallphase (bis zum 10. Monat), die Bildung des ersten verständlichen Wortes (um den 10. Monat) und der „Einwortsätze“ (1. Hälfte des 2. Lebens­jahres), die Aneinanderreihung von Einwortsätzen zu „Worthaufen“ und die Bildung von Zweiwortsätzen (Pivot-Grammatik, 2. Hälfte des 2. Lebensjahres), über Ansätze zur Wortflexion und zur Bildung von Negation- und Fragesätzen (1. Hälfte des 3. Lebensjahres) zur Bildung komplexer Sätze (Hypotaxe) und Texte mit kontinuierlich weiter wachsendem Wortschatz (ab 2. Hälfte des 3. Lebensjahres).



Das rhältnis zwischen Denken und Sprache kann weder durch eine Identitätstheorie (Denken = lautloses Sprechen, Sprechen = lautes Denken) noch durch eine sprachinstrumentalistische Auf­fassung (Sprache = Werkzeug zur Übersetzung unanbhängiger Denkvorgänge) befriedigend geklärt werden. Tatsächlich handelt es sich beim Sprechen und Denken des Menschen um sich wech­selseitig bedingende Funktionen, die beim Kleinkind noch getrennt sind (sprachfreies Denken). rbale Symbolisierung (Etikettierung von Welterfahrungen) fördert die Wahrnehmung, befähigt zur diffe­renzierten Begriffsbildung und Argumentation (nach Syntaxregeln strukturierte Prädikationen). Symbole speichern Erfahrungen, welche in Beziehung zu neuen Situationen gesetzt und entweder bestätigt (Bewahrung) oder an sie angepasst (Umkehrung) werden. J. Piaget bestimmt Problemlöseverhalten als Wechsel von Assimilation (An­gleichung eines neuen Sachverhalts an einverleibte Erfahrungs­schemata) und Akkomodation (Anpassung der Erfahrungen an den sich einer Assimilation widersetzenden Sachverhalt). Mit Hilfe sprachlicher Symbole erinnert sich das denkende Kind an r­gan­genes, nimmt Gegenwärtiges wahr und stellt sich Zukünf­tiges vor (kombiniert Erfahrung und Sachverhalt zu etwas Neuem).

Nach Wygotsky differenziert sich kindliche Sprache allmählich in zwei Funktionen, eine kommunikative Sprache, die als rstän­digungs­mittel des Erwachsenen beibehalten wird, und eine egozen­trische, die als Übergangsstadium von ursprünglicher sozialer Spra­che zum intrapersonalen sprachlichen Denken anzusehen ist (das Kind versucht Probleme zu lösen, indem es für sich selbst laut redet; das Reden wir leiser, syntaktisch unvollständig und immer kürzer, bis es ganz verstummt, „untertaucht“).



Dass die rwendung von Sprache in einer bestimmten Redesi­tuation von zahlreichen psychischen Faktoren geprägt ist, wurde im Kapitel über Pragmalinguistik schon dargestellt. Ohne die Berück­sichtigung solcher Kategorien wie allgemeine Motivation, Absicht, Erwartung, Hemmungen (wie Schüchternheit, Angst, Abneigung, Neid, Zerstreutheit und rwirrung, begrenztes Gedächtnis, Aggressions- und Schutzverhalten usw. kann Sprachverhalten kaum angemessen beschrieben werden.

Interaktionsstrukturen, welche die Entfaltung des Individuums seinen Bedürfnissen und Fähigkeiten entsprechend vehindern – Gewaltsituationen, Leistungszwang, Liebesentzug, oder doublebind (sich widersprechende Normenkomplexe werden an ein unselb­ständiges Individuum herangetragen) – werden oft sprachlich vermittelt oder aber wirken gerade deshalb krank-machend, weil notwendige kommunikative Kontakte unterbleiben (Isolation). Pathologische r-än­derungen, die bis zur Exkommunizierung (Ausschluss aus der Ge­meinschaft miteinander Kommunizierender) des Individuums führen können, sind oft auch durch sprachlich vermitteltes Suchen nach verdrängten traumatischen Gehalten, durch verbales Noch-einmal-Durchleben und rarbeitung umkehrbar (Psychoanalyse, Ge-sprächs­therapie).



Die gründliche Besprechung der vielfältigen Aspekte im Zusammen-hang mit dem Spracherwerb kann hier nicht weiter geführt werden; sie gehört zu einer ausführlicheren Vorstellung der psycholingui­sti­schen Problematik.





3.2. Sprachwissen





Die Sprachwissensforschung beschäftigt sich mit der psychi­schen Repräsentation unserer Sprachkenntnisse. Die Frage ist:

Wie werden Wörter (Lexeme), über die linguistisch so vieles bekannt ist, psychisch repräsentiert, wie kommt der Zugriff auf die Wort­bedeutung zustande und wie ist diese selbst psychologisch zu beschreiben?



Die Erforschung des Lexikons ist nicht der einzige, wohl aber ein höchst wichtiger Bereich in der Untersuchung des Sprachwissens. Experimente haben herausgestellt, dass wir alle über ein mentales Lexikon verfügen, in dem die verschiedenen Begriffe miteinander zusammenhängen. Jeder Begriff ist aus – wahrscheinlich sehr vielen - Merkmalen aufgebaut. Diese Merkmale dienen auch der rknüpfung der Begriffe untereinander: Die Nennung eines Wortes aktiviert im Gedächtnis eine Vielzahl anderer Begriffe, die dieselben Merkmale aufweisen (siehe das Kapitel zur Semantik). Diese Akti-vierung ist umso stärker, je mehr relevante Merkmale die Begriffe gemeinsam haben. Merkmale fungieren in diesem Sinne als Knoten in einem viel-dimensionalen Netz, das die im Gedächtnis gespei­cherten Begriffe miteinander verbindet, sie sind rbindungglieder zwi­schen Gliedern.



Folgendes Beispiel soll dieses verdeutlichen:



Eine rsuchperson wird aufgefordert zu entscheiden, ob das je-weils zweite Wort eines präsentierten Wortpaares ein Wort der deutschen Sprache ist.



Die Entscheidungszeit für das Wort Lehrer beim Wortpaar Hase - Lehrer ist länger als beim Wortpaar Schüler- Lehrer. Man erklärt sich das so, dass Lehrer durch Schüler voraktiviert wird. D.h.: das Hören und rstehen des Wortes Schüler führt nicht nur dazu, dass der Begriff ‘Schüler’ ins Bewusstsein gehoben wird, aktiviert wird, son­dern dass auch andere Begriffe in Bereitschaft gerufen werden, die mit ‘Schüler’ in Zusammenhang stehen. Solche Voraktivie­rungseffekte lassen sich – wie in diesem Beispiel – besonders leicht bei funktional verknüpften Wörtern feststellen. Das Wort Schüler eröffnet einen Erwartungshorizont, in das Lehrer aufgrund des gemeinsamen Rahmens (frame) hineinpasst.





3.2.1.Charakteristika von Alltagbegriffen



Unter Alltagsbegriffe verstehen wir im Folgenden jene Begriffe, die von den meisten Menschen in ihrem täglichen Sprachgebrauch spontan benutzt werden, um Dinge zu benennen und zu klassifi­zieren.

Alltagsbegriffe und Systeme von Alltagsbegriffen sind tief verwurzelt in der kulturell und sozialgepräten Erfahrungswelt. Dieser rwur­zelung in der Praxis verdanken sie ihren Reichtum an Merkmalen und ihre dementsprechend schwankenden Eigenschaften, durch die sie sich von wissenschaftlichen Begriffen und Begriffssystemen unterscheiden. Auf drei dieser Eigenschaften sei kurz hingewiesen:

a) Logische Begriffshierarchien sind durch Transitivität klassen­spezifischer Merkmale gekennzeichnet. D.h. dass die Merk­male von Oberbegriffen gleicherweise allen Unterbegriffen zu­kom­men; alle Unterbegriffe weisen einen festen Bestand gemeinsamer Merkmale auf. Dieses rhältnis ist in na­türlichen Begriffshierarchien nur zum Teil gewahrt. So haben Vögel im Allgemeinverständnis Federn, Flügel, können flie­gen, singen usw. – was auf Pinguin oder Strauß nur teil­weise zutrifft. (Wir sagen dann, um diese Tilgung gewisser Merkmale klarzumachen: Pinguine sind Vögel, aber sie können nicht singen).

b) Natürliche Begriffsbildung zeichnet sich aus durch ihre Flexi­bilität. Diese erlaubt es, beliebige Eigenschaften von Objek­ten oder Objektklassen als die relevanten Eigenschaften zu bestimmen und auf ihrer Grundlage neue Kategorien zu for­men. So fällt es uns nicht schwer zum Oberbegriff Auto neue Klassen wie Solarauto oder Ökomobil zu bilden.

c) Ein besonders intensiv untersuchtes Merkmal alltäglicher Begriffe besteht in der Typikalität begrifflicher Zuordnungen. Objekte werden einem Begriff oder Unterbegriffe einem Oberbegriff in unterschiedlichem Maß zugeordnet. So ist für die meisten Deutschsprachigen ein Hund ein typischeres Tier als ein Wurm.



Der rgleich der Alltagsbegriffe ‘Hund’ und ‘Pferd’ wirft die Frage auf, wie die semantischen Merkmale bestimmt werden sollen, die ei­nen systematischen Stellenwert für die Ordnung des Begriffsfelds im Bereich der Tiere haben. Oder anders formuliert: Wie lässt sich das Typische an Hund in semantischen Merkmalen darstellen – wenn nicht als /HUND/? Oder müssen wir eine Beschreibung von Hunden geben? Aber abgesehen davon, dass wir dann ein Objekt, nicht eine sprachliche Bedeutung beschreiben: Welches soll das Urbild unserer Beschreibung werden – der Schäfer, der Collie oder der Pudel?



Die hier aufgeworfenen Fragen sind höchst interessant, weil hier in der wissenschaftlichen Beschreibung ganz offensichtlich Probleme kaum zu lösen sind, welche jedes Kind ohne jede Schwierigkeit praktisch löst: Wir sind als Sprachbenutzer ja unseres Urteils (fast voll­kommen) sicher, wenn wir ein bestimmtes Objekt als Hund oder Nicht-Hund klassifzieren. Es geht also nicht um die Frage, ob wir Begriffe und Objekte einander zuordnen können, sondern darum, welcher Art das Wissen ist, das uns dies zu tun erlaubt.





3.2.2. Prototypen und Primärbegriffe



Die Typikalität von Objekten und Begriffen ist Gegenstand einer ein­­fluss­reichen psycholinguistischen Theorie geworden, der Proto­ty­pentheorie. Danach stehen, vereinfacht gesagt, dem Zeichen­benutzer/Sprachträger relativ ganzheitliche, aus der Erfahrung stam­mende und z.Telefon: bildlich geprägte Repräsentationen zur rfügung, die prägnant das Typische einer Klasse ausdrücken (das, worin sich die Glieder der Klasse am meisten ähneln) und zugleich eine mö-glichst große Differenz zu dem aufweisen, was andere, neben­geordnete Klassen charakterisiert. Der Prototyp von Hund müsste sich demnach maximal von der prototypischen Katze, dem proto­typischen Wolf, Fuchs usw. abheben und gleichzeitig die zentralen Charakteristika der Hunde aufweisen. Dieser Protoyp wird sehr oft Züge eines bestimmten rtreters einer Klasse tragen – der protoypische Hund hätte demnach für viele Leute die Züge des Schäferhunds.



Schon aus dieser kurzen Beschreibung wird deutlich, dass die Theo­rie der Ahnlichkeit mit einem Urbild einen großen Einfluss auf das Ausmaß der Typikalität eines Objekts ausübt.

Phänomene der Typikalität können ausgehend von einer Merkmal­theorie erklärt werden.

So führte Hoffmann (1986) ein Experiment durch, bei dem er r­suchpersonen aufforderte, abgebildete Objekte zu benennen (nach der Frage: Was ist das?). Dabei erwies sich, dass verschiedene Ebenen der Begriffshierachien anzusetzen sind:



z.B. Pflanze-Baum-Eiche; Tier-Vogel-Meise.

Die rsuchpersonen bezeichneten die vorgestellten Objekte (Eiche, Meise) nicht mit der konkretesten Benennung (Eiche, Meise), son­dern wählten den Begriff ‘Baum’ bzw.’Vogel’. Die Zuordnung der Objekte zu diesen Begriffen, die sich als Grundbegriffe erweisen – Hoffmann spricht von Primärbegriffen – erfolgt aufgrund von Klassen von Begriffsmerkmalen. Diese können sensorische oder kategoriale Begriffsmerkmale sein.



Sensorische Merkmale beziehen sich auf wahrnehmbare, v.a. an­schau­liche Eigenschaften von Objekten, die unter einen Begriff ge­fasst werden. Solche Merkmale für den Begriff ‘Baum’ sind etwa /STAMM/, /KRONE/, /ASTE/, /BLATTER/ usw.

Kategoriale Merkmale geben nicht wahrnehmbare Eigenschaften an, sondern abstrakte Relationen. Begriffe sind vorwiegens durch fol­gende Merkmale kategorial charaktersiert worden:

- durch Nennung von Oberbegriff (“Ein Baum ist eine Pflanze”) oder Unterbegriff (Nennung eines Beispiels; “Baum – eine Eiche ist ein Baum”)

- durch Nennung von frames (Rahmen) (Wald – Eiche)

- selten durch Nennung von Nebenbegriffen (Eiche – Fichte)



Man könnte sagen: Durch sensorische Merkmale werden Begriffe bzw. die zu ihnen gehörigen Objekte gegenständlich beschrieben, durch kategoriale Merkmale werden sie klassifiziert, funktional bestimmt, es wird auf gleichrangige Begriffe hingewiesen, die zum selben Oberbegriff gehören, oder es werden Beispiele (Unter-begriffe) gegeben.

Es scheint nun, dass Primärbegriffe als die allgemeinsten kon­kreten Begriffe anzsehen sind, die einen besonderen Stellenwert im Begriffssystem natürlicher Sprachen einnehmen. Denn: die Oberbegriffe von Primärbegriffen sind nur noch kategorial bestimmt (etwa ‘Pflanze’ als Oberbegriff zu ‘Baum’), die Unterbegriffe von Pri­mär­begriffen sind dagegen alle weitgehend sensorisch bestimmt – sie umfassen aber mehr Merkmale, sie sind inhaltlich ‘reicher’ (Eiche ist ‘reicher’ als Baum). Damit sind sie auch spezialisierter.



Primärbegriffe sind kognitiv besonders sparsam, da sie relativ um­fangreiche Objektmengen aufgrund der relativ kleinsten Menge an­schaulicher Merkmale umfassen können. Sie sind ein effizientes Mit­tel der Objekbenennung und besetzen wichtige Positionen in Be­griffs­hierachien: sämtliche höhere Begriffe sind abstrakt, d.h. kate­go­rial bestimmt.



Auf das Phänomen der Typikalität übertragen, ermöglichen die Über­legungen zu den Primrbegriffen weitere rfeinerungen.

So unterscheiden wir sensorisch definierte typische rtreter einer Klasse (Was ist es, das wir wahrnehmen und Fischen zu Fischen macht?) Experimente haben gezeigt, dass rsuchspersonen problemlos Karpfen den Fischen zuordneten, jedoch bei den Aalen Zweifel haben. Wir sagen Karpfen ist ein sensorisch definierter typischer rtreter der Klasse Fische, Aale nicht, obwohl sie Fische sind.



Etwas anders liegt der Fall, wenn es um prototypische rtreter kategorial bestimmter Begriffe geht. Kartoffeln und Brot werden gleich schnell als Nahrung erkannt, der untypische Kürbis wird viel weniger schnell zugeordnet.

Typikalität ist in diesem Falle besonders stark durch die Rolle der verschiedenen Nahrungsmittel im Alltag bestimmt.



Die angeführten Beispiele lassen aus psycholinguistischer Per­spektive erkennen, wie komplex und vielschichtig Alltagsbegriffe aufgebaut sind, welche vielfaltigen Formen der rknüpfung unser Sprachwissen aufweist und wie kreativ wir dieses Wissen anwenden.





3.3. Sprachprozesse

Die Sprachverwendungsforschung, der dritte große Aufgaben­bereich der Psycholinguistik, interessiert sich dafür, wie die sprach­lichen Wissensbestände in die Sprachverwendung eingebracht werden. Sprachverwendung ist notwendig immer komplex – neben die sprachlichen treten dabei eine Vielzahl anderer Faktoren wie In­ten­tion, Situation, Ziele, psychischer Zustand usw. Mit dem Begriff der Sprachverwendung wird zudem ein denkbar weites Feld um­fasst: mündliche und schriftliche, rezeptive und produktive Sprach­verwendung unterscheidet sich in vielen, z.Telefon: relevanten Eigen­schaften.

Im Folgenden sollen nur einige Aspekte zum Textverstehen, vor allem dem Leseverstehen kurz aufgezeichnet werden. Dabei steht im Vordergrund die Frage, wie sich Lesende eine Vorstellung vonTextbedeutung aufbauen.



Es ist grundsätzlich so, dass rezeptiver Sprachgebrauch, wie das beim Lesen der Fall ist, nicht passiv ist. Es genügt nicht, dass man die Wörter wiedererkennt und Strukturen entschlüsselt. rstehen heißt: Erkennen dessen, was ein Autor mit Hilfe eines Textes mitteilt. Diesen Textsinn muss der rstehende selber erarbeiten. Ermöglicht wird dies durch die Integration der Textinformation mit dem Vor­wissen des Rezipienten.

rstehen ist ein komplexer Prozess, an dem zwei Hauptaspekte zu berücksichtigen sind:

· Der rstehensprozess besteht einerseits darin, dass die vorlie­genden Zeichenformen erkannt werden, dass ihnen Bedeu­tungen zugeordnet werden, dass der Platz der Zeichen in Satz­strukturen erkannt wird und demgemäß die Satzbedeutungen aufgebaut werden usw. Dieser Prozess geht von den Daten aus und führt zur Interpretation der Daten – es ist ein Prozess ‘von oben nach unten’, ein aufsteigender Prozess.

· Andererseits findet rstehen in bestimmten Situationen und unter bestimmten Vorerwartungen statt. Diese Vorerwartungen werden bereits durch die ersten sprachlichen Informationen bestätigt oder modifiziert. Den Fortgang der Lektüre begleitet dann ein fortwährender Auf- und Umbau eines Erwartungs­rahmens, der das rstehen mitprägt, und zwar nicht nur in Bezug auf die Deutung des Mitgeteilten. Die Erwartungshaltungen sind so stark, dass sie sogar die Begriffs­zuordnungen, sogar die Wortform- und Buchsenerkennung beeinflussen. Wer sich beim Lesen beobachtet, wird wahr­scheinlich hie und da Gelegenheit haben, sich bei Fehllesungen zu ertappen, die ihren Grund im Wirken solcher Erwartungs­haltungen haben. Zusätzlich zu den Prozessen von ‘unten nach oben’ sind demnach auch ständig solche ‘von oben nach unten’ im Gange, absteigende Prozesse, d.h. Einflüsse aus dem Be-reich der Interpetation auf diejenigen der Wort- bzw. Begriffs­erkennung und der Strukturerkennung bzw. – verabeitung.



Es ist wahscheinlich davon auszugehen, dass der Leseprozess kei-ne fixe Gestalt hat. Aktuelle Sprachgebrauchsprozesse werden durch Strategien der Sprachbenutzer mitgeformt. Auch der Lese­vorgang wird durch eine (bewusste oder unbewusste) Kontrolle mitgeformt. Dabei spielen situationelle Gegebenheiten eine Rolle, vor allem aber die Ziele der Lektüre. Wir lesen ganz anders, wenn wir die Vorbereitung einer Prüfung, zum rgnügen oder zum Sammeln bestimmter Informationen lesen.











































4. Die Historiolinguistik



4.1. Allgemeines



In der neueren Linguistik dominiert eindeutig die synchrone Betrach­tungsweise, die Untersuchung eines funktionierenden Sprach­sys­tems zu einem bestimmten Zeitpunkt, meist die Analyse der Gegen-wartssprache. Dabei wird leicht vergessen, dass Sprache kein sta­tisches Gebilde ist, sondern ein geschichtliches Phänomen, das sich ständig verändert und veränderbar ist. Die diachrone Unter­suchung im historischen Längsschnitt stellt deshalb eine notwendige Ergänzung dar: Wie hat sich unsere Sprache herausgebildet? Welche Entwicklungstendenzen deuten sich für die zukünftigen Wand­lungen in der Gegenwart an?



Die Historiolinguistik (oder: diachronische Sprachforschung) untersucht die Sprachgeschichte, d.h. die historische Entwick­lung der Sprachen, ihre rwandtschaftsverhältnisse, die Gesetze und Ursachen des Sprachwandels vor dem Hintergrund ge­sell­schaftlicher ränderungen sowie die Ent­wicklungsten-denzen der Gegenwartsspache.

Aus der Erkenntnis der Historizität der Sprache und dem Kernbegriff des Sprachwandels ergeben sich die Forschungsauf­gaben der Historiolinguistik, denn sie muss auf folgende Fragen antworten:

1. Was wandelt sich in einer Sprache?

2. Mit welcher Geschwindigkeit und innerhalb welcher Grenzen wandeln sich Sprachen?

3. Wie beschreibt man Sprachwandel?

4. Warum wandeln sich Sprachen?

5. Wie wird Sprachwandel von den Sprachbenutzern wahrgenom-men?

6. Haben Sprachen einen Ursprung? Sterben Sprachen?





4.2. ränderungen in der Sprache



Der tatsächliche Wandel von Sprache(n) ist mehr oder weniger un-mittelbar evident; es genügt einen sogenannten Neujahrsbrief aus dem 19. Jahrhundert zu lesen, um festzustellen, dass Unterschiede zum gegenwärtigen Sprachgebrauch existieren:



rehrte Eltern

Der heutige Tag, der erste im Jahre 1831, bietet mir wiederum eine passende Gelegenheit, Ihnen meine dankbare Liebe zu beweisen. Blicke ich auf das eben verflossene Jahr, wieviel Gutes haben Sie an mir gethan! Jeder meiner Tage ist sprechendes Zeugnis Ihrer Liebe. Und dennoch habe ich Sie, geliebte Eltern, oft durch kindischen Leichtsinn betrübt. Im neuen Jahr gelobe ich aber ein neuer Mensch zu sein. Durch Fleiß und gutes Betragen will ich stets mich Ihrer Liebe werth zeigen. Mögte (sic) Gott Sie mir noch recht lange gesund und froh erhalten, damit Sie sehen, wie ich im Guten zunehme und damit ich in Ihren alten Tagen das mir erwiesene Gute vergelten kann. Gott wird meine Wünsche segnen und meinen guten aber noch schwachen Willen immer mehr stärken, damit Sie, so lange Sie leben, Freude haben an

Ihrem

dankbaren Kinde

Caroline Pathe

Berlin,

den 1ten Januar 1831

(Landesarchiv Berlin, Nachlass C.H. Pathe, zit. Nach Linke u.a.1994:397)



Der Text wird für alle Deutschsprechenden verständlich bleiben, doch werden sie ihn in gewissem Sinne als etwas befremdend empfinden, - auch ohne Kenntnis der Zeitangabe - als unzeitgemäß ein­stufen. Bestenfalls könnte der Text als parodisch gespreizte Formulierung in der Gegenwart gelten, und somit ganz neue Konno­tationen erwerben. Was ist in diesem Brief, im rgleich zum heutigen Sprachgebrauch anders? Was hat sich konkret verändert? Die Wörter? Die syntaktische Struktur?



Die naïve Antwort, - die allerdings nicht ganz falsch liegt – könnte sein: Die Formulierung. Heutzutage würde man einen solchen Brief nicht mehr schreiben.

Die Ausdrucksformen in diesem Brief erscheinen uns heute als pragmatisch unangemessen, als unpassend.



Auf die Frage: Was verändert sich in der Sprache? Können wir nun schon einen Teilantwort geben: die Regeln der pragmatischen Adäquatheit.



Die Sprache muss als komplexer, als zusammengesetzter Gegen-stand konzipiert werden, so dass wir dann sagen können, dass im Laufe seines Wandels einiges gleich geblieben ist (siehe die Wörter in dem Brief) und einiges sich verändert hat. Sprache ist ein Komplex von Teilsystemen von Einheiten und Regeln. Wir unter-scheiden:

· Teilsysteme von Einheiten und Regeln für die grammatische Korrektheit von sprachlichen Ausdrücken (phonologische, mor­phologische, syntaktische ev. semantische Regeln)

· Teilsysteme von Regeln der pragmatischen Angemessenheit von Ausdrucksverwendungen (angemessene rwendung von Ausdrücken in bestimmten Textsorten, in bestimmten Situatio-nen usw.)



Zur Erklärung der zwiespältigen Erfahrung mit dem Text von 1831 – problemloses Wiederekennen als Deutsch, und doch partielles Befremden – können wir nun die folgenden Hypothese wagen: Hinter dem sprachlichen Ereignis von 1831 stecken weitestgehend diesel­ben Einheiten und Regeln, die auch noch die Einheiten und Regeln des Deutschen von heute sind. Insbesondere herrscht weitest-gehende Identität der Einheiten und Regeln, die die Grammatikalität der Ausdrücke determinieren. Ein Urteil von der Art “das wäre heute ungrammatisch” ist über keine Stelle im Text möglich. Das Befrem­den mag hingegen herrühren

· von bestimmten Wörter und Wortkombinationen, die wir zwar vielleicht noch kennen, die wir aber nicht mehr gebrauchen: ge­lobe ich, wie ich im Guten zunehme;

· von syntaktischen Konstruktionen, die wir nicht erwarten: wieviel Gutes haben Sie an mir gethan, damit Sie sehen, wie ich im Guten zunehme und damit ich in Ihren alten Tagen das mir erwiesene Gute vergelten kann;

· schließlich von dem, was wir einmal ganz global den Stil nennen wollen, d.h. die ganze Art der sprachlichen ‘Inszenierung’.

Dabei ist es nicht unbedingt so, dass man solche sprachlichen Ele­mente heute nicht mehr produzierte. Was es heute vielleicht nicht mehr gibt (außer mit den oben erwähnten parodischen Konno­tationen), ist vielmehr die spezifische Mischung der Elemente. Solche Sprache findet sich heute nicht mehr in Briefen. Fazit: es sind die Sprachverwendungsregeln, die pragmatischen Regeln, die uns zu einem situations- und funktionsspezifischen Sprachgebrauch anleiten, die sich stark verändert haben. So müssen wir differen­zieren, wenn wir behaupten, zwischen 1831 und heute habe sich die deutsche Sprache gewandelt: Wir haben niemals einfach eine ganz andere Sprache. rändert haben sich nur gewisse Einheiten und Regeln in bestimmten Bereichen. Sehr viele Einheiten und Regeln, ja ganze Bereiche sind unverändert geblieben.



Wenn wir so den Sprachwandel als parteillen Einheiten- und Regelwandel genauer zu fassen versuchen, so drängt sich in der Folge die Frage auf: Ab wann ist etwas eine gültige Einheit, ist etwas die Regel und etwas anderes nicht mehr und hat sich somit die Sprache verändert? Ab wann spricht, wer eine Neuerung nicht mitmacht, nicht mehr regelkonform?

Auf diese Frage kann nur differenziert geantwortet werden. Denn ei­ne Sprache ist nicht nur ein Komplex von Einheiten- und Regel­systemen für diverse Ebenen der Ausdrucksformung und -verwendung, sie ist zudem ein Komplex von verschiedenen, sich in verschiedenen Bereichen verschieden stark unterscheidenden Varie-täten. Schließlich ist eine historische Einzelsprache immer auch eine Gleich­zeitigkeit verschiedener Generationssprachen, und diese kön­nen sich partiell mit den Varietäten nach den anderen Parametern decken; sie ist zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt immer ein Nebeneinander von Ungleichzeitigem, von Varietäten, die schon den Geruch des rgangenen an sich haben, und von Varietäten mit neuen Ausdrücken, die provokativ anmuten, und von Varietäten des-sen, was die Regel ist, von Varietäten der Macht.



Sprachgeschichte muss sich nicht nur mit zeitlich weitliegenden Epo­chen beschäftigen, Sprachgeschichte passiert auch hier und heute, und der diachrone Blick auf die Sprache kann aus dem Hier und Heute viel lernen für das rständnis der Sprachgeschichte ferner Zeiten.



Wer also behauptet, eine Sprache habe sich in einer bestimmten Zeit verändert, behauptet, dass sich bestimmte Regeln verändert haben, andere jedoch nicht, und er behauptet nicht notwendig, dass es das Neue vorher nicht auch schon gab (in bestimmten) Varietäten und dass das Alte nach der ränderung nicht mehr ist (in bestimmten Varietäten). Er meint damit primär einen Wechsel der Macht im Reich der Regeln.



4.3. Zeitliche und räumliche Bestimmung des Sprachwandels



Wenn Sprachwandel partieller Einheiten- und Regelwandel ist, so kann man prinzipiell das Phänomen quantifizieren. Denn er wird spürbar, wenn sich viele Regeln und Einheiten pro Zeiteinheit verän­dern, und er erfolgt langsam, wenn es nur wenige sind. Wenn r­ständnisschwierigkeiten verstärkt vorhanden sind, sprechen wir von rstehensschwellen. In der Sprachgeschichte des Deutschen haben wir solche Schwellen etwa zwischen Früh-Neuchochdeutsch und Mittelhochdeutsch (d.h. im Spätmittelalter) und – stärker noch – zwischen Mittelhochdeutsch und Althochdeutsch (also im Frühmit­telalter). Die Erklärung für diese Periodisierung ist, dass sich in einem kurzen Zeischnitt plötzlich sehr viele Einheiten und Regeln gewandelt haben.



Althochdeutsch: 750 n.Chr. - 1050

Mittelhochdeutsch: 1050 - 1350

Früh-Neuhochdeutsch: 1350 – 1650

Neuhochdeutsch 1650 - Gegenwart



Zu den einzelnen Epochen sollen nun kurze Beschreibungen ge­bracht werden, ohne jedoch die Vorgeschichte des “Deutschen” unerwähnt zu lassen.



Das Deutsche gehört, wie die meisten eruopäischen Sprachen, zu den indoeuropäischen Sprachen.

Über die Vorgeschichte der “Indogermanen” gibt es nur wenig gesichertes Wissen. Ob ihre Heimat in Mittelasien, Südrussland oder Mitteleuropa lag, ist ungewiss. Archäologie und Linguistik haben einige Kenntnisse über Lebensformen, Gesellschaft und Religion erlangt, z.B. welche Pflanzen und Tiere, Metalle und Werkzeuge bekannt waren usw. Doch wird auch diese steinzeitliche Gesellschaft schon verschiedene Dialekte gesprochen haben, bevor dann vor etwa 5000 bis 4000 Jahren ihre Auflösung durch Wanderungen begann.

Vor ca. 3500 bis 2500 Jahren lebten in Nordwesteuropa die Germanen, deren Sprache sich von allen anderen indo-europäischen durch die Erste oder Germanische Lauverschiebung un­ter­scheidet, eine allgemeine rschärfung und Spirantisierung von Konsonanten, speziell:

bh  b b  p p  f

dh  d d t t  (d)

gh g g  k k  x (h)

So kommt es zu Entsprechungen wie:

lateinisch: frater duo hortus pecus tres cor

deutsch: Bruder zwei Garten Vieh drei Herz



Die Regeln sind im Detail recht kompliziert und sollen hier nicht weiter erörtert werden. Ferner wurde im Germanischen der freie Wort­akzent auf die erste Silbe des Stammwortes festgelegt, wodurch die Laute am Wortende immer mehr abgeschliffen wurden (und später dann die für das Deutsche so charakteristischen vielen klang­losen Endungen wie -e, -en, -er, -es entstanden).

Die Epoche einer gemeinsamen germanischen Sprache, die man nur rekonstruieren kann und als “Urgermanisch” bezeichnet, dauerte etwa ein Jahrtausend. Dann breiteten sich die Germanen nach Osten und Süden aus und bildeten drei Großgruppen: Nord-, Ost- und Westgermanen. Zu den letzteren gehörten diejenigen Stammes­verbände, aus deren Dialekten Englisch, Friesisch, Deutsch (mit einer zweiten, der ”Hochdeutschen Lautverschiebung”) und Nieder­ländisch hervorgegangen sind.



Ein genauer Zeitpunkt für den Beginn der deutschen Sprache ist natürlich nicht anzugeben. Man kann schon die Stammesdialekte aufgrund ihrer Gemeinsamkeiten als Vor- oder Frühdeutsch zu-sammenfassen. Durch die Gründung des Frankenreiches (481) war auch eine politische Grundlage für die Entstehung von Natio­nalsprachen gegeben, so dass zur Zeit der Reichsteilung (843) schon Dokumente auf Altfranzösisch und Althochdeutsch abge­fasst wurden.

Die germanistische Forschung unterscheidet in der deutschen Sprachgeschichte traditionell zwischen Hoch- und Niederdeutsch. Grundlage dafür ist die oben angedeutete “Zweite oder Hoch-deutsche Lautverschiebung”, die ähnliche Tendenzen zeigte wie die erste und von etwa 600 an die oberdeutschen, von 800 bis 1500 dann auch die mitteldeutschen Dialekte erfasste und sie von den niederdeutschen lautlich klar trennte. Hochdeutsch ist aber auch die Bezeichnung für überregionale Einheitlichkeit und rwendung und später nicht mehr auf Süddeutschland beschränkt (s.u.).



Da erst seit dem 8. Jahrhundert vollständige literarische Zeugnisse in altdeutscher Sprache erhalten sind, wird die Sprache davor auch als “vorliterarisches Deutsch” bezeichnet.

Für die deutsche Sprachgeschichte gibt es viele Einteilungsvor­schläge. Die folgendeTabelle (nach W Schmidt u.a.) gibt einen Überblick nach historischen und sprachlichen Kriterien.




Man kann für die deutsche Sprachgeschichte insgesamt einige allge­meine Tendenzen zugrundelegen:

· die Tendenz vom synthetischen zum analytischen Sprachbau (wenn auch bei weitem nicht so stark wie im Englischen),

· Formenvereinfachung durch Lautveränderungen,

· Ausbau des Wortschatzes durch Wortbildung und Entlehnun­gen,

· die Tendenz zu einer Einheitssprache (überregionalen Hoch­spra­che).



Im Folgenden werden die einzelnen Epochen gekennzeichnet.



Althochdeutsch (Frühmittelalter)

Schon im Frankenreich - besonders unter Karl dem Großen - wurde für die Zwecke der rwaltung, Religion (Übersetzungen aus dem Latein) und Literatur eine relativ einheitliche Schriftsprache not­wendig und möglich. Sie stand unter starkem lateinischem Einfluss und beruhte auf rheinfränkischer Grundlage. Im 10./11. Jahrhundert wurde das Althochdeutsche jedoch in seiner schriftlichen rwen­dung wieder fast ganz vom Latein verdrängt.

Die wichtigsten sprachlichen Merkmale des Althochdeutschen sind:

1) die 2. (hochdeutsche) Lautverschiebung (hier rgleich mit Engl.):



pf apple - Apfel

p

ff ship – Schiff



(t)z sit - sitzen

t

zz/ss eat- essen



(k)ch bake – backen

k

hh/ç,x/ make – machen



b/w/  b (p) give – geben

d//  d (t) this – dies

g/j/  g (k) lay – legen



2) der i-Umlaut vor i in Folgesilbe: a  ä (e): gast - gesti (Gäste)

3) Monophthongierung (ai  e und au  o)

4) Diphthongierung (e  ie und o  uo)

5) Entstehung des Artikels; - Ausbau der Wortbildung, Abstrakta

6) Entlehnungen ( besonders aus dem Lateinischen).





Mittelhochdeutsch (Hochmittelalter)

Im Hochmittelalter entstand mit dem Aufblühen des Feudalismus eine neue weltlich-ritterliche Kultur und bestand relative politische Einheit. Neben mehreren regionalen Schriftsprachen wurde beson-ders eine künstliche Dichtersprache geschaffen, das Mittelhoch­deutsch. Es beruhte auf oberdeutschen Grundlagen, kann aber als die deutsche Literatursprache jener Zeit gelten.

Sprachliche Merkmale:

1) Vokalschwächung in unbetonten Silben zu e (): taga  tage

2) i-Umlaut auch bei o, u, ou, uo  ö, ü, äu, üe: wurfil  Würfel

3) Übergang von sk  sch: sconi  schoene (schön)

4) Übergang von s  sch vor l, m, n, w, p, t: slange  schlange

5) Auslautverhärtung von b, d, g  p, t, k: wib  wip (Weib)

6) Entlehnungen aus dem Französischen, Slawischen, Arabischen usw.: aventure  aventiure (Abenteuer)





Spätmittelhochdeutsch / Frühneuhochdeutsch

In dieser Zeit wurde die Notwendigkeit von überregionalen Ge­brauchs­sprachen immer deutlicher, und zwar sowohl für den Schrift­verkehr der kaiserlichen und fürstlichen Kanzleien als auch für den Handel des aufsteigenden Bürgertums. So kam es zu rsuchen, in Süddeutschland das Gemeine Deutsch und in Norddeutschland das Mittelniederdeutsch als Einheitssprachen zu elieren, was aber nur teilweise und vorübergehend gelang. Diese Epoche muss als Übergang gesehen werden, entweder als spätes Mittelhoch­deutsch (1350 - 1500) oder als frühes Neuhochdeutsch (1350 - 1650, mit einer Zäsur um 1500, dem Beginn der Neuzeit).

Sprachliche Merkmale:

1) Diphthongierung von i, u, iu (ü)  ei, au, eu: hus  Haus

2) Monophthongierung von ie, uo, üe  ie (i), u, ü: brüeder  Brüder

3) Vokaldehnung in offener Silbe: sagen  sagen

4) Vokalkürzung in geschlossener Silbe: brahte  brachte

5) Wegfall des unbetonten e (im In- und Auslaut): gelücke  Glück



Neuhochdeutsch (Neuzeit)

Den Sieg als Einheitssprache trug schließlich die ostmittel-deutsche rkehrssprache in Obersachsen und Thüringen davon. Wichtige Gründe dafür waren die Reformation Luthers und seine Bibelübersetzung, die durch den Buchdruck stark verbreitet werden konnte, aber auch die sprachliche Teilhabe an Norden und Süden sowie die seit der Ostkolonisierung zentrale geographische Lage.

Natürlich muss man bei all solchen Epochisierungen von langen all­mählichen Übergangsphasen ausgehen. Das Frühneuhochdeutsche reicht zum Teil noch bis ins 17. Jahrhundert. Und von einer echten neuhochdeutschen Gemeinsprache kann man eigentlich erst am Ende des 18. Jahrhunderts sprechen, als die Grammatiker, Schrift­steller und Lehrer (nach Einführung der allgemeinen Schulpflicht) die Grundlagen dafür bereitet hatten. Zu einer offiziellen Einheitsrechtschreibung und -aussprache kam es sogar erst am Ende des 19. Jahrhunderts (Duden, Siebs).



Die stärksten Impulse für die rbreitung der Hochsprache kamen außer von der Schule vor allem von den Medien (Presse seit dem 17. Jahrhundert, Funk, Film und Fernsehen im 20.), von der Ent­wicklung der Großstädte, den jüngsten “Völkerwanderungen” von Ost nach West und der allgemeinen Mobilität überhaupt.





4.4. Beschreibung des Sprachwandels



Die Frage, wie man den Sprachwandel beschreiben kann, bezieht sich nicht auf das Phänomen, sondern auf die Theorie, die einer solchen Beschreibung zugrundeliegen soll, auf die wissenschaftliche Erfassung des Gegenstandes.

Die theoretische Erfassung von Sprachwandelphänomen kann prinzipiel Konsequenzen für die Beantwortung der Warum-Frage haben, und zwar so, dass eine bestimmte Beschreibung der rän­derung die Augen öffnen oder aber zum vornherein verschließen kann für bestimmte Erklärungen der ränderung.



Eine Sprachtheorie beispielsweise, die Sprachen konzipiert als Or­ga­nismen, die heranwachsen, blühen und absterben, lässt die Warum-Frage gar nicht aufkommen, weil man in diesem Konzept Sprachen so etwas wie ein autonomes inneres Lebensgesetz zuspricht, nach dem sie ihre Entwicklung durchlaufen.

Die Frage nach der Art der Beschreibung von Sprachwandel muss auch der Tatsache Rechnung tragen, dass die Sprachgeschichte uns immer als Abfolge von Epochen begegnet, und wir haben die Tendenz, die Epochen so statisch wie möglich wahrzunehmen, und sehen demzufolge zwischen den Epochen Zeiten radikalen Wandels, des Umsturzes, der Revolution. Dieses Bild entspricht der Notwen­digkeit, den zu beschreibenden Gegenstand aus der Zeit, in der er sich permanent verändert, herauszuheben und ihn als statischen zu präsentieren. Das ergibt die charakteristische Stufung im Bild der Geschichte: Epochen wie Perlen an der Schnur der Zeit. Dieses Bild mag grundsätzlich falsch sein; falsch könnte es umgekehrt aber auch sein, wenn man behauptete, Sprachen veränderten sich in sehr gleichförmigem Tempo und es gäbe keine Revolutionen. Wenn es aber solche Revolutionen gibt, so sollten sie bestimmend sein für eine Einteilung der Sprachgeschichte in Epochen, wie sie im voran­gehenden Kapitel bereits vorgestellt wurden.





4. Ursachen des Sprachwandels



Im Kapitel 4.3. wurden bereits einige Ursachen des Sprachwandels angeführt; sie sollen hier ergänzt werden:

Wenn wir nach dem Warum des Sprachwandels fragen, so impliziert diese Frage, dass eine Erklärung des Phänomens gefordert wird.

Wir können uns generelle ränderung, Vorgänge nur sehr schwer denken ohne eine wirkende Kraft, die dahinter steht – und diese wirkende Kraft wäre der Grund. Die Antworten auf diese Frage können - je nach Sprachtheorie - unterschiedlich sein:

Der Strukturalismus hat sprachsysteminterne Erklärungen gebracht, die auf der dieser Theorie spezifischen Setzung beruht. So setzt er z.B. für jede Sprache das Prinzip der Ökonomie und das Prinzip der größtmöglichen Differenziertheit an, zwei Prinzipien, die in ewi­gem Widerstreit miteinander liegen: einerseits die Tendenz, Sprach­ausdrücke so kurz und knapp und einfach wie möglich zu machen (Ökonomieprinzip), andereseits die Tendenz, Sprachausdrücke so präzise und differenziert wie möglich zu machen (Differenziert­heitsprinzip). Der Kampf dieser Prinzipien treibt die Sprachver­änderung unablässig voran. Die Prinzipien sind finaler Erklärungs­natur: Sie benennen Ziele, auf die hin eine Sprache perma­nent unterwegs ist.

Spachsystemexterne Erklärungsmöglichkeiten des Sprachwandels sind an die Sprachträger gebunden. Diese können ganz bewusst die Sprache regeln, indem sie neue Wörter schaffen (z.B. Euphe­mismen), bestehende Wortformen mit neuen Bedeutungen belegen (Metaphern), aus anderen Sprachen entlehnen usw.



Zu den sprachwandeldertminierenden Faktoren gehören auch ganz allgemein ränderungen der Gesellschaft, der sozio­­-ökonomischen rhältnisse, der kulturellen rhältnisse, Sprachkontakt­phänomene usw.



Die innnere Heterogenität historischer Einzelsprachen – das gleichzeitige Vorkommen verschiedener Varietäten - schafft erst die Bedingung der Möglichkeit von Sprachwandel.





4. Sprachwandelrezeption



Die in der Sprache auftretenden ränderungen sind keineswegs nur den Fachleuten, die sich professionell mit Sprachzeugnissen älterer Epochen beschäftigen bewusst, sondern auch sprachlich weniger geschulten Personen.

Dabei erscheint das Phänomen kaum je wertneutral. Den Regel­veränderungen folgt eine Bewertung stets auf dem Fuß, und diese Bewertung fällt in den seltensten Fällen positiv aus. Die Klage über den ‘Sprachzerfall’ über den ‘Niedergang der Sprachkultur’, über den ‘rlust der Sprache’ einer Gesellschaft, deren junge Generation die Muttersprache nicht mehr ausreichend beherrscht, diese Klage ist keineswegs neu.

Man denke dabei an die Reaktionen der Sprachgesellschaften im 18.Jahrhundert, die eine Reinigung der deutschen Sprache von fran­zö­sischen Ausdrücken programmatisch forderten oder an gegen­wärtige Initiativen, den Einfluss der Anglizismen und Amerikanismen einzuschränken.

Diese Art von Intitiativen sind mehr oder weniger erfolgreich. Denn man vergisst dabei, dass es im Wesen der Sprache liegt, sich mit erstaunlicher Flexibiltät an die sich immer verändernden Kommu­nikationsbedürfnisse der Sprachträger anzupassen.

Dazu Jakob Grimm: “Es ergibt sich, dass die menschliche Sprache nur scheinbar und vom Einzelnen aus betrachtet im Rückschritt, vom Ganzen her immer im Fortschritt und Zuwachs ihrer inneren Kraft begriffen angesehen werden müsse”. (Grimm: Ueber den Ursprung der Sprache, [1851] In: ders. Auswahl aus den Kleineren Schriften. Berlin 1871: 261)



Abschließend noch ein Bemerkung: Mit dem heutigen Deutsch ist na­türlich kein Endzustand erreicht. Wenn auch die offizielle Stan­dardisierung der Hochsprache die Entwicklung verlangsamt haben mag, lassen sich immer noch deutlich auf allen Ebenen der Sprache ränderungstendenzen feststellen.



Die Entwicklungstendenzen in der deutschen Gegenwarts-sprache - auf allen Ebenen der Sprache - bedürfen einer gründlicheren, detallierten Untersuchung und sollen hier nicht weiter besprochen werden. Dieser Aspekt soll gesondert analysiert werden.



Die hier vorgestellten Kapitel bieten einen relativ breiten Überblick über die germanistische Linguistik. Von Vollständigkeit ist dieses Buch weit entfernt; sie war auch nicht angestrebt.

Hier werden nur einige Anregungen für die Weiterarbeit gegeben - vor allem auf den nicht näher behandelten Gebieten sowie für die Linguistik-Seminare, die zur rfügung stehen.

So konnten die Hauptgebiete der Angewandten Linguistik - Sprachdidaktik, Fremdsprachen und Computerlinguistik, die kontras­tive Linguistik, die nicht nur Sprachen typologisiert und vergleicht, sondern auch den konkreten Sprachkontakt regional und individuell (Bilingualismus/Zweisprachigkeit) untersucht – nicht besprochen werden.



Die Philosophie dieses Jahrhunderts ist größenteils Sprachphilo­sophie, sei es auf der Grundlage der formalen Logik oder der Pragmatik. Einen vieldiskutierten Komplex stellen aber auch die Beziehungen zwischen Sprache, Denken und Wirklichkeit dar, die neben dem ethno- und psycholinguistischen Aspekt auch einen philosophischen (erkenntistheoretischen) besitzen.



Schließlich bedürfen natürlich auch die behandelten Gebiete der rtiefung und Ergänzung. Die Kapitel zur Sprachstruktur können punktuell vertieft werden, z.B. zu anderen Syntax- und Semantiktheorien und zur Idiomatik.

Die übrigen Gebiete sind so groß, dass sie Themen jeweils selb­stän­diger Seminare sein können. Dabei müssten Pragma-, Text- und Soziolinguistik durch die Bereiche “Gesprochene Sprache”, “Ge­sprächs­analyse”, “Argumentation”, “Rhetorik”, “Stilistik” ergänzt werden, ferner durch eine Beschäftigung mit dem Komplex “Sprach­norm/Sprachkritik”.



Diese Themen werden in den höheren Semestern sowohl im Rahmen des Grundstudiums als auch im Haupt- und Aufbaustudium aufgenommen und vertieft.















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