REFERAT-MenüDeutschGeographieGeschichteChemieBiographienElektronik
 EnglischEpochenFranzösischBiologieInformatikItalienisch
 KunstLateinLiteraturMathematikMusikPhilosophie
 PhysikPolitikPsychologieRechtSonstigeSpanisch
 SportTechnikWirtschaftWirtschaftskunde  



3. Schulaufgabe aus dem Deutschen

Hausaufsatz

Themenvergabe: 24.04.98

Abgabetermin: 07.05.98


Literarische Erörterung


"In jedem Täter steckt ein Opfer" Trifft diese Aussage auch auf Jean-Baptiste Grenouille zu? Begründen Sie Ihre Antwort.



Ausführung                            Seite 2

Bibliographie                         Seite 9

Gliederung                             Seite 10


In jüngster Zeit machen häufiger denn je Gewaltverbrechen im Fernsehen und in den Printmedien von sich reden. Angesichts immer grausamerer Taten fragt man sich, was einen Menschen wohl zu solchen Greueln antreiben mag. Erst ein Blick auf die Ver­gangenheit der Gewalttäter lässt zumindest vermuten, worin die Gründe für eine derartige Gewaltbereitschaft und Gewissenlosigkeit liegen könnten: Oftmals haben die Täter eine äußerst schlechte Jugend hinter sich. Ohne damit deren Verbrechen ent­schuldigen zu wollen, behaupte ich, dass nicht selten schlechte Erfahrungen einen Menschen zum Täter machen und schließe mich somit der heute sehr populären These "In jedem Täter steckt ein Opfer" an. Besonders gut lässt sich diese an Jean-Baptiste Grenouille, dem Helden aus Patrick Süskinds Bestseller "Das Parfum", untersuchen, was ich im Folgenden tun werde.

Jean-Baptiste Grenouille wird am 17.Juli 1738 in einer Pariser Fischbude in der Rue aux Fers, "am allerstinkendsten Ort des gesamten Königreichs" (S.7) geboren. Nachdem er dank der Ohnmacht seiner Mutter, die ihn eigentlich "verrecken lassen" (S.9) will, knapp dem Tod entgeht, beginnt für ihn eine schwere Kindheit. Grenouille, der bis zu seinem achten Lebensjahr bei der emotionslosen Madame Gaillard lebt, hat während dieser Zeit nicht nur mit einer Reihe schwerer Krankheiten zu kämpfen, wie beispielsweise der Ruhr und der Cholera, sondern er hat auch gefährliche Unfälle. Er  überlebt zwar, trägt allerdings Narben sowie einen "verkrüppelten Fuß" (S.27) davon. Die oft magere Versorgung stellt für das genügsame Kind kein Problem dar, was folgende Textstelle auf Seite 27 belegt: "er kam mit der dünnsten Milch aus, vertrug das faulste Gemüse und verdorbenes Fleisch." Allerdings kann man annehmen, dass diese Unterversorgung seiner physischen und psychischen Entwicklung kaum zuträglich ist.

Die anderen bei Madame Gaillard lebenden Kinder machen Grenouille das Leben schwer, indem sie mehrmals versuchen, "ihn zu ersticken" (S.30). Sie wollen den seltsamen Jungen loswerden, denn es "stört[] sie ganz einfach, dass er da [ist]." (S.30). Zwar geben sie ihr Vorhaben nach mehreren erfolglosen Versuchen auf, aber sie gehen "ihm aus dem Weg" (S.30) und schließen ihn aus, machen ihn zum Außen­seiter.

Als Grenouille im Alter von acht Jahren beim Gerber Grimal zu arbeiten beginnt, soll sich seine Situation noch verschlechtern. Wie das folgende Zitat verdeutlicht, hat er eine schwere Zeit zu durchleben:  "Natürlich wußte Madame Gaillard, dass Grenouille in Grimals Gerberwerkstatt () keine Überlebenschance besaß." (S.38). Er hat schwerste Arbeit zu verrichten - Süskind spricht von einer "mehr tierischen als menschlichen Existenz" (S.42) - und erliegt außerdem beinahe dem Milzbrand.

Es steht völlig außer Zweifel, dass diese schwere Kindheit nicht ohne Auswirkungen auf Jean-Baptiste Grenouilles Psyche ist. In seinem ständigen Überlebenskampf kapselt er sich von seiner Umwelt ab - der Autor vergleicht ihn gar mit einem "Zeck" (S.29), der geduldig "auf bessere Zeiten" (S.29) wartet - und wird noch mehr zum Außenseiter.

Doch nicht nur durch seine kaum beneidenswerte Jugend wird Grenouilles Charakter nachhaltig geprägt, sondern die Tatsache, dass er von Geburt an niemals Zuneigung oder gar Liebe erfährt, ist in diesem Zusammenhang ebenfalls von großer Bedeutung. Dies lässt sich bereits während Grenouilles früher Kindheit beobachten, als sich mehrere Ammen weigern, das Kleinkind zu stillen: "Keine wollte es länger als ein paar Tage behalten." (S.9). Sie halten den Jungen für zu gierig und daher für eine Gefährdung ihres Lebensunterhalts, "da rentables Stillen () unmöglich sei" (S.9).

Beziehungen zu Grenouille basieren niemals auf irgendeiner Art von Sympathie oder Attachement, sondern stets einzig und allein auf der Absicht, ihn auszunutzen. In seinem ganzen Leben hat er niemals einen Freund, denn die Menschen geben sich nur mit ihm ab, um durch ihn Profit zu machen. So verpflegt Madame Gaillard das Kind ausschließlich gegen Bezahlung, nach deren Einstellung sie Grenouille auch prompt abgibt. Während er bei Grimal und später beim Parfümeur Baldini arbeitet, wird er von beiden gnadenlos ausgebeutet, was sich an folgendem Zitat manifestiert: "Er hatte den Kerl nie gemocht, () die ganze Zeit, die er ihn unter seinem Dach beherbergt und ausgeplündert hatte, war ihm nicht wohl gewesen." (S.141). Ahnlich verhält es sich mit Grenouilles späteren Bekanntschaften: Der Marquis de la Taillade-Espinasse, der den verwahrlosten jungen Mann als den "lebenden Beweis für die Richtigkeit der letalen Erdfluidumtheorie" (S.181) bezeichnet, missbraucht Grenouille, um seiner zweifelhaften Lehre zu Anerkennung verhelfen. Er verwendet ihn als "wissenschaftliches Demonstrationsobjekt" (S.180), und die Resonanz der Öffentlich­keit ist enorm. Auch der Marquis ist also nicht an Grenouilles Person, sondern nur an dessen Funktion als "Demonstrant" (S.181) für Vorträge interessiert.

Ahnliches gilt auch für Grenouilles spätere Arbeitgeberin Madame Arnulfi, die den scheinbar naiven jungen Mann für einen Hungerlohn beschäftigt und in einem "fensterlosen Verschlag" (S.220) unterbringt.

Offensichtlich sieht keine dieser Personen einen gleichwertigen Mitmenschen in Grenouille, er stellt für sie nur eine Einnahmequelle dar und wird auch entsprechend behandelt. Das Zitat "Grimal hielt ihn nicht mehr wie irgendein Tier, sondern wie ein nützliches Haustier."(S.43) ist in dieser Hinsicht mehr als aufschlussreich, da es deutlich macht, wie sehr für Grenouilles Bekanntschaften dessen "Nützlichkeit" (S.41) im Vordergrund steht.

Während jedoch die genannten Leute Grenouille zwar ausbeuten, ihm aber mit nur leichter Abneigung begegnen, stößt dieser in seiner Kindheit auf deutliche Ablehnung bei seinen Altersgenossen. "Vom ersten Tag an war ihnen der Neue unheimlich.", schreibt Süskind auf Seite 30, doch dabei soll es nicht bleiben. Wie oben erwähnt, ver­suchen die Kinder schließlich sogar, den unbeliebten Jungen zu töten.

Allerdings stößt er nicht nur bei fremden Menschen auf Mißgunst, selbst Jean-Baptiste Grenouilles eigene Mutter empfindet keinerlei Liebe für ihr Kind. Nach der Geburt lässt sie das "neugeborene Ding" (S.8) zwischen den Fischabfällen liegen, um es "verrecken [zu] lassen" (S.9): Das Kleinkind soll "der abendlichen Müllabfuhr überantwortet () werden"[1]. Sie betrachtet Jean-Baptiste nicht als ihren Sohn, nicht einmal als Mensch, sondern nur als Abfallprodukt, das es zu beseitigen gilt. Folgende Textstelle auf Seite 8 verdeutlicht, welche Meinung Grenouilles Mutter von ihrem Sohn hat: "das blutige Fleisch, das da herauskam, unterschied sich nicht viel von dem Fischgekröse () und lebte auch nicht viel mehr".

Da Jean-Baptiste Grenouille niemals Liebe oder Zuneigung erfährt, ist es durchaus verständlich, dass es ihm unmöglich ist, derartige Gefühle zu verstehen oder gar selbst zu verspüren. Folgendes Zitat beschreibt diese Situation sehr gut: "der Unmensch Grenouille, der nie Liebe empfunden hatte und Liebe niemals inspirieren konnte" (S.242). Somit begründet sich seine Ablehnung anderen Menschen gegenüber zu einem großen Teil in seinen schlechten Erfahrungen und der Gefühlskälte, mit der ihm zeitlebens und von jedermann begegnet wird.

"Er riecht überhaupt nicht" (S.14) - hier zeigt sich eine Eigenschaft Grenouilles, die für sein Leben von elementarer Bedeutung ist: Er verströmt keinen Körpergeruch, er wird bereits "geboren ohne Geruch" (S.304). Das Fehlen dieses oft fälschlicherweise für unbedeutend gehaltenen Attributs hat für Grenouille schwerwiegende Folgen:

Da der Eigengeruch eines jeden Menschen offenbar ein wichtiges Merkmal darstellt, an dem andere ihn - unbewusst - identifizieren und klassifizieren können, stellt Grenouilles Mangel ein großes Problem für ihn dar. Die Leute können ihn geruchlich nicht wahrnehmen, weshalb sie ihn meist kaum beachten, sondern einfach ignorieren, "weil sie nichts von seiner Existenz bemerk[]en" (S.194). Grenouille, der ohnehin ein Außenseiter ist, wird auf diese Weise weiter an den Rand der Gesellschaft ge­drängt, seine Umwelt nimmt oft nicht einmal "Notiz von ihm" (S.194).

Während aber die Mehrheit der Menschen Grenouilles Geruchlosigkeit zwar unterbewusst wahrnimmt, aber sie nicht als solche erkennt, weiß die Amme Jeanne Bussie über diese Besonderheit durchaus Bescheid. Angewidert von dem Kind, das nicht riecht, "wie Menschenkinder riechen sollen" (S.15), händigt sie es dem Mönch Pater Terrier aus und lehnt es ab, das Kind weiterhin zu pflegen, für welche Bezahlung auch immer. Ihrer Meinung nach ist der Knabe "vom Teufel besessen" (S.14).

Doch die Tatsache, dass Grenouille keinen "eigenen Geruch" (S.174) hat, stellt nicht nur ein Problem für sein gesellschaftliches Leben dar. Grenouille, der, wie ich es später eingehend erläutern werde, seine Umwelt mit Hilfe seines hochentwickelten Geruchssinns wahrnimmt, wird in seiner gesamten Weltanschauung erschüttert, als er sein Manko erkennt. "Er konnte sich () um alles in der Welt nicht riechen!" (S.171) - durch einen Alptraum, der ihm dies offenbart, "zu Tode geängstigt" (S.171), beschließt Grenouille, sein Refugium auf dem Gipfel des Plomb du Cantal zu verlassen, weil er "das zweite Mal" (S.171) - also einen weiteren Alptraum - nicht aushalten könnte. In Montpellier, wo er dem Marquis de la Taillade-Espinasse als Forschungsobjekt dient, gelingt es Grenouille, einen "Menschenduft" (S.191) zu kreieren. Sein hektisch gemischtes, "schlechtes Surrogat" (S.190) vermag tatsächlich die Menschen zu täuschen, denn Grenouille wird dank des Parfums nicht mehr ignoriert und übersehen, sondern wahrgenommen wie jeder andere Mensch. Als er erkennt, dass er in der Lage ist, anderen Leuten einen eigenen Körpergeruch derart geschickt vorzugaukeln, "dass selbst ein Kind sich von ihm [] täuschen [lässt]" (S.198), beschließt er, einen perfekten Menschengeruch zu schaffen, einen "Engelsduft" (S.198). Mit dessen Hilfe möchte Grenouille Macht über andere Menschen gewinnen, er will sich als "Gott des Duftes" (S.198) über alle anderen Menschen erheben. Somit führt Grenouilles fehlender Körpergeruch unter anderem auch zu einem zwanghaften Bestreben, einen Ersatz für selbigen zu finden.

Während zwar all das Genannte zweifellos sein Zutun zu Grenouilles Entwicklung zum Mörder hat, so wird Grenouille letztendlich in erster Linie Opfer seiner außer-gewöhnlichen Begabung: seinem Geruchssinn. Bereits als Kind fällt er durch seine äußerst feine Nase auf. So hat der Mönch Terrier den Eindruck, "als sehe ihn das Kind mit seinen Nüstern" (S.23), und auch der Parfümeur Baldini erkennt nach anfänglichen Zweifeln Grenouilles besonderes Ingenium. Doch niemand ahnt, wie ausgeprägt dessen Anlage wirklich ist: Jean-Baptiste Grenouille ist imstande, verschiedenste Holzsorten am Geruch zu erkennen, dem Duft der Milch kann er entnehmen, "von welcher Kuh [sie] stammt[]" (S.33), im Dunkeln findet er sich allein mit Hilfe seiner feinen Nase zurecht, er kann problemlos alle Ingredienzen eines Parfums am Geruch erkennen, Grenouille ist sogar in der Lage, "eine noch Stunden entfernte Schwadron Reiter" (S.149) zu riechen.

Leider stößt Grenouilles Begabung bei seinen Mitmenschen nicht selten auf Ablehnung, insbesondere weil sein hervorragender Geruchssinn oft nicht als solcher erkannt wird, sondern Grenouille unheimliche, sogar satanische Fähigkeiten zugeschrieben werden. Pater Terrier kommt sich "nackt und häßlich" (S.23) und von dem Kind "begafft" (S.23) vor, als er feststellt, dass Grenouille sich seiner Nase zur Wahrnehmung seiner Umwelt bedient. Voller Ekel will er das "feindselige Animal" so schnell wie möglich loswerden und liefert Grenouille bei Madame Gaillard ab.

Auch diese, der eine Verletzung den Geruchssinn geraubt hat, erkennt ungewöhnliche Fähigkeiten an Grenouille, sie meint der Junge könne durch Wände und sogar in die Zukunft sehen. Dass Jean-Baptiste nicht "das zweite Gesicht" (S.37) besitzt, also vom Teufel besessen ist, sondern ein olfaktorisches Genie ist, kommt ihr nicht in den Sinn. Erschreckt durch Grenouilles "entsetzliche Fähigkeit" (S.37), versucht schließlich auch Madame Gaillard, sich des Jungen zu entledigen.

Es besteht kein Zweifel, dass dieses Mißverstehen von Grenouilles Begabung die Außenseiterrolle des ohnehin unbeliebten Jungen weiter verstärkt. Da man Grenouille häufig mit Ablehnung, Haß und Ekel begegnet, kann dieser kein normales Leben führen und kann sich nicht in die Gesellschaft einordnen. Die abweisende Haltung, mit der man Grenouille begegnet,  ist sicherlich auch ein Grund für seine spätere Ab-neigung anderen Menschen gegenüber.

Jean-Baptiste Grenouille nutzt seine feine Nase allerdings nicht nur, um etwa Parfums zu analysieren, seine gesamte Weltanschauung beruht auf seinem Geruchssinn. Seine Umwelt besteht für ihn nicht aus Gegenständen verschiedenen Aussehens, vielmehr identifiziert er jede Erscheinung an ihrem spezifischen Geruch. Sprechen lernt er, indem er Dingen, die ihn "unversehens geruchlich überwältig[]en" (S.31) Namen zuordnet, obwohl Grenouille "am Sinn der Sprache überhaupt zweifel[t]" (S.34). Schließlich ist sie seiner Ansicht nach nur begrenzt dazu geeignet, die Welt zu be­schreiben, die Grenouille mit seiner Nase wesentlich differenzierter wahrnimmt. So unterscheidet Grenouille beispielsweise zwischen verschiedensten Holzsorten, Holz verschiedenen Alters und verschiedener Größe derart präzis, "wie andere Leute sie nicht mit Augen [.] unterscheiden können" (S.33).

Aufgrund dieser ungewöhnlichen Denkweise wird Jean-Baptiste zum Außenseiter, da es ihm schwerfällt, die Gedanken seiner Mitmenschen nachzuvollziehen. Zwar entwickelt er mit der Zeit ein gewisses Gespür, doch die Freuden und Genüsse, denen sich andere hingeben, bleiben ihm fremd und unverständlich. Zudem wendet er sich mehr und mehr von seiner Umwelt ab, um sich seiner Welt der Gerüche zu widmen. Während er sich in Paris noch mit Ausflügen begnügt, um "alles (), was die Welt an Gerüchen zu bieten hat" (S.48) kennenzulernen, geht Grenouille später sogar so weit, sich auf einem einsamen Berggipfel einzig und allein seinen Phantasien, dem "grenouillschen Seelentheater" (S.168), hinzugeben. Da Jean-Baptiste sich auf diese Weise mehr und mehr von seiner Umwelt abwendet, führt seine Denkweise zur einem Dasein als Marginalexistenz und schließlich sogar zur Isolation.

Aufgrund seiner geruchsorientierten Welterfassung stellen all jene Begriffe, die keinen eigenen Geruch verströmen, ein Problem für Grenouille dar. Da er abstrakten Begriffen keine Düfte zuordnen kann, fällt es ihm schwer, diese Begriffe zu behalten und richtig zu verwenden. Die Bedeutung dieser Ausdrücke, die "vor allem ethischer und moralischer Natur" (S.33) sind, ist Grenouille nicht verständlich, es bleibt ihm "schleierhaft" (S.33), was es damit auf sich hat.

Wegen seiner Unfähigkeit, Moral und Ethik zu verstehen, kann Grenouille auch nicht deren Grundsätzen folgend handeln. Seine zahlreichen Morde stellen für ihn also nichts Böses dar, er sieht sie nicht als ungewöhnlich an.

Im Gegenteil stellt es für Grenouille sogar eine Art Pflicht dar, den Menschen ihr kostbarstes Gut zu entreißen: ihren Duft. Wie er in allen Dingen nur ihren Geruch sieht und den Wert an der Güte ihres Odeurs mißt, stellen auch andere Leute in Grenouilles Augen nichts weiter dar als Träger von Gerüchen. In seiner Bemühung, sich einen Ersatz für seinen fehlenden Körpergeruch zu schaffen, wählt er sich seine Opfer sorgsam aus und beraubt sie ihres Geruchs. Ohne ihre duftende Aura sind seine Opfer für Grenouille nur noch wertlos und "schlaff wie Blütenabfall" (S.280), er ist nur am "körperlosen Duft" (S.280) interessiert. Folglich kann man die zahlreichen Morde Grenouilles, obwohl sie sorgfältig und sehr kaltblütig geplant werden, nicht nur als Folge seines krankhaften Bestrebens, ein Surrogat zu schaffen, sehen, sondern muß auch beachten, dass sie für Grenouille nichts Verwerfliches darstellen.

Zwar legen all die obigen  Aspekte für sich allein noch keine Entwicklung zum Massenmörder nahe, aber in ihrer Gesamtheit prägen die zahlreichen widrigen Umstände und gesellschaftlichen Probleme, denen Grenouille zum Opfer fällt, dessen Charakter sehr stark, daran besteht kein Zweifel. Natürlich ist es richtig, dass Jean-Baptiste Grenouille bereits als Kleinkind eine große Bösartigkeit an den Tag legt - "Er war von Beginn an ein Scheusal.", schreibt Süskind auf Seite 28. Doch erst durch seine kaum beneidenswerten Erfahrungen, sein Außenseitertum, sein Unvermögen, Gefühle zu empfinden und das Fehlen jeglicher moralischer Orientierungsmöglichkeiten wird dieses Potential geweckt und sogar ausgebaut. Wegen seines krankhaften Drangs nach dem perfekten Parfum geht Grenouille hemmungslos über Leichen. Da seine Morde allerdings zweifellos auf seinen kranken Geist zurückzuführen sind, muß man Grenouille als Opfer äußerst widriger Lebensumstände sehen, die ihn in seine Rolle als Mörder drängen. Unter anderen Umständen wäre aus dem "Scheusal" (S.28) vielleicht ein völlig anderer Mensch geworden. Doch Grenouille wird stattdessen leider zum Opfer - Opfer seines eigenen Lebens.

Angesichts der Tatsache, dass sogar Jean-Baptiste Grenouille, der auf den ersten Blick ein grausamer Gewalttäter zu sein scheint, nur durch schlechte Erfahrungen und eine furchtbare Kindheit zu einem Mörder geworden ist, liegt der Gedanke auf, dies sei auf andere Fälle übertragbar, natürlich nahe. Wenngleich es in der Realität wohl kaum auf derart extreme Weise auftreten wird, so hat sich das Schema anhand dieses speziellen Beispiels doch recht gut erkennen lassen. Als Konsequenz aus dem Wissen um diese Zusammenhänge sollte man in der Strafverfolgung eventuell mehr auf den sozialen Hintergrund der Täter achten. Auf diese Weise könnte man endlich deren Antrieb zu ihren Delikten verstehen lernen, um diesem schlechten Einfluss entgegenwirken zu können. Natürlich soll nicht ein Freibrief für Gewaltverbrecher angestrebt werden, sondern der Versuch gemacht werden, das Problem an der  Wurzel zu packen und weiteren Verbrechen vorzubeugen. Inwiefern die Erkenntnis über das "Opfer im Täter" dessen Schuldfähigkeit betrifft, ist ein anderes, zweifellos interessantes Thema.

Bibliographie


Primärliteratur


Süskind, Patrick: Das Parfum. Zürich, 1994.


Sekundärliteratur


Jens, Walter (Hrsg.): Kindlers Neues Literatur - Lexikon. München, 1996.


Gliederung


I.         Bekannt aus Medien: Steckt in jedem Täter auch ein Opfer? Erörterung dieser Frage anhand Süskinds "Das Parfum";


II.       Grenouille ist das Opfer widriger Umstände, die sein Leben in falsche Bahnen lenken.

Grenouille muß eine harte Kindheit durchleben.

Krankheiten und Unfälle

Mordanschläge anderer Kinder

Körperliche Anstrengungen

Er erfährt nie Zuwendung oder Liebe.

Ammen lehnen es ab, das Kleinkind zu stillen.

Beziehungen mit Grenouille basieren nur auf der Absicht, ihn auszunutzen.

Andere Kinder fühlen sich unwohl in seiner Gegenwart.

Selbst die eigene Mutter will das Neugeborene töten.

Grenouille verströmt keinen Körpergeruch.

Er wird oft einfach nicht wahrgenommen.

Die Amme Bussie fühlt sich daher gar von Grenouille abgestoßen.

Es entwickelt sich ein zwanghaftes Bestreben in ihm, ein Surrogat zu entwickeln.

Jean-Baptiste Grenouille wird Opfer seiner außerordentlichen olfaktorischen Begabung.

Seine Fähigkeit wird als unheimlich empfunden und er stößt auf Ablehnung.

Er erfaßt die Welt anhand ihrer Gerüche.

Seine Denkweise macht ihn zum Außenseiter.

Abstrakte Begriffe, denen er keine Gerüche zuordnen kann, sind ihm unverständlich, er kennt weder Moral noch Ethik.

Grenouille sieht in Menschen nur Träger von Duftstoffen, ohne Geruch wären sie wertlos.

Folgerung: Grenouille wird nicht als Mörder geboren, sondern fällt widrigen Umständen zum Opfer, die ihn in diese Rolle drängen.


III.     Das Wissen um den Zusammenhang Opfer - Täter sollte in der Praxis umgesetzt werden, um dem Entstehen weiterer Gewalttäter vorzubeugen.



Jens, Walter (Hrsg.): Kindlers Neues Literatur - Lexikon, Band 16. München, 1996. Seite 174.