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Das räumliche Modell: Küsten und Gebirge

Das räumliche Modell: Küsten und Gebirge

Zwei landschaftlich attraktive, als Ökosysteme labile Räume, die Küsten und die Hochgebirge Europas, sind in geradezu unglaublichem Ausmaße von der Freizeitgesellschaft verändert worden. Die traditionelle lokale Belkerung von Fischern, Bergbauern und Hirten wurde im Laufe des letzten halben Jahrhunderts teilweise verdrängt. Die Konflikte mit der städtischen Freizeitgesellschaft in den Hochgebirgen, insbesondere in den Alpen, sind medial bekannt, jene in den Küstenräumen bisher aus gesamteuropäischer Sicht jedoch noch nicht untersucht.

Hierzu hat zweifellos die Tatsache beigetragen, dass in jüngster Zeit die Alpen zu einem nahezu ganzjährig von der städtischen Freizeitgesellschaft okkupierten Territorium geworden sind, während in den Küstenräumen die Invasion jeweils nur in der Sommersaison erfolgt und im Winterhalbjahr die lokale Belkerung wieder ihr soziales Milieu und ihre Lebensweise regenerieren kann, wie dies in den Fischergesellschaften des Mittelmeerraums ebenso wie an den Küsten des Atlantik der Fall ist.

Der Massentourismus an den Küsten

Europa besitzt tief gegliederte und im Verhältnis zur Fläche nahezu doppelt so lange Küsten wie alle anderen Erdteile. An diesen Küsten haben 21 EU-Staaten Anteil. In einer relativ schmalen Küstenzone sind in den abgelaufenen Jahrzehnten die umfangreichsten Investitionen in touristische Infrastruktur, Parahotellerie und Zweitwohnsitze in der EU erfolgt. Die Klimazonen konfigurieren die Palette von den Sommerhäusern auf den Inselfluren der Gebirge Nordeuropas bis zum Ganzjahresbetrieb in den Hotel- und Appartementhausanlagen auf den Kanarischen Inseln. Allerdings sind mit dem rasanten Wachstum der touristischen Einrichtungen auch die Schutzmaßnahmen im Hinblick auf Abrasion und Transgression des Meeres zu einer immer kostspieligeren Daueraufgabe geworden. In Italien haben inzwischen Betonmauern, Tetrabodenwellen, Steinschüttungen und andere Verfelsungen die ehemaligen Küstenlinien ersetzt (Kelletat 1999, S.197). Auf Hunderten von Kilometern entstanden künstliche Strände. Besonders aufwendig sind die Schutzmaßnahmen an der Nordseeküste in Deutschland und in den Niederlanden, welche jährlich von vielen Millionen Touristen besucht wird und wo der Meeresspiegel im 20. Jahrhundert um 64 cm angestiegen ist.


Die Hauptentwicklung des Tourismus hat sich seit den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts nicht am Atlantik, sondern längs des Mittelmeeres vollzogen. Dabei musste Italien, lange Zeit Nummer 1, inzwischen die Führungsposition an Frankreich und Spanien abgeben. Französischer Zentralismus beschloss den Entwicklungsplan für die Mittelmeerküste vom Rhönedelta bis zur spanischen Grenze. Durch umfangreiche Landkäufe des Staates wurde das gesamte Areal von Anfang an der Spekulation entzogen und die notwendige Infrastruktur geschaffen. Architektenwettbewerbe schufen das Design von Freizeitstädten wie La Grande Motte bzw. Imitationen von Venedig wie Port Camargue. Dabei reüssierte das gesetzlich abgesicherte Multieigentum von Appartements. Exklusive Orte wie u.a. St.-Tropez wurden unter Denkmalschutz gestellt (Abb. 9.16).
In Spanien ist der Ausbau zum Massentourismus an den Mittelmeerküsten hektischer und planloser vorsieh gegangen. Grundstücks- und Bauspekulation durch ausländische Kapitalgeber ließen ganze Batterien von Hochhäusern in sämtlichen Fremdenverkehrszentren entstehen. Benidorm an der Costa Bianca weist mit 330 Hochhäusern und neun Wolkenkratzern, von denen sechs erst seit 2000 errichtet wurden, als einzige europäische Fremdenverkehrsstadt bereits amerikanische Dimensionen auf (Abb. 9.17).


Die städtische Freizeitgesellschaft in den Alpen

Die Alpen sind der Dachgarten Europas. Ihre Hochregionen wurden von Seilbahnen, Sesselliften und Schleppliften erschlossen, von denen die neuesten Produkte bereits 4.000 bis 5.000 Personen pro Stunde zwischen Tal- und Bergstation befördern. Die folgenden Angaben über die installierten Seilbahnanlagen bieten eine Vorstellung vom derzeitigen Vertikalverkehr in den Alpen. Hinsichtlich der Zahl der Seilbahnen führt immer noch die Schweiz, das älteste Fremdenverkehrsland in den Alpen, dem gegenüber die anderen Alpenstaaten jedoch bereits aufholen konnten.

Seil- Sessel- Schlepp
bahnen lifte lifte
Frankreich 225 895 2.920
Österreich 215 657 2.246
Schweiz 307 340 1.564
Italien 208 789 1.382
Deutschland 71 91 1.381

Ähnlich den Stadtregionen entstanden Fremdenverkehrsregionen mit einer Konzentration im Kern und zentral-peripheren Gradienten von Bettendichte, Bodenpreisen, Auslastung und dergleichen u.a. in den französischen Hochalpen (Chamonix: 50.000 Betten, Trois Vallees: 38.500 Betten).
Alle Elemente der Stadt- und Regionalplanung wurden im Hochgebirge verwendet: die Ausweisung von Flächennutzung, Bebauung und Freiflächen (Grünzüge aus den Orten in die Landschaft!), Restriktionen der Verbauung aufgrund von Gefahrenzonenplänen, Verkehrsplanungen (Umfahrung, Fußgängerzonen), Ortsbildpflege usw.
Der Vergleich der Alpenanteile Frankreichs, der Schweiz und Österreichs belegt die Bedeutung politischer Organisationsformen und sozialökologischer Strukturen für die Differenzierung des Freizeitraumes.
Die auf dem Reißbrett entworfenen Schistädte der französischen Hochalpen sind die Produkte der zentralistischen Planung einer interministeriellen Kommission, die 1964 den "Plan Neige erstellt und die Auswahl der Gebiete vorgenommen hat. Sie übertreffen mit ihren Ubernach-tungsziffem die Gesamtheit der Fremdenverkehrsorte der bayerischen Alpen. Französische städtebauliche Traditionen standen dabei ebenso Pate wie Forderungen der Pariser Freizeitgesellschaft, die darin eine Lösung für die Raumordnungsprobleme der Alpen zu erblicken vorgab. Gemischte Gesellschaften aus Gebietskörperschaften und Finanzinstituten konnten auf staatliche Fonds zurückgreifen und ebenso auf eine Gesetzgebung, welche die Grundlage für Enteignungsverfahren bot. Die Anteilsberechtigten der in der Krise befindlichen Gemeinschaftsalmen waren leicht durch Entschädigungen abzufinden.
Vier Elemente treten gegenwärtig im Nordabschnitt der französischen Alpen zusammen: Nationalparks, Freizeitstädte in drei Generationen baulicher Gestaltung, dem Verfall preisgegebene Agrarsiedlungen und Reste der Transhumanz von Schafen.
In der Schweiz ist die Reihung anders: Die Basis bildet eine extrem subventionierte Landwirtschaft, bei der im abgelaufenen Vierteljahrhundert die Höhe der Direktzahlungen von 30% auf 70% des Einkommens gesteigert wurde! Weiters besteht eine auf die Gründerzeit zurückgehende Hoteltradition, deren Entwicklung durch den sehr starken Ausbau der Parahotellerie gestoppt worden ist, und schließlich ein kommerzialisiertes Zweitwohnungswesen, das ein Kennzeichen der Schweiz darstellt. Anstoß für dessen Entwicklung war das Gesetz über das Stockwerkseigentum im Jahre 1965 (entspricht juristisch der Eigentumswohnung), das eine seither anhaltende massive Einschaltung von Schweizer Banken in die Finanzierung von Appartementhotels und Eigentumswohnungskomplexen zur Folge hatte.

Diese Kommerzialisierung hat sich in anderen Teilen der Alpen nicht vollzogen, so z.B. in den südfranzösischen Alpen, dem Zweitwohnungshin-terland der Städte Südostfrankreichs, und ebenso wenig im Zweitwohnungsraum der Wiener, welcher die Ausläufer der Ostalpen umfasst. Die Gründe liegen in beiden Fällen in der lange betriebenen sozialen Wohnungspolitik.
Ebenso wie diesem Zweitwohnungswesen ökonomische Rationalität und Renditedenken als leitende Motive weitgehend fehlen, gilt dies auch für den umfangreichen Sektor der österreichischen Privatzimmervermietung, der eine Sonderstellung in Europa besessen hat und im Generationenwechsel heute im Rückgang begriffen ist. Auch hier ging es um die Finanzierung des Baus eines eigenen Hauses. Erlöse aus dem Fremdenverkehr wurden daher ähnlich wie bei Bergbauern im Rahmen eines Budgetdenkens beurteilt und nicht direkt zur Arbeitszeit in eine Beziehung gesetzt.
Eine "glückliche Ehe zwischen Agrarwirtschaft und Tourismus ist im alpinen Raum nur im Westen Österreichs gelungen.
In der Dreiergemeinschaft westösterreichischer Bundesländer trugen die Merkmale Tirols wesentlich zum Planungsleitbild für die Alpenregion bei. Dazu zählen der multifunktionale Lebensraum der einheimischen Bevölkerung (Inntal) und die Partizipation breiter Bevölkerungsschichten am Fremdenverkehr.
Dies war nur durch das zähe Festhalten der Tiroler Bergbauern an ihren ererbten Höfen möglich, so dass zum Unterschied von den französischen Alpen eine im Wesentlichen noch intakte Agrarge-sellschaft die Chancen des Fremdenverkehrs in eigener Initiative wahrnehmen konnte und von lokalen Unternehmen die notwendigen Investitionen geleistet wurden.

Die Konsequenzen des Amalgams von Agrar-und Freizeitgesellschaft waren: die Festigung der Siedlungsgrenze, die Erneuerung und der Ausbau der ländlichen Siedlungen und die Umkehr der "Bergflucht der Bevölkerung in eine "Bergwanderung, d. h. in die Hintergründe der Täler mit zweisaisonalem Freizeitpotential.
Die klimaökologische Sonderstellung Tirols ist recht eindrucksvoll an einem Nord-Süd-Profil zu illustrieren (Abb. 9.18). In Nordtirol bestehen nur graduelle, jedoch keine grundsätzlichen Unterschiede der Wirtschaftsweise und der Lebensform zu den Bauern des bayerischen Alpenvorlandes. Im Süden des Brenners hebt sich der Bergbauern-raum jedoch als höheres Nutzungsstockwerk gegenüber der breiten Verfallszone von Dorfsiedlungen mit realgeteilter Flur heraus, die auch die Tiefenstufe der Polykultur umfasst. Allein in Südtirol berühren sich die intensiven Monokulturen von Obst und Wein des Etschtales, nur durch ein schmales Band der Extensivierung getrennt, nahezu mit dem Bergbauernraum, in dem ähnlich wie in Nordtirol die bäuerlichen Betriebe am Sommertourismus und in den Hochlagen auch am Wintertourismus partizipieren.
Allerdings sind diese Leistungen nur durch den harten Arbeitseinsatz sowie den Konsum- und Freizeitverzicht der heutigen Generation der Hofbesitzer und Fremdenverkehrsunternehmer möglich gewesen. Es ist eine Frage an die Zukunft, ob auch die nächste Generation bereit sein wird, diese Leistungen und Verzichte zu erbringen.







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