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Das ländliche Europa - Was ist der ländliche Raum?



Das ländliche Europa - Was ist der ländliche Raum?

Das Fragezeichen im Titel steht für das bisher ungelöste Problem einer befriedigenden statistischen Abgrenzung und Definition ländlicher Räume in Europa. Der Strukturwandel läuft einer statistischen Definition davon. Das statistische Amt der Europäischen Union, Eurostat, verwendet die Bevölkerungsdichte als Abgrenzungskriterium. Es ist einsichtig, dass der ländliche Raum in Regionen mit hoher Bevölkerungsdichte, wie den Niederlanden, welche überdies die höchste Intensität der Agrarwirtschaft in Europa aufweisen, nur unzureichend erfasst werden kann. Ebenso offen ist die Abgrenzung des ländlichen Raums gegenüber un-besiedelten Großwaldungen, Wildnis und Ödland.
Die folgende, grundsätzlich davon abweichende Definition bezieht sich auf das räumliche Muster von Stadtregionen und die dazu gehörenden Umlandgemeinden und sondert davon den eigentlichen ländlichen Raum, der eine Art Restfläche bildet. Das Umland von Groß- und Mittelstädten hat sich zu einem eigenen Siedlungsbereich, für den die Bezeichnung suburbaner Raum verwendet wird, entwickelt. Das am Anfang des 19.Jahrhunderts entstandene Modell der Landnutzungszonen um die "Stadt im isolierten Staat von v. Thünen trifft noch heute zu. In unmittelbarer Nachbarschaft des Stadtkörpers europäischer Städte befindet sich meist eine Zone intensiver Agrarwirtschaft mit Wein-, Obst- und Gemüsebau. Flächen- und Arbeitserträge sind auf den großstädtischen Boden- und Arbeitsmarkt eingestellt. Besondere Probleme ergeben sich aus der Alloka-tion unerwünschter und von der Bevölkerung als störend empfundener r- und Entsorgungsbetriebe wie Müllverbrennungsanlagen, Kläranlagen, Flugplätze, Autobahnschneisen und -knoten.




Der eigentliche ländliche Raum setzt sich aus zwei Teilen zusammen: Er besteht erstens aus silen, mit Zentralen Orten gut ausgestatteten ländlichen Gebieten, in denen die Fläche intensiv für die Landwirtschaft genutzt wird und die Siedlungen nicht-agrarische Funktionen an sich gezogen haben. Ein zweiter Teil liegt zumeist peripher hierzu. Es handelt sich um ländliche Areale, in denen die Agrarwirtschaft durch keine anderen wirtschaftlichen Erwerbszweige ergänzt worden ist, die Reduzierung der Zahl der in der Landwirtschaft Berufstätigen aufgrund der stagnierenden Produktionsbedingungen zu einer Abwanderung der Bevölkerung, zur Bevölkerungsabnahme und schließlich zur Extensivierung der Nutzung geführt hat, und in denen die Entwicklung in den Teufelskreis von Niedergang und rfall der Siedlung einmündete. Auf diese Problematik, welche besonders die agrarökologischen Ungunsträume, die Grenzer-tragsböden in den Niederungen und die Berggebiete, betroffen hat, wird am Modellbeispiel der Hochgebirge Europas besonders eingegangen.

Die Multifunktionalität des ländlichen Raumes

Der ländliche Raum ist längst nicht mehr mit dem Agrarraum identisch. Er ist vielmehr schon vor Jahrhunderten durch Auslagerung von Funktionen aus den Städten erfasst und überformt worden, wobei in den einzelnen Phasen die jeweils neu auftretenden funktionellen Elemente einerseits in den vorhandenen Siedlungsbestand eingegliedert wurden bzw. sich von diesem separiert haben. Der letztgenannte Vorgang hat spezifische neue Siedlungen, Verkehrs-, Industrie-, Pendler-, Fremdenverkehrs- und Zweitwohnungssiedlungen hinterlassen. Diese Vorgänge haben jeweils nur Teile von ländlichen Gebieten und Regionen erfasst und zum Mosaik des ländlichen Raumes in Europa beigetragen.

Die erste Etappe der Industrialisierung des ländlichen Raums reicht weit zurück. Sie begann bereits im Manufakturzeitalter, als sich mittels eines zum Teil staatlich reglementierten Verlagssystems das Manufakturwesen ausbreitete und weitere Räume erfasste, als dies in einzelnen Exportgewerberäumen Europas, den Vorläufern der heutigen Megalopolis von Flandern über Süddeutschland bis nach Oberitalien, bereits im Mittelalter der Fall war. Vor allem in der Donaumonarchie wurden in Waldgebirgen bis in den Karpatenraum hinein Siedlungen für Glasarbeiter, Weber, Holzfäller, Bergleute u.a. mit Kleinlandwirtschaften gegründet und andererseits bestehende Dörfer durch eine "Neustift erweitert.
Die zweite Phase des funktionellen Wandels ging mit der Beseitigung der grundherrlichen Abhängigkeit einher und brachte der bäuerlichen Bevölkerung das Eigentumsrecht an Grund und Boden und eine bisher unbekannte Mobilität. Die Landflucht in die großen Städte riss große Lücken in die ländliche Siedlung in den Grenzertragslagen der Gebirge und Flachländer.
Die dritte Phase des funktionellen Wandels ist nach dem Zweiten Weltkrieg anzusetzen. Sie ist durch die Verbesserung der Verkehrsinfrastruktur gekennzeichnet und damit durch eine partielle Umpolung der Landflucht in die Pendelwanderung. Dank der Pendelwanderung wurde es der ortsständigen Bevölkerung möglich, im ländlichen Raum zu verbleiben. Aus den ursprünglichen Agrarsiedlun-gen sind somit zuerst Industriesiedlungen, zum Teil mit Arbeiterbauern, und schließlich Pendlersiedlungen geworden. Dorferweiterungen, oft abgesetzt von den Dorfkernen, waren das Ergebnis.
Die vierte Phase des funktionellen Wandels wird von der Ausweitung des tertiären Sektors in den Zentralen Orten bestimmt. Hierbei ist im Zuge des Konzentrationsprozesses der Wirtschaft ab den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts eine weitreichende Zurücknahme von Einrichtungen aus der Fläche des ländlichen Raumes erfolgt. Das dörfliche Gewerbe und die dörflichen Handelsbetriebe verschwanden in Zentraleuropa schrittweise, zuerst im Umkreis der Städte und schließlich in peripheren Räumen.

Aufgrund der verschiedenen Prozesse ist insgesamt das Wohnen zur mit Abstand wichtigsten Funktion des ländlichen Raumes geworden. Hierbei kommt es in den ländlichen Siedlungen einerseits zur Reduzierung der relativ immer kleiner werdenden Zahl von Angehörigen der Agrargesell-schaft und andererseits zum Anwachsen der Zahl der Pendler bzw. Angehörigen der städtischen Freizeitgesellschaft. Damit ist die jüngste Funktion genannt, welche in den landschaftlich attraktiven ländlichen Räumen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Agrarsiedlungen in Freizeitsiedlungen umgewandelt hat.

Die Autonomie der ländlichen Gemeinde

Ein wichtiges gemeinsames Merkmal Europas bildet die Gemeindeverfassung, welche vielfach auf mittelalterliche Siedlungsstrukturen, Dörfer, Talschaften, Pfarreien und dergleichen, zurückgeht und in der Zeit des Liberalismus im 19. Jahrhundert als unterster Baustein der jeweiligen Staatsmacht und in einzelnen Bereichen autonome Selbstverwaltungsbehörde eingerichtet worden ist. Auf ihr beruht die enorme Persistenz des ländlichen Siedlungssystems, dessen untere Größenklassen bei fehlender politisch-administrativer und finanzieller Verankerung sonst im Gefolge der Industrialisierung, Verstädterung usw. von der Wucht kapitalistischer Marktwirtschaft längst hinweggefegt worden wären. Riesige Flächen des ländlichen Raumes könnten brachliegen, wie dies in Nordamerika der Fall ist.
Die in Europa vorherrschende dörfliche Siedlungsstruktur hat sich im Umstellungsprozess der Agrarwirtschaft ebenso wie bei der Verortung neuer Funktionen und Einrichtungen als anpassungsfähiger erwiesen als der Streusiedlungsraum Nordamerika, der teilweise flächenhaft verfällt bzw. von der Suburbanisierung überrollt wurde. Nun haben in den 1960er und 1970er Jahren über Europa hinweg Verwaltungsreformen die administrative Landkarte von Staaten verändert. In Großbritannien und in den COMECON-Staaten wurde der gesamte Verwaltungsaufbau umgestaltet. Besonders rigoros waren in den Letztgenanten die Gemeindezusammenlegungen, wodurch vielfach neue administrative Großeinheiten von 20.000 Einwohnern aufwärts entstanden sind.

Innerhalb der föderalistischen Systeme im deutschen Sprachraum bestanden unterschiedliche Konzepte, wobei Dörfern Streusiedlungen zugeordnet wurden und durch die Zusammenlegung von Dörfern Haupt- und Nebendörfer entstanden sind. Mit der kommunalen Gebietsreform wurden durch Eingemeindungen und Zusammenlegungen größere kommunale Einheiten geschaffen. Die weit überwiegende Mehrheit der Dörfer in der Bundesrepublik Deutschland (vor 1990) verlor ihre kommunale Autonomie und wurde zum Gemeindeteil degradiert. Von den 1966 bestehenden 2<*.^11 selbständigen Gemeinden hatten 1985 nur 8.506 ihre Selbständigkeit bewahrt. Henkel hat auf die massiven negativen Konsequenzen der Gebietsreform mit dem Verlust von Zehntausenden ehrenamtlich tätiger Kommunalpolitiker hingewiesen (1999, S.337). Der ländliche Raum besitzt somit nur eine schwache politische Lobby. In den neuen Bundesländern bestehen gegenwärtig 7.565 selbständige Gemeinden, fast so viele wie in den alten Ländern (Henkel 1999, S.3M).
Zum Unterschied von Deutschland und Österreich hat Frankreich das Muster seiner insgesamt 36.851 Kleingemeinden (Stand 2000) nicht angetastet.
Der ländliche Raum ist in den einzelnen EU-Staaten sehr unterschiedlich strukturiert. Stabile Agrarräume dominieren in den Niederlanden, in Dänemark und im deutschen Sprachraum, während Frankreich, Großbritannien, Schweden, Finnland und Spanien extreme Peripherieräume aufweisen, in denen schon seit dem 19. Jahrhundert Entsied-lungsprozesse in größerem Umfang im Gange sind.

Planungsprobleme des ländlichen Raumes

Mit einer schlichten Feststellung sei eröffnet: Es existiert keine Definition des ländlichen Raums, da dieser eine variable, vom Stadtwachstum abhängige Restgröße darstellt. Damit gibt es auch keine Planungsinstitution für den ländlichen Raum. Es gibt nur eine Regionalplanung der Staaten, in welcher der ländliche Raum den jeweiligen Regionalstädten zugeordnet wird, ebenso gibt es eine Regionalpolitik der Europäischen Union, welche städtische und ländliche Gebiete umgreift.


Die viel zitierte Zersiedlung großer Teile des mittleren Streifens von Kontinentaleuropa ist ein Resultat des Baubooms im ländlichen Raum. Zu spät haben die Behörden die Gestaltungsaufgabe der geordneten Erweiterung der ländlichen Siedlungen ebenso wie die Aufgabe der Dorferneuerung erkannt, nachdem bereits eine "chaotische Urbanisierung weitflächig den ländlichen Raum im Umfeld von größeren Städten "überfahren hat. Nur die britische Town-and-Country-Planung und die Planung in den Niederlanden haben diese Aufgabe rechtzeitig erkannt und nicht nur neue Städte gegründet, sondern auch das Wachstum der Städte in geordnete Bahnen gelenkt.
In Zentraleuropa hat die Allokationsstrategie der Regionalplanung vor allem auf der so genannten mittleren Stufe der Zentralen Orte durch die Zuweisung von "gesetzten Diensten, höheren Schulen, Krankenhäusern und dergleichen, für den Ausgleich regionaler Disparitäten sehr viel getan. Mit dem steigenden Wohlstand der Gesamtbevölkerung haben auch die ländlichen Räume zumeist den technischen Standard der Städte in Hinblick auf Energie-, Wasserversorgung und Abwasserbeseitigung erreicht, überall dort, wo dies der Fall war, ist die Qualität des Wohnwertes für die Bevölkerung gestiegen und gleicht damit die größere Schwierigkeit der Erreichbarkeit von Arbeitsplätzen und Infrastruktureinrichtungen durch öffentliche Verkehrsmittel und die trotz des Schulbussystems bestehenden weit längeren Fahrzeiten für Schüler in Streusiedlungsgebieten aus.
Zwar hat der soziale Wohlfahrtsstaat seit den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts die Aufrechterhaltung einer guten Erreichbarkeit der Siedlungen des ländlichen Raumes in seinen Aufgabenkanon aufgenommen, doch sind andererseits unter den jüngsten Bestrebungen des Rückbaus des sozialen Wohlfahrtsstaates auch Projekte der Zurücknahme des öffentlichen Verkehrsangebots in Vorbereitung. Großbritannien hat hierfür in der Ära Thatcher ein Beispiel gesetzt, dessen katastrophale Auswirkungen im Alltagsleben von Pendlern inzwischen drastisch spürbar sind. Diesem Beispiel wurde bisher auf dem Kontinent nicht nachgeeifert. Im Gegenteil, in Südeuropa wurde der öffentliche Verkehr in entwicklungsschwachen Räumen mit EU-Mitteln wesentlich verbessert.


Die soziale Wirklichkeit

Der ländliche Raum und das Dorf besitzen in Europa unterschiedliches "Aussehen und ebenso unterschiedliches "Ansehen. Mehrere Großräume stehen zur Diskussion.
Mit Großbritannien sei eröffnet. Das Vereinigte Königreich ist ein Staat, in dem sich der Adel im 18. Jahrhundert nicht entschließen konnte, nach London bzw. nach Edinburgh zu ziehen, sondern auf seinen Landsitzen verblieb und diese entsprechend den familiären ökonomischen Möglichkeiten zum Teil schlossartig ausbaute (Abb. 7.1). Dieser Verbleib der großen Landeigentümer im ländlichen Raum hat zur antiurbanen Grundhaltung der britischen Bevölkerung entscheidend beigetragen. Die Dorfidylle mit dem herrschaftlichen Ansitz und den lokalen Eliten findet sich nicht nur in der schönen Literatur, sondern spiegelt sich auch in den Preisen des Immobilienmarktes wider. Die Beseitigung der Grafschaften durch die große Gebietsreform hat an diesen lokalen Milieus der Dörfer nur wenig geändert. Die Farmen wurden im Zuge der "Vereinödung im 18. Jahrhundert aus den Dörfern in die Streulage der gegliederten Heckenlandschaft versetzt, als die Flurzersplitterung der mittelalterlichen Siedlung durch die Feudalherren beseitigt wurden. Das englische Dorf hat sich damit früh von der Agrarwirtschaft emanzipiert und ein sehr spezifisches Soziaimilieu entstehen lassen (Abb. 7.2). Die aus der Stadt flüchtende Bevölkerung hat sich im Zuge der Neubautätigkeit im 20. Jahrhundert geordnet in die Quartiere der Reihenhäuser und Doppelhäuser von geometrisch aufgeschlossenen Satellitensiedlungen begeben.

Auch Frankreich hat bis heute, ungeachtet der Französischen Revolution, die Herrensitze als Indikator feudaler Gesellschaftsstruktur in verschiedenen Provinzen, wie in der Normandie, in der Bretagne oder in Aquitanien, im ländlichen Raum in großer Zahl erhalten. Hinter der Bezeichnung "Chäteau verbergen sich sowohl gute Weine als auch aristokratische Besitzer (Pletsch 1997, S.16^). Der eigentliche Träger der ländlichen Siedlungen sind jedoch die Marktorte, die "bourgs, Gerichtsorte als unterste Stufe der Administration, welche- anders als im deutschen Sprachraum - bis heute ihre lebhaften Wochenmärkte erhalten haben, auch wenn sich am Außenrand längst Supermärkte ansiedeln konnten. Ein weiteres Merkmal des ländlichen Raums ist das Phänomen der Zweitwohnungen. Kein anderes europäisches Land verfügt über einen ähnlich hohen Anteil an Zweitwohnsitzen wie Frankreich. Dies hängt damit zusammen, dass der Hausbesitz im ländlichen Raum auch nach der Abwanderung in die Stadt beibehalten und als Zweitwohnsitz genutzt wird. Er kann im Ruhestand auch wieder in einen Erstwohnsitz umgewandelt werden. Dank dieser Nutzung zahlreicher ländlicher Anwesen als ZweitWohnsitze hat sich die traditionelle Bausubstanz in vielen Dörfern Frankreichs bis heute erhalten (Pletsch 1997, S.170) (Abb. 7.3). Nichtsdestoweniger ist Frankreich das Musterland ländlicher Verfallserscheinungen in vielen Gebieten (Zentralplateau: Lichtenberger 1966; Languedoc, Pyrenäenvorland). Deutschland ist anders. Der Begriff des ländlichen Raums verbindet sich dort immer noch mit der Vorstellung der Einheit von Bauernhaus und Agrarwirtschaft, wenn auch in Westdeutschland beachtliche Unterschiede zwischen den Siedlungen mit Anerbenrecht und jenen mit Realteilung bestehen. Flurzusammenlegungen, die Aussiedlung von Einzelhöfen aus dem Dorf in die Flur sind im Wesentlichen erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erfolgt. "Dorferneuerung und "Dorferweiterung sind seit den 1970er Jahren zu Aufgaben der Regionalpolitik geworden. Anders als in Frankreich und in Österreich mit rund 3.000 Bauernmärkten sind in den kleinen Zentralen Orten im ländlichen Raum die Wochenmärkte längst "ausgestorben. Es fehlt femer die Aufspaltung der Wohnfunktion in Erst- und Zweitwohnungen und damit eine wichtige Gruppe städtischer Investoren in den Gebäudebestand. Die deutsche Freizeitgesellschaft schätzt den ländlichen Raum im eigenen Land nicht sehr, sondern fährt lieber ins Ausland. Nichtsdestoweniger hat der ländliche Raum am Um- und Neubau in beachtlichem Umfang teilgenommen. Aufgrund der hohen Bevölkerungsdichte konnte sich die "Zwischenstadt, ein amorphes Produkt aus städtischen Siedlungsbestandteilen, im ländlichen Raum von Westdeutschland "einen Namen machen.

Extensivierung und Zeichen des Verfalls ehemals ländlicher Strukturen kennzeichnen dagegen Ostdeutschland. Die Kollektivierung und Verstaatlichung der Agrarwirtschaft bei gleichzeitigem Neubau von Agrosiedlungen haben vorhandene Kleinsiedlungen systematisch beseitigt. Aufgrund deranhaltenden Bevölkerungsabnahme konnten nach der Wende selbst in Großstädten Verfallsgebiete nicht beseitigt werden; noch stärker lückenhaft ist daher inzwischen das ländliche Siedlungsnetz geworden. Die alten Zentralen Orte erhielten nach der Wende keine Chance, Marktfunktionen wieder zurückzuholen.

Zu blitzartig wurden in allen Mittel- und Großstädten von westdeutschen Kapitalgesellschaften am Rande Supermärkte gegründet. Die Verhältnisse in Ostdeutschland unterscheiden sich somit wesentlich von denen im ländlichen Raum der EU-Erweiterungsstaaten.
Die ländlichen Siedlungen sind auch hier weitgehend Dorfsiedlungen einer langen, durch Kriege und Neubesiedlung geprägten Territorialgeschichte, wobei die Auswechslung von ganzen Bevölkerungsgruppen bei gleichzeitigem Fortbestand der Siedlungen und Zentralen Orte (Abb.7.5) zu den bemerkenswerten Phänomenen gehört. Durch die Eingriffe der kommunistischen Regime und die Vorgänge nach der Wende sind keineswegs einheitliche, sondern von Staat zu Staat unterschiedliche ländliche Räume entstanden, so dass die Frage zu stellen ist: Gibt es überhaupt Gemeinsamkeiten?

Die Antwort führt zurück in die Vergangenheit europäischer Dorfstrukturen, als Dörfer religiöse Gemeinschaften waren, der Kirchhof der Versammlungsplatz, die Kirche der Mittelpunkt für die kirchlichen Feiern, Prozessionen, Erntedankfeste usw. und ebenso auch für die wichtigsten Stationen im Lebenslauf. Diese durch Liberalisierung und Individualisierung sehr stark reduzierten religiösen Funktionen haben nach dem Ende der kommunistischen Regime ein geradezu unglaubliches Comeback gefeiert. Der Kirchenneubau gehörte in Polen schon vor der Wende zu den antikommunistischen Demonstrationen, als man bei Wohnanlagen zuerst die Kirchen und dann erst Schulen und Kindergärten einrichtete. Viel zu wenig beachtet, ist eine ebenso eigenwillige wie interessante Architektur des Sakralbaus entstanden. Polen kennt keinen Priestermangel wie die meisten EU-15-Staaten, keinen Mangel an Nachwuchs für die zahlreichen Klöster, wobei gerade in Polen nach der Wende diese von der Papstkirche geförderte tiefe Gläubigkeit breiter Bevölkerungsschichten ihren Höhepunkt bereits überschritten haben dürfte. Der ländliche Raum ist von dieser neuen Individualisierung und Säkularisierung bisher jedoch noch kaum erreicht worden.
Nach der Wende erfolgte ein religiöser Aufbruch auch in den anderen Staaten, in denen die Kirchen unterdrückt worden waren und die griechisch-katholische Kirche sogar verboten war. Die orthodoxen Kirchen wurden als Landeskirchen zu einem Symbol nationaler Unabhängigkeit. Der westlichen Konsumgesellschaft kaum verständlich zu machen ist der Neubau von erstaunlich großen orthodoxen Kirchen an der Östlichen Grenze der Europäischen Union und in ihrem Vorfeld, in bescheidenen Dörfern weit jenseits der Wohlstandskante, vielfach in einem Niemandsland der modernen Infrastruktur (Abb.7.6). Beim Anblick dieser neuen Kirchenbauten sollte man sich daran erinnern, unter welchen Lebensbedingungen im Mittelalter die dörflichen Landmarken der Kirchen errichtet worden sind! Allein in Rumänien wurden von der rumänischen Orthodoxie seit der Wende über WO Kirchen, vor allem in ländlichen Siedlungen, neu erbaut. Aber auch andere Kirchen streiten um das wieder zu bestellende Feld des christlichen Glaubens, darunter besonders die so genannten Pfingstkirchen aus den USA, welche, mit Geld reichlich ausgestattet, Sozialhilfeprogramme bis in die Dörfer hineintragen.

Zu den Kirchen als alten und neuen Landmarken dörflicher Siedlungen kommt ein zweites wesentliches Element: die Wochenmärkte. Sie sind vor allem in denjenigen Staaten wichtig, in denen aufgrund der geringen Kaufkraft der Bevölkerung noch keine westlichen Einzelhandelsketten die Versorgung beherrschen, wie in großen Teilen Polens, Rumäniens, Bulgariens und Kroatiens. Die alten Marktorte haben durch die Privatisierung der Landwirtschaft vor allem in Rumänien einen erstaunlichen Aufschwung des lokalen Viehhandels erlebt, der nicht nur über jährliche Viehmärkte, sondern auch wöchentlich betrieben wird und bei dem - in säuberlicher Trennung - eine breite Palette von Waren angeboten wird, von Maschinen für die Landwirtschaft bis zu Gegenständen für den Haushalt.
Besteht somit gegenwärtig unter dem Dachbegriff des ländlichen Raumes eine außerordentliche und gleichzeitig erst wenig bekannte Spannweite in der sozialen Wirklichkeit im mittleren Streifen Europas von Großbritannien bis an die neue Außenfront der Europäischen Union, so ist für die Beschreibung der Nord-Süd-Unterschiede ein anderer Zugang erforderlich.
Der Begriff ländlicher Raum, der in Nordeuropa und im mittleren Streifen des Kontinents passend erscheint - dort wo die Landnutzung zwischen Wald, Ackerland und Grünland wählen kann, wo die heutigen ländlichen Siedlungen auf den mittelalterlichen Territorialstaat zurückgehen und die Gesellschaft aus dem ständischen Dreieck von Adel, Bürgern und Bauern siedlungsmäßig nicht wirklich zur Gänze ausgebrochen ist -, dieser Begriff des ländlichen Raumes ist für das mediterrane Europa nicht zutreffend.
Hier geht es um die mediterrane Kulturlandschaft, die zwei entscheidende Gemeinsamkeiten aufweist: die ökologische Abhängigkeit von der Ressource Wasser, die im Jahreslauf nicht ubiqui-tär vorhanden ist, und die frühe Form der "Urbanisierung über die besitzmäßige Abhängigkeit des "Landes von der Stadt und die entsprechenden Bauformen.

Im Verhältnis von Tradition und Moderne in Siedlung und Agrarwirtschaft kommt ein weiterer entscheidender Unterschied gegenüber den nördlich der alpinen Gebirge gelegenen Räumen der mittleren Breite hinzu. Während in diesen zwar auch in West und Ost Veränderungen von Flur und Siedlung eingetreten sind, Raine, Hecken und Terrassenstufen beseitigt, fragmentierte Fluren zusammengelegt, Höfe aus dem Dorfverband ausgesiedelt, die Dörfer umgebaut und mit neuen Funktionen angereichert wurden, hat die Moderne doch stets obsiegt. Die historisch-traditionellen Formen sind bestenfalls als bauliches Gehäuse museal adaptiert bzw. in teilweise veränderter Struktur als regional über Bauordnungen empfohlene Modelle erneuert worden. Die Entwicklung der Flur zielte durchgehend auf Vergrößerung ab, auf die Arrondierung der Parzellen. Die Entwicklung der Siedlung brachte die Aufstockung der ebenerdigen Wohntrakte, den Neubau der Wirtschaftsbauten, ohne einen wesentlichen Standortwechsel. Die Tradition ist nur mehr in den Archiven zu finden und erhält noch einen Schatten von Lebendigkeit durch die Erzählungen alter Leute. Der ländliche Raum gehört der Moderne.
Im Mediterranraum hingegen finden sich Tradition und Moderne nebeneinander, zum Teil verzahnt. Der Verfall der Tradition ist sichtbar, in manchen Räumen landschaftsbeherrschend, mit den aufgegebenen Terrassenkulturen, den verwilderten Olivenhainen, den leer stehenden Steinbauten. Es gibt keinen Wald, der wie in den wald-wüchsigen Breiten das aufgegebene Agrarland okkupiert und schließlich zudeckt, es gibt nur die Macchie als Sekundärformation, die Zeit benötigt, um dann undurchdringlich zu werden.

Das zentrale Element von traditioneller Siedlung und Landnutzung bilden die auf Randhöhen des Gebirges gelegenen befestigten und ummauerten Akropolissiedlungen, welche durch ihre Bausubstanz mit den die zentrale Piazza umgebenden Palazzi der Großgrundbesitzer stadtartigen Charakter aufweisen, auch dann, wenn sie, wie in Süditalien, von kleinen Pächtern und Landarbeitern bewohnt werden.
Ein Kulturprofil durch den mittleren Apennin (Abb. 7.8) demonstriert, dass dem Verfall von Hangkulturen und Akropolissiedlungen (Abb.7.7) die Inwertsetzung der Ebene gegenübersteht. Die Gegenwart hat eine Umbewertung der einzelnen Teilräume gebracht. Mit der Anlage der neuen Verkehrswege in der Ebene sind die alten Akropolis-siedlungen an den Rand geraten, neue Siedlungen entstanden in den Niederungen unmittelbar am Gebirgsrand. Die extensiv genutzten Getreideflächen werden in intensiv bewässerte Kulturen umgewandelt. Das noch ungenutzte Weideland wird vom Staat melioriert und im Zuge der Bonifikation neu besiedelt. Im Gebirge selbst verfallen die Höhenorte, ebenso aber auch die alten Akropolis-siedlungen, soweit sie nicht eine Zweitwohnbevölkerung finden. Auch die Olivenkulturen werden Z.T. in diesen Verfallsprozess miteinbezogen. Der Intensivierungsprozess in der Niederung schränkt das Weideland für die "Transhumanz ein und bringt diese saisonale Wanderung schließlich ganz zum Verschwinden. Dementsprechend werden die Sommerweiden in der Höhe nicht mehr mit Schafen beschickt, selten genug kommt es zur Entwicklung einer Almwirtschaft bzw., gleichfalls in unterschiedlichem Ausmaß, zur staatlichen Aufforstung.
In den Niederungen wird die Inkultumahme wiederholt, wie sie sich im Römischen Reich unter der Pax Romana vollzog, als die Höhensiedlungen - ob freiwillig oder nicht, sei dahingestellt - aufgegeben und durch neue Städte längs der Fernstraßen in den Ebenen ersetzt wurden. Es kann hier nicht auf die Teilschritte der Intensivierung;, die im 19. Jahrhundert begann, eingegangen werden. Staatliche Agrarkolonisation und städtische Kapitalgeber verfolgten unterschiedliche Ziele und hatten überdies in den einzelnen Staaten unterschiedliche Bedeutung.

Erstere fehlte in Frankreich nahezu völlig, die Letzteren in Griechenland. Konzentrierten sich die Staaten auf das kombinierte Ziel der Enteignung des Großgrundbesitzes und der Aufschließung der Winterweiden durch Kleinbauernstellen, um landlose Tagelöhner und Kleinpächter (Italien, Spanien) bzw. Flüchtlinge (Griechenland, Thrakien, Mazedonien) unterzubringen, so investierten städtische Konsortien in die Anlage neuer Großterrassen und Bewässerungssysteme am Hangfuß und in den Seitenbuchten von Tälern. Ausgedehnte Monokulturen von Obst, Wein, Zitrusfrüchten und Oliven entstanden. In Thessalien verdient der Baumwollanbau Erwähnung. Gebietsweise bildeten sich auch kleine Spezialbetriebe mit Eigenbewirtschaftung aus (Abb. 7.10, 7.12).
Die Entwicklung von Siedlung und Flur erfolgt keineswegs synchron. Hierzu zwei Beispiele: Aufgrund der Industrialisierung des Reisbaus durch kapitalstarke Großunternehmen sind in jüngster Zeit die großen Pachthöfe, die "Corti der Poebe-ne, welche zu den auffälligsten Erscheinungen des ländlichen Raumes gehören, reihenweise verfallen und stehen als Ruinen in der voll mechanisierten Reisbaulandschaft im Umland von Mailand. Andererseits werden in den Höhensiedlungen, welche inmitten verfallener Terrassenkulturen liegen, die Häuser durch städtische Interessenten wieder renoviert. Auf breiter Front werden dort die Lagequalitäten der traditionellen mediterranen Kulturlandschaft von einer modernen Freizeitgesellschaft wieder entdeckt.













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